Sorgerechtsstreit

Dortmunder Mutter kämpft um ihren Sohn – 2021 sah sie ihn nur 16 Stunden

Ilyas war vier Jahre und acht Monate alt, als der Vater das alleinige Sorgerecht erstritt. Seitdem kämpft die Mutter um ihren Sohn. 2021 durfte sie ihn zehn Monate am Stück nicht sehen.

Dortmund

, 04.06.2022 / Lesedauer: 5 min

Wer mit Stefanie S. durch ihre Fotoalben blättert, sieht eine glückliche Mutter, ein glückliches Kind und glückliche Großeltern. Am Strand, im Hotel, mit Freunden. Karneval. Kamelreiten. Kuscheln. Aufnahmen aus den Jahren 2015 bis Februar 2020. Ein Bilderbuch-Leben.

Doch so unbeschwert, wie es auf den Fotos scheint, ist das Leben von Stefanie S. und ihrem Sohn Ilyas* (Name geändert) noch nie gewesen. Denn kurz nach der Geburt im Juni 2015 zog der Vater aus, fortan stritten seine Eltern um das Umgangsrecht, auch vor Gericht.

Im Februar 2020 passierte das, womit die Dortmunderin (37) niemals gerechnet hätte. Ilyas‘ Vater erstritt vor dem Amtsgericht Dortmund das alleinige Sorgerecht für den zu diesem Zeitpunkt vier Jahre und acht Monate alten Jungen.

„Mein Sohn hat in Todesangst geschrien“

Die Begründung des Amtsgerichts in Kurzfassung: Stefanie S. fördere die Beziehung von Vater und Sohn nicht ausreichend, während sie selbst eine viel zu enge Bindung zum Kind aufgebaut habe. Außerdem hätte Ilyas eine „eingeschränkte Autonomie- und Selbstständigkeitsentwicklung“. Ein kinderpsychiatrisches Gutachten hingegen belegte, dass Ilyas‘ zu diesem Zeitpunkt altersentsprechend entwickelt war.

Die Großeltern mütterlicherseits hatten ein inniges Verhältnis zu ihrem Enkel und vermissen ihn schmerzlich. © privat

Zehn Tage nach der Gerichtsverhandlung wurde Ilyas mit Hilfe des Jugendamtes Dortmund und bewaffneten Polizisten aus den Armen der Mutter gerissen und dem Vater übergeben. „Mein Sohn hat in Todesangst geschrien und sich gewehrt“, berichtet die stellvertretende Leiterin eines Kindergartens. Das Video liegt uns vor.

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Seit dem 17. Februar 2020 lebt Ilyas bei seinem Vater in Bochum. Es vergingen vier Monate, bis Stefanie S. ihren Sohn das erste Mal nach der Inobhutnahme wiedersah. Bis heute darf sie ihn nur alle zwei Wochen für maximal zwei Stunden an einem neutralen Ort treffen – und das nie allein. „2021 habe ich meinen Sohn nur 16 Stunden gesehen“, sagt Stefanie S. Denn das Jugendamt Bochum setzte die Maßnahme im Januar aus.

Der Grund: Stefanie S. weigerte sich, eine Vereinbarung zu unterschreiben, in der der Vater verlangte, dass Mutter und Sohn bei ihren Treffen eine Maske tragen und einen Abstand von 1,5 Metern zueinander einhalten sollten. Auch sollte die Mutter ihrem Kind nichts Mitgebrachtes zu essen und zu trinken reichen, berichtet Miriam Schittek, Rechtsanwältin der Mutter. Erst im September 2021 bekam Stefanie S. Recht: Die Aussetzung der Umgänge sei nicht rechtmäßig gewesen.

Seit über zwei Jahren kämpft Stefanie S. um ihren mittlerweile sechsjährigen Sohn. © privat

Ob Weihnachten, Ilyas’ Geburtstage, Ostern oder die Einschulung: Von allem wurde die Mutter bislang ausgeschlossen. Um bei ihrem Sohn keine Sehnsüchte zu wecken, darf sie sich während der Treffen mit ihm nicht über gemeinsame Erlebnisse unterhalten oder Fotos aus der Zeit anschauen, als Ilyas noch bei ihr lebte.

Seit über zwei Jahren kämpft Stefanie S. um ihren Sohn. Doch im November 2021 scheiterte sie vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamm. Die Richter schlossen sich der Begründung des Amtsgerichts Bochum an und befanden den Vater zudem als „umfänglich erziehungsfähig und uneingeschränkt bindungstolerant“.

Letzteres soll heißen: Er fördere die Mutter-Kind-Beziehung angemessen. Tatsächlich sind die Treffen von Mutter und Sohn seit mehr als zwei Jahren nach Angaben von Stefanie S. auf ein Minimum reduziert, sie finden nur sporadisch und mit großen Einschränkungen statt.

Auch die Eltern von Stefanie S. leiden. Sie haben ihren Enkel seit dem Tag der Inobhutnahme nicht mehr treffen dürfen – und das, obwohl seit September 2020 ein Gerichtsbeschluss vorliegt, dass auch sie ihren Enkel begleitet sehen dürfen. „Es ist der reinste Albtraum, das Kindeswohl wird mit Füßen getreten“, sagen sie.

24 Aktenordner füllt der Sorgerechtsstreit bereits. Stefanie S. und ihre Eltern beschäftigen sich beinahe täglich damit. © Beate Dönnewald

Stefanie S. kann bis heute über den ganzen Vorgang nur den Kopf schütteln: „Mein Sohn wurde für sein Leben geschädigt und traumatisiert. Seine Mama, seine Familie, seine Freunde, seine Hobbys, sein ganzes Leben wurden ihm von einem Tag auf den anderen grundlos genommen.“

Ilyas‘ Kinderzimmer hat seine Mutter nicht verändert. Es wirkt so, als hätte hier gerade noch ein Kind gespielt. © Beate Dönnewald

Ihre Geschichte ist kein Einzelfall. Das zeigt die neue Studie „Familienrecht in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme“ des Kinderschutzexperten Dr. Wolfgang Hammer. Der frühere Abteilungsleiter der Kinder- und Jugendhilfe im Hamburger Sozialministerium untersucht seit Jahren problematische Inobhutnahmen. Seine Studie basiert auf mehr als 1000 Fällen.

Auch zu dem Dortmunder Fall äußerte sich der Soziologe (Quelle: WDR Lokalzeit Dortmund): Ein Kind, das bis zum 4. Lebensjahr nachweislich gut bei seiner Mutter gelebt habe, dürfe nicht einfach aus seinem gewohnten Umfeld gerissen werden.

„Keine Gefahr von Leib und Leben“

Es habe hier weder eine „Gefahr von Leib und Leben“ bestanden noch seien die Unterstellungen wissenschaftlich haltbar. „Die gesamte Argumentation widerspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“, sagt Hammer.

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Natürlich hat unsere Redaktion auch die andere Seite befragt, Behörden, Gerichte und den Vater des Kindes, um zu erfahren, wie sie die Angelegenheit sehen und wie sie zu den Vorwürfen von Stefanie S. und dem Experten stehen.

Doch sowohl die Stadtverwaltungen aus Bochum und Dortmund als auch Amtsgericht und Oberlandesgericht haben sich geweigert, unsere Fragen zu diesem Fall zu beantworten und berufen sich dabei unter anderem auf die Persönlichkeitsrechte von Kind und Vater. Letzterer möchte auf Anfrage ebenfalls keine Stellung beziehen, weil er bereits in anderen Medienberichten in ein negatives Licht gerückt wurde.

Tatsache ist: Laut Urteil des Amtsgerichts von Februar 2020 hatte der Vater schon im Jahr 2017 beklagt, dass Stefanie S. ihm keine Chance gebe, Zeit mit Ilyas alleine zu verbringen. 2018 wurde gerichtlich geregelt, dass der Vater den Jungen am Kindergarten abholen sollte, damit Stefanie S. bei den Übergaben nicht dabei ist. Doch offenbar klappte das nicht reibungslos, unter anderem weil Stefanie S. im selben Kindergarten arbeitet, den Ilyas besuchte.

So bleiben drängende Fragen am Ende unbeantwortet:

Warum wird der Umgang der Mutter nicht ausgeweitet und warum dürfen die Großeltern mütterlicherseits ihr Enkelkind seit mehr als zwei Jahren nicht sehen, obwohl der Umgang gerichtlich festgelegt wurde? Bereits während einer Anhörung im Juni 2020 erklärte der Kindesvater, dass der mütterliche Umgang perspektivisch ausgeweitet werden und sein Sohn auch Kontakt zu den Großeltern haben soll.

Es gelingt uns auch nicht, Details der Inobhutnahme zu klären. Auf eine entsprechende Frage antworteten Polizei und Stadt Dortmund gemeinsam – ohne auf Einzelheiten einzugehen:

„Im genannten Fall lag der Polizei im Vorfeld kein schriftliches Amts-/Vollzugshilfeersuchen des Jugendamtes vor. Die Polizei wurde während des Einsatzes per Notruf hinzugezogen und die Mitarbeitenden des Jugendamts ersuchten daraufhin vor Ort bei den anwesenden Polizeivollzugsbeamten um Amts-/Vollzugshilfe. Durch die zuständige Führungsstelle Gefahrenabwehr/Einsatz wurde dem Ersuchen zugestimmt, so dass durch die Polizei Vollzugshilfe geleistet wurde. Ein Einschreiten der Polizeivollzugsbeamten war in diesem Fall erforderlich.“

Stefanie S. will weiter um ihren Sohn kämpfen

Die Vermutung liegt nah, dass eine Kindeswohlgefährdung angenommen wurde. Laut Stefanie S. wurde der Verdacht eines erweiterten Suizides unterstellt. Dass dies nicht der Fall ist, bescheinigen acht Gutachten von unabhängigen Psychologen und einer Psychiaterin, die Stefanie S. eingeholt hat.

Stefanie S. will weiter um ihren Sohn kämpfen. „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als ganz bald wieder mit Ilyas in seinem Kinderzimmer zu spielen und die Zeit mit ihm zu genießen.“

Schreiendes Kind wird aus den Armen seiner Mutter gerissen unter www.ruhrnachrichten.de

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