„So schlimm war es noch nie!“ Wie Ladendiebstähle zum Problem werden - und was eine Lösung schwierig macht

Immer mehr Ladendiebstähle ärgern Händler: „Jedes Teil tut uns weh“
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Die Inventur bringt es an den Tag: viele Waren sind weg, wurden aber nicht verkauft. „Es wird viel geklaut, das ist schlimm geworden“, sagt Irmgard Untiedt-Sawall vom Damenmodegeschäft Sawall an der Wißstraße am Hansaplatz. „Draußen“, erzählt sie, „stellen wir schon gar keine Ständer mit Ware mehr hin. Da fehlen mittags dann schon zig Teile. Aber auch aus dem Geschäft wird so viel gestohlen wie nie. Die kommen rein, reißen eine Jacke vom Ständer und rennen weg. Es wird immer dreister.“

Gerade hat Irmgard Untiedt-Sawall mit ihrem Team den Kassensturz für das erste Halbjahr gemacht. „Wir haben eine Bestandslücke von 4,7 Prozent. Das ist viel. Im stationären Einzelhandel freut man sich ja über jedes bisschen Umsatz - und dann fehlt für fast fünf Prozent der eingekauften Ware der Umsatz in der Kasse, weil sie gestohlen wurde“, so die Geschäftsfrau, die seit fast 55 Jahren ihr Fachgeschäft in Dortmund betreibt.

Ärgerlich waren Ladendiebstähle für sie schon immer. Früher lag die bei der Inventur festgestellte Quote aber bei 2,8 bis 3,2 Prozent - und die Zeiten waren besser. „Es handelt sich heute vor allem um die Beschaffungskriminalität von Drogenabhängigen. Das ist hier an der Wißstraße ganz schrecklich. Da müsste die Polizei präsenter sein“, sagt Irmgard Untiedt-Sawall.

„Kein Kavaliersdelikt“

Was sie beklagt, macht allen Händlern in der City und auch dem Handel in ganz Deutschland zu schaffen. Nicht immer handelt es sich allerdings um Beschaffungskriminalität. Für die Thier-Galerie stellt Center-Manager Torben Seifert fest, dass es meist Jugendliche sind, die mal einen BH, ein T-Shirt oder Kosmetikartikel mitgehen lassen. „Zwei- bis dreimal pro Woche ist die Polizei da“, sagt er. Diebstähle durch Drogenabhängige gebe es deshalb nicht, weil diese dem Sicherheitsdienst vor und in dem Einkaufszentrum sofort auffallen.

„Aktuelle Zahlen des EHI Retail Institutes und Daten der polizeilichen Kriminalstatistik belegen, dass Ladendiebstahl zu einem wachsenden Problem wird“, stellt der Handelsverband in einer Pressemitteilung fest und fordert „spürbare Konsequenzen für Ladendiebe“. Bundesweit seien die angezeigten Ladendiebstähle 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 34,3 Prozent gestiegen. Selbst im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 sei ein Anstieg um 5,8 Prozent zu verzeichnen.

Ladendiebstähle haben in Dortmund deutlich zugenommen.
Ladendiebstähle haben in Dortmund deutlich zugenommen. © dpa

„Ladendiebstahl ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein Vermögensdelikt, das deutschlandweit Jahr für Jahr Schäden in Milliardenhöhe verursacht,“ sagt Thomas Schäfer, Geschäftsführer des in Dortmund ansässigen Handelsverbandes Westfalen-Münsterland „Im Jahr 2022“, führt er aus, „sind bundesweit Waren im Wert von rund 2,44 Milliarden Euro gestohlen worden. Auf Dortmund heruntergebrochen bedeutet dies einen Schaden in Höhe von rund 18 Millionen Euro. Rechnet man die Investitionen für Prävention und Sicherheit hinzu - bundesweit waren das im vorigen Jahr 1,45 Milliarden Euro – dann wird deutlich, dass Ladendiebstahl keineswegs aus falsch verstandener Toleranz bagatellisiert werden darf, sondern entschieden sanktioniert werden muss.“

 „Ladendiebstahl ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein Vermögensdelikt, das deutschlandweit Jahr für Jahr Schäden in Milliarden-höhe verursacht,“ sagt Thomas Schäfer, Geschäftsführer des Handelsverbandes Westfalen-Münsterland in Dortmund.
„Ladendiebstahl ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein Vermögensdelikt, das deutschlandweit Jahr für Jahr Schäden in Milliarden-höhe verursacht,“ sagt Thomas Schäfer, Geschäftsführer des Handelsverbandes Westfalen-Münsterland in Dortmund. © Handelsverband NRW

Die Kriminalstatistik der Polizei weist aus, dass die Fälle von gemeldeten Ladendiebstählen im Jahr 2022 bundesweit gegenüber 2021 um 34,5 Prozent gestiegen sind; in Dortmund gibt es sogar ein Plus von 36,38 Prozent. Das liegt zwar auch daran, dass in den Corona-Jahren die Zahlen deutlich rückläufig waren, allerdings sind mittlerweile die Vor-Corona-Zahlen schon wieder erreicht worden (bundesweit plus 5,8 gegenüber 2019, in Dortmund minus allerdings 2,42 Prozent gegenüber 2019).

„Werden technisch nachrüsten“

„Positiv formuliert handelt es sich also um so etwas wie eine vermeintliche Rückkehr zur Normalität,“ bemerkt Thomas Schäfer vom Handelsverband, „realistisch gesehen, ist es ein dramatischer Rückfall in überwunden gehoffte Zeiten, der eine große Gefahr für den stationären Einzelhandel darstellt.“

Erst letzte Woche hatte die Polizei Dortmund mit Fotos nach einer mutmaßlichen Diebin gesucht. Die Frau stand im Verdacht, in einem Kiosk im Stadtteil Huckarde ein Mobiltelefon unterschlagen zu haben. Die Frau stellte sich dann schließlich auf einer Polizeiwache.

In diesem Fall hatte der Besitzer des Handyladens den Diebstahl angezeigt. Der Handelsverband geht aber davon aus, dass die allermeisten Diebstahlsdelikte gar nicht erst bei der Polizei gemeldet werden, weil gefasste Ladendiebe häufig ohne größere Konsequenzen davonkommen.

Lena Dümer, Geschäftsführerin von Hofius Mode und Accessoires, kommt schon lange ohne eine Warensicherung im Ladenlokal an der Olpe in Dortmund nicht mehr aus.
Lena Dümer, Geschäftsführerin von Hofius Mode und Accessoires, kommt schon lange ohne eine Warensicherung im Ladenlokal an der Olpe nicht mehr aus. © Peter Wulle

„Uns als Einzelhändler tut jedes Teil weh“, sagt Lena Dümer, Geschäftsführerin von Hofius Moden. In ihrem Ladenlokal an der Olpe hat sie schon seit vielen Jahren alle Textilien mit einer Warensicherung versehen. Das schrecke ab, aber auch nicht immer. Unlängst wurde mehrfach dasselbe Fach ausgeräumt, erzählt sie: 26 Teile wurden gestohlen. „Die Diebe wissen, wie sie die Sicherung umgehen können“, sagt Lena Dümer und kündigt an: „Wir werden jetzt technisch nachrüsten, weil es notwendig geworden ist.“

Viel in Diebstahlsicherung investiert wird bereits bei Saturn am Westenhellweg. „Ladendiebstahl ist bei uns ein ganz großes Thema. Die Kosten für die Sicherung der Ware explodieren extrem. Wir haben jeden Tag mehrere Sicherheitskräfte im Einsatz“, sagt Geschäftsführer Falk Blättgen. Und dann erzählt er, dass die Security-Mitarbeiter schon mit Feuerlöschern attackiert worden seien.

Vier hätten während der vergangenen zwei Jahre schon ins Krankenhaus gemusst. „Dass Drogensüchtige sich verpackte Kaffeemaschinen schnappen, diese über den Kopf halten, so die Sicherheitsschleuse umgehen und rausrennen, ist an der Tagesordnung“, so Blättgen weiter.

Nur Wiederholungstäter

Spricht man mit Polizisten in Dortmund, dann erzählen die, dass sich nach ihrer Erfahrung Diebstahl in der Tat verändert hat:

Gelegenheitsdiebstähle, bei denen mal eine Flasche Schnaps für ein Trinkgelage mit Freunden gestohlen werde oder eine Mutter Baby-Milchpulver mitgehen lasse, weil sie es sich nicht leisten könne, würden kaum angezeigt. Man habe es heute in Dortmund ganz überwiegend mit organisiertem Diebstahl durch reisende Tätergruppen und mit Beschaffungskriminalität zu tun. Mit Zahlen belegen lässt sich das nicht. Für die Kriminalstatistik werden keine Täterprofile erfasst.

Ein Polizist in einem Kiosk
Seit dem Ende der Corona-Pandemie beschäftigen immer mehr Ladendiebstähle die Polizei. Vor allem, wenn sich Ladendiebe nicht amtlich ausweisen können, es zu Unstimmigkeiten oder gar zu Gewalt kommt, werden regelmäßig Polizeibeamte hinzugerufen. © dpa

„Aus dienstlicher Erfahrung ist bekannt“, sagt Maik Müller, Pressesprecher der Polizei Dortmund, „dass vor allem Betäubungsmittelabhängige ihre Sucht durch das Begehen von Diebstahlsdelikten finanzieren. Betrachtet man also rein die Beschaffungskriminalität kann gesagt werden, dass wir es hier fast ausschließlich mit Wiederholungstätern zutun haben. Dies liegt darin begründet, dass die Drogensucht durch die Begehung von Eigentumsdelikten finanziert wird und bei anhaltender Sucht auch die Notwendigkeit von Eigentumsdelikten bestehen bleibt.“

Bei Weinhändler Matthias Hilgering kommen Diebe auf seinen Hof am Westenhellweg. Vor kurzem wurde versucht, dort ein Lastenfahrrad zu stehlen.
Bei Weinhändler Matthias Hilgering kommen Diebe auf seinen Hof am Westenhellweg. Vor kurzem wurde versucht, dort ein Lastenfahrrad zu stehlen. © Archiv Schaper

Weinhändler Matthias Hilgering erfährt das am oberen Westenhellweg beinahe jeden Tag. In der Straße Grafenhof hinter seinem Geschäft liegt die Drogenhilfeeinrichtung Kick. „Wir haben daher hier viele Drogenabhängige. Es wird zwar auch mal etwas aus dem Geschäft gestohlen, die Schwachstelle ist aber unser Hof. Immer wieder tauchen da Suchtkranke auf. Ich kann keine Ware mehr unbeaufsichtigt in den Hof stellen. Das ist für uns logistisch sehr schwierig“, so Matthias Hilgering.

Und dann schildert er einen Fall, den er jetzt zur Anzeige gebracht hat: „Zwei Drogenabhängige wollten vom Hof ein Lastenfahrrad stehlen. Wir haben sie noch rechtzeitig verfolgen und bis zum Eintreffen der Polizei aufhalten können.“

Ob und wann ihnen welche Strafe droht, ist noch offen. Der Chef des Handelsverbandes Westfalen-Münsterland, Thomas Schäfer, wünscht sich bei solchen Fällen, dass eine Strafe direkt auf dem Fuße folgt. „Es gab ja mal das Beschleunigte Verfahren, aber das wird nicht mehr so recht angepackt. Natürlich hat jeder Mensch eine anwaltliche Beratung verdient, aber ein Täter muss auch relativ schnell zur Rechenschaft gezogen werden“, sagt Thomas Schäfer.

„Das ist ein Teufelskreis“

Henner Kruse, Sprecher der Staatsanwaltschaft Dortmund, lässt das so nicht gelten. „Wir haben einen Strafrahmen, der eine sachgerechte Bestrafung erlaubt. Es wird entschieden sanktioniert. Dass es dauert, liegt in der Natur der Sache, da ein Verfahren eingeleitet und ein Gerichtstermin anberaumt werden müssen“, sagt er. Möglich seien bis zu fünf Jahre Haft oder Geldstrafen. Beschleunigte Verfahren gebe es auch, allerdings nicht bei Tätern mit festem Wohnsitz.

Henner Kruse, Sprecher der Staatsanwaltschaft Dortmund, teilt die Forderung des Handelsverbandes nach härteren Konsequenzen für Ladendiebe nicht. „Es wird entschieden sanktioniert“, sagt er.
Henner Kruse, Sprecher der Staatsanwaltschaft Dortmund, teilt die Forderung des Handelsverbandes nach härteren Konsequenzen für Ladendiebe nicht. „Es wird entschieden sanktioniert“, sagt er. © Archiv

So sehr sich auch Torsten Seiler als Polizist und Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Dortmund weniger Ladendiebstähle in der Stadt wünschen würde, einen einfachen Weg dahin kennt er auch nicht. „Wie geht man vor, wenn bei einem Ladendiebstahl keine Haftgründe vorliegen und eine Geldstrafe verhängt wird, die nicht erbracht werden kann. Das ist ein Teufelskreis. Das Problem ist mit schnelleren Geldstrafen nicht gelöst“, sagt er.

Für den Polizeigewerkschafter braucht es ein Zusammenwirken etwa von Stadt, Politik, Strafverfolgungsbehörden, sozial-psychiatrischen Diensten, Drogenberatungsstellen und Polizei, um das Problem einzudämmen. „Die Polizei kann es alleine nicht leisten“, so Torsten Seiler.

Therapie statt Strafe

Ähnlich sehen es auch die Experten der Drogenberatungen in der Stadt. „Über die Repressionsschiene kann ich nur lachen“, sagt ein Drogenberater, der namentlich nicht genannt werden will. Hilfen seien notwendig. Und helfen würde es zum Beispiel, wenn bestimmte Drogen legalisiert würden oder es einen einfacheren Zugang zu Substitutionsmitteln gäbe.

Am Amtsgericht hält man auch viel von dem Prinzip „Therapie statt Strafe“. „Eine Therapie wird auf die Strafe angerechnet. Bei Bagatelldiebstählen kommt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt allerdings nicht in Betracht“, sagt Sebastian Dröge, Richter und Sprecher des Amtsgerichts.

Auch er stellt fest, dass nicht alle, aber doch die meisten Ladendiebe drogenabhängig sind. „Spürbare Konsequenzen“ wie der Handelsverband sie fordert, gibt es aus seiner Sicht durchaus, sie lösen aber das Problem nicht. Sebastian Dröge sagt: „Sie können einen Drogenkranken nicht abschrecken. Wenn es einen hohen Suchtdruck gibt, wird er es wieder machen.“

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