Dieser Text ist zuerst am 20. Oktober 2017 erschienen und wurde anlässlich des Prozesses um den Hannibal II am Oberverwaltungsgericht NRW neu veröffentlicht.
Kein Weihnachten daheim. Zwei Jahre lang. Und 753 Geburtstage auch nicht. Als die Menschen zum ersten Mal offiziell hören, dass der Zustand des Vertriebenseins, in dem sie leben, nicht drei oder sechs Monate andauern wird, sondern zwei Jahre – und auch das sind nur vorsichtige Schätzungen –, da haben sie nur noch höhnisches Gelächter über.
Sie müssen matt sein. Vom Zorn. Der Hilflosigkeit. Der Trauer. Und von der Anspannung der letzten Wochen, von der natürlich auch.
Dreieinhalb Wochen haben sie an diesem Montag Mitte Oktober schon kein Zuhause mehr. Familien leben aus Tüten und Taschen. Bei Freunden oder Verwandten auf der Couch. In Ersatzwohnungen oder Sammelunterkünften auf wenigen Quadratmetern. Mit der Ruhelosigkeit, die einen packt, wenn man keine Privatsphäre mehr hat, dafür aber einen Berg an Problemen. So groß wie der Hannibal selbst. Der Hochhaus-Komplex, in dem sie einst lebten. Und in den sie, gerade haben sie es vernommen, auch mittelfristig nicht mehr zurückkehren werden können.
Krisenstableiter Ludger Wilde hatte zuvor zweimal tief durchgeatmet, bevor er am Montagabend den versammelten rund 100 Anwohnern die Nachricht des Besitzers übermittelte: „Intown hat mir mitgeteilt, dass sie von einem Zeitraum von nicht unter zwei Jahren ausgehen, bis die notwendigen Sanierungen durchgeführt sind.“
Er steht in einem Ausstellungsraum, einer stilisierten Stahlhalle, mit dem Rücken zu einer Fensterfront. Man kann von dort aus die Spitze des Hannibals sehen. Den Hannibal oder seine Spitze kann man hier in Dorstfeld-Süd eigentlich von überall aus sehen.
Das Gebirge
Wie monströs der Hannibal wirklich ist, spürt, wer am Fuß des Kolosses und direkt davor steht. Den Kopf hebt und dieses Gefühl spürt, dass man nur vor richtig hohen Häusern bekommt: Es scheint zu schwanken. Ein einziges Wohngebirge, bestehend aus acht aneinandergereihten Hochhäusern, jeweils 11 bis 17 Stockwerke hoch.

Auf seinen Dächern stehen Handymasten wie Gipfelkreuze, darüber fliegen Krähen. Segeln, stehen fast im Wind da oben. Auf der Westseite werden die Balkone ausladend, je weiter man nach unten kommt, desto weiter strecken sie sich vor, wie herausgezogene Schubladen an einer riesigen Kommode. Die Balkone erzählen viel über die Menschen, die hier lebten. Populär sind auf den Balkonen Koniferen, Friedhofspflanzen, immergrün, die überstehen alles und brauchen nichts. Wenige Geranien oder Petunien. Noch weniger, drei, vielleicht vier, haben Tomaten angepflanzt. Mit Folien kleine Gewächshäuser geschaffen.
Wer Zahlen braucht für diesen schroffen Klotz: 27.955 Quadratmeter Wohnfläche in 412 Wohnungen, in denen zuletzt 753 Menschen lebten. Am Fuß der steil abfallenden Ostseite des Gebäudes zerrt der Wind an den verbliebenen Blättern der Pappeln. Ansonsten Stille. Kein Mensch, der spricht, kein Kind, das schreit. Hier wohnt niemand mehr. Hier wird im nächsten Jahr auch niemand leben. Es wird wohl eher zwei Jahre dauern, wenn man dem Hannibal-Eigentümer Intown glaubt. Wahrscheinlicher ist, dass der Koloss in den nächsten Jahren leer stehen wird. Die Menschen werden, wenn dieses Geschehen den Regeln der Wahrscheinlichkeit folgt, zerstreut werden. Aber im Moment haben sie andere Probleme.
„Ich halte das nicht mehr aus!“
„Unsere Nerven liegen blank!“
„Wie soll ich das meinen Kindern erklären?“
„Mir ist das alles scheißegal, ich will nach Hause!“
Das hier ist die Geschichte des Hannibals II in Dorstfeld im Jahr 2017. Die Geschichte einer beispiellosen Vertreibung von 753 Menschen in der jüngeren deutschen Geschichte. Von Ohnmacht gegenüber internationalen Investoren. Und der lebensgefährlichen Ignoranz dieser Investoren gegenüber ihren Mietern. Und gegenüber deren Sicherheit.
Die erste Brandschau
Am 29. August 2017 gehen fünf Personen in den Hannibal. Zwei Feuerwehrmänner, zwei Angestellte der Firma Intown, ein Handwerker. Die Männer sollen sich außerplanmäßig den Brandschutz in dem Koloss ansehen. Turnusgemäß würde das eigentlich erst 2019 geschehen. Doch ein Anwohner hatte sich per Mail gemeldet und zweifelte an der Sicherheit. Viel Sperrmüll, offene Feuerschutztüren, fehlende Feuerlöscher, solche Sachen. Jetzt betreten die Prüfer den großen Hannibal in Dorstfeld und machen sich an eine Arbeit, die sich Brandschau nennt.
Brandschutz in Großgebäuden ist zu dem Zeitpunkt ein großes Thema. Zweieinhalb Monate vorher brannte ein Hochhaus, ein Sozialbau, in London wie eine Fackel. Mindestens 80 Menschen starben wegen des schlechten Brandschutzes. Und dann hatte es im Januar 2016 auch in der Dortmunder Nordstadt gebrannt. Im kleineren Hannibal, 230 Wohnungen, aber im Prinzip baugleich, war ein Feuer in der Tiefgarage ausgebrochen. Riesige Qualmwolken zogen damals an die Oberfläche, genährt von Sperrmüll und Autos. Die Rauchschwaden waren in der ganzen Stadt zu sehen. Bis die einsetzende Dunkelheit sie verhüllte.
Als der große Hannibal, der II., in Dorstfeld 1975 als Wohngebirge auf der grünen Wiese hochgezogen wurde, war er ein Vorzeigeprojekt. Mit seiner aufgelockerten Fassadengestaltung im Westen, einer fantastischen Verkehrsanbindung, dazu nahe an der Universität gelegen – eine Schöner-Wohnen-Fantasie aus den 1970er-Jahren, so wurde er gebaut. Bauherr war das damals städtische Wohnungsunternehmen Dogewo, die Dortmunder Gemeinnütziges Wohnen GmbH. Fördergelder flossen in Millionenhöhe, unter anderem von der Wohnbauförderungsanstalt des Landes Nordrhein-Westfalen.
Die öffentliche Förderung diente dem sozialen Wohnungsbau. Ein prinzipiell guter Gedanke: Menschen, die ein mittleres oder höheres Einkommen hatten, sollten hier für sozial Schwächere Ausgleichszahlungen leisten. Doch Baumängel, hohe Betriebskosten, dunkle Ecken und Anonymität vertrieben bald die, die es sich leisten konnten – trotz eigentlich wunderbar geschnittener Maisonettewohnungen mit ihren Balkonen und Fernblicken zog die Mittelschicht aus. Der Hannibal bekam schnell Probleme, die in der Folge nie behoben wurden. Bis heute.
Eine Brandschau ist immer nur eine oberflächliche Sicht auf die Dinge. Wohnungen zum Beispiel, den Kern eines Gebäudes, untersucht man bei einer Brandschau nicht. Doch die Feuerwehrleute stoßen an diesem August-Tag in den Fluren und Treppenhäusern auf immer mehr Mängel. Da sind die Dinge, die dem Mieter aufgefallen waren – es gibt aber auch Probleme mit den Fluren. Flure gelten als erster Fluchtweg, die Flure im Hannibal sind recht breit. Hier wurden teilweise aus Rigipsplatten eigene Räume hochgezogen, in denen Waschmaschinen oder Trockner stehen. Die Räume verengen die Fluchtwege. Im Brandfall würden sie zudem schnell Feuer fangen. Oder könnten selber ein Brandherd sein. Weiter ist von den eingebauten Feuerschutztüren so gut wie keine intakt. Am Ende des Tages steht eine lange Mängelliste. An eine Evakuierung denkt zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
Probleme seit 1976
Die Probleme des Kolosses von Dorstfeld wachsen nach seiner Inbetriebnahme 1976 an wie Unkraut im Kleingarten: langsam, aber wenn man nichts dagegen tut, unaufhaltsam. Irgendwann überwuchern sie alles. Aber es gibt Menschen, die gerne hier wohnen. Zum Beispiel Hans-Günther Seiberling. Er ist 73 Jahre alt. 33 dieser Jahre lebte er jetzt schon im Hannibal. Seiberling bekommt alles hautnah mit. Die schnell wachsenden Leerstände im Komplex, die durch äußere Faktoren wie zum Beispiel die Wiedervereinigung zwar in Wellenbewegungen verlaufen. Aber solche einmaligen Effekte stoppen nicht den langfristigen Trend. Der ist in Dortmund lange Zeit der, dass Wohnraum in der Stadt gut und preiswert zu haben ist.
Die Nachfrage sinkt und wenn das geschieht, sind Objekte wie der Hannibal die ersten, die kippen. Seiberling hat sich daran nicht groß gestört, was außen schäbiger wurde, hat er drinnen schöner gemacht. Das Bad renoviert, sich einen Wintergarten auf den Balkon gebaut. Die Wohnung tapeziert und gestrichen, ein Sicherheitsrollo hinter der Wohnungstür. Alles auf eigene Kosten in der Hausnummer 22 im sechsten Stock. „Ich lebe da seit 33 Jahren und bin sehr zufrieden.“ Im Moment lebt er in Hagen, bei Bekannten.

Die Schieflage des Gebäudes wird allmählich zu einer drohenden Gefahr für den Besitzer Dogewo. Die war 1997 an die Stadtwerke übertragen worden, was einerseits den Haushalt der Stadt konsolidieren sollte. Andererseits musste die Dogewo, damals in tiefroten Zahlen, selber dringend wirtschaftlicher arbeiten. 2002 wurde ein Vier-Jahres-Plan aufgestellt, um dieses Ziel zu erreichen: Ein Standbein dieses Plans war der Verkauf von defizitären Immobilien. 2003 und 2004 verkaufte die Dogewo 965 Wohnungen an die Firma Janssen & Helbing, in dem Paket enthalten war auch der Hannibal II. Während die Dogewo sich in den Folgejahren gut entwickelte, war bei Janssen & Helbing schon schnell wieder Schluss. Trotz glanzvoller Versprechen wie etwa dem, den Hannibal „zu einem Vorzeige-Objekt für die Stadt Dortmund zu machen“.
Das Unternehmen hatte in einer Art Kredit-Schneeballsystem heruntergekommene Bestände in ganz Deutschland gekauft, die aufgenommenen Kredite waren erschlichen, die Geschäftsführer simple Betrüger und der Hannibal wurde ab April 2007 unter Zwangsverwaltung gestellt.
Ein Zufallsfund, der alles verändert
Die Mängelliste der Feuerwehr geht zum zuständigen Bauordnungsamt. Am 19. September findet eine sogenannte Nachschau statt. Mit dabei sind ein Feuerwehrmann, drei Mitarbeiter der Bauordnung, zwei Intown-Vertreter, ein Hausmeister und der Handwerker. Die aufgelisteten Mängel werden begutachtet – und neue gefunden. Der auf der Ostseite angebrachte Sicherheitstreppenraum ist der zweite Fluchtweg. Ein Sicherheitstreppenraum ist ein abgetrennter Bereich, isoliert vom Rest des Gebäudes, damit im Brandfall kein Rauch eindringen kann. Normalerweise. Denn dieser Treppenraum ist nach unten hin offen und mit dem Keller verbunden. Ein weiteres, ernstes Problem.
Doch dann steht da noch in Hausnummer 12 in einer mittleren Etage eine Tür offen. Eine Wohnungstür. Dass sie offen steht, ist reiner Zufall. Wäre diese Tür an diesem Nachmittag zu gewesen, würden alle Mieter heute noch in ihren Wohnungen leben.
In der Wohnung finden die Männer in einer Wand eine halb eingerissene einfache Rigipsplatte. Hinter ihr ein Schacht. Man kann den Kopf hineinstecken. Oben ist der Schacht offen. Unten auch. Nichts an diesem Schacht, in jedem der acht Hochhäuser gibt es vier davon, entspricht auch nur ansatzweise dem Brandschutz. Kabel laufen von oben nach unten. Die Männer betreten weitere Wohnungen, der Schachtbau ist überall gleich.
Feuerwehrleute fürchten nicht das Feuer
Als Hochhaus bezeichnet man in Deutschland ein Haus, in dem Wohnräume 21 Meter über dem Erdboden liegen. Hochhäuser haben generell ein Problem: die Menschenrettung, wenn es brennt. Die sogenannte Nennrettungshöhe eines Drehleiterwagens beträgt 23 Meter. Das kleinste Hannibal-Haus ist 31, das höchste knapp 48 Meter hoch. Also braucht es im Haus zwei eigene Rettungswege, der eine ist das reguläre Treppenhaus, der andere der Sicherheitstreppenraum.
Sollte in der Tiefgarage ein Feuer ausbrechen, wäre das zwar ernst, aber im Notfall beherrschbar. Normalerweise ist die Tiefgarage vom Gebäudekomplex durch Wände in der sogenannten F-90-Qualität abgetrennt. Wände, die einem Feuer und dem Rauch 90 Minuten standhalten. Und auch die Schächte brauchen solche Wände. Oben, unten und an der Seite.
In die einfachen Rigipsplatten, die die Wohnungen von den Schächten trennen, sind im Hannibal preiswerte Steckdosen und Lüftungsschlitze verbaut worden. Wäre in diesem Gebäudekomplex ein Feuer in der Tiefgarage ausgebrochen, hätte es, so schätzt es Feuerwehrchef Dirk Aschenbrenner, 15 bis 30 Minuten gebraucht, bis der heiße Rauch, der einen enormen Druck aufbaut, das komplette Gebäude verqualmt hätte. Rauch in den Wohnungen, Rauch in den Fluren.
Feuerwehrleute fürchten nicht das Feuer, sie fürchten den Rauch. 98 Prozent aller Menschen, die bei Bränden ums Leben kommen, vergiften. Oder ersticken. Im Qualm eines Brandes sind Giftstoffe, Blausäure etwa. Ist die Blausäure-Konzentration hoch genug, reichen zwei Atemzüge, um bewusstlos zu werden. Nach zwei weiteren Atemzügen ist man tot.
Auch wenn die Feuerwehr innerhalb von acht Minuten, das ist die gesetzlich vorgeschriebene Frist, am Brandort gewesen wäre – durch die offenen Schächte, die kaputten Brandschutztüren, die verbauten Flure, die nicht geschlossenen Sicherheitstreppenhäuser, den Sperrmüll, die fehlenden Feuerlöscher hätte ein Brand verheerende Folgen gehabt.
Die Bauordnungsleute verlassen am 19. September den Hannibal. Überlegen, wie sie mit den Mängeln umgehen sollen. Finden keine Lösung und greifen am Nachmittag des 20. September zum Telefon. Eine städtische Nummer wird angewählt. Am nächsten Morgen wird sich der städtische Krisenstab mit dem Thema beschäftigen müssen.
Eine Pleite und ein Gutachten
Nach der krachenden Pleite der Betrüger Janssen & Helbing beauftragt das zuständige Amtsgericht einen Sachverständigen, er soll ein Wertgutachten für den Hannibal-Komplex erstellen. Das soll später, 2009, potenziellen Kaufinteressenten dazu dienen, sich einen Überblick über die Immobilie zu verschaffen. Der Gutachter macht sich an die Arbeit, zwei wesentliche Dinge werden später von diesem Gutachten hängen bleiben: Der Wert des Hannibals liegt damals laut Gutachten bei 3,6 Millionen Euro, die notwendigen Sanierungsarbeiten werden mit 9,2 Millionen Euro veranschlagt. Dem langen Gutachten liegt noch ein weiteres Gutachten zur „Feststellung des baulichen Zustandes“ bei.
Dieser Gutachter empfiehlt in gefetteter Schrift eine brandschutzgutachterliche Begehung, das ist viel mehr als eine Brandschau. Die Lüftungsschächte, bei denen es sich um Kombischächte handelt, machen ihm Sorgen: Es „ist zu klären, ob bauaufsichtliche Anforderungen hinsichtlich der geschossweiten Abschottung, namentlich einem Deckenverguss, erforderlich sind.“ Was nichts anderes heißt, als dass die Schachtproblematik, die letztlich zur Räumung des Hannibals geführt hatte, seit spätestens 2009 bekannt war. Die Gutachten und Nebengutachten standen öffentlich einsehbar im Internet.
Die Menschen im Hannibal leben seit mindestens acht Jahren, wahrscheinlich schon deutlich länger, in einer potenziellen Fackel. Bei der städtischen Baubehörde und der Feuerwehr war dieses Gutachten, so sagt es Planungsdezernent und Krisenstabsleiter Ludger Wilde, nicht bekannt. Mindestens bekannt war es aber den ernsthaften Kaufinteressenten. Und dem Käufer.
Ende 2011, am 14. Dezember, beginnt im Amtsgericht ein dreistündiges Bieterverfahren in einer Zwangsversteigerung, beteiligt sind drei Unternehmen. Nach mehr als 200 Geboten fällt der Hammer, der Dorstfelder Hannibal geht für sieben Millionen Euro über den Tisch. Der neue Besitzer heißt „Lütticher 49 Properties GmbH“ und sitzt in Berlin. Was das Unternehmen mit dem Hannibal vorhat, erläutert sein verhandlungsführender Rechtsanwalt nicht. Lediglich ein weiterer Vertreter des neuen Eigentümers spricht einem Radioreporter dann doch noch einen Satz ins Mikrofon: „To make it nice … and bring nice people“. Es nett zu machen. Und so nette Leute hereinzubekommen.

Für die Mieter hat der Besitzerwechsel 2011 keine Folgen, was ihre Mietverträge angeht. Allerdings verändert der neue Besitzer auch kaum etwas an dem maroden Haus. Die Aufzüge, seit Jahren ein Sorgenkind, weil altersschwach, fallen in immer kürzeren Abständen aus und werden dann zusammengeflickt. Armin Höllerich ist gehbehindert, der 59-Jährige wohnt in einer zwölften Etage und kann keine Treppen steigen. Im Frühjahr 2016 stand sein Aufzug 17 Tage lang still. Versorgt wurde er von Bekannten.
Der Mieterverein befürchtet damals, nach der Zwangsversteigerung, dass der „neue Eigentümer keine ausreichende wohnungswirtschaftliche Erfahrung besitzt, um eine Sanierung und Bewirtschaftung des Hannibals in Dorstfeld-Süd zu leisten, sondern den Hannibal als Spekulations- und Abschreibungsobjekt nutzt“.
Im Frühjahr 2012 bekommt der Mieterverein Besuch. Drei Personen kommen vorbei, sie geben sich als die neuen Besitzer des Hannibals aus. Einer von ihnen ist Amir Dayan, ein israelischer Geschäftsmann. Man sprach dann auf englisch über Dinge wie Verantwortung, und was im Hannibal alles gemacht werden müsse. Herr Dayan sei höflich gewesen, er hätte mehr zugehört als gesprochen, sagt Rainer Stücker vom Mieterverein heute über dieses Treffen.
Die Räumung
Am 21. September 2017 lädt die Stadt Dortmund kurzfristig zu einer Pressekonferenz ein. Der Krisenstab mit Fachleuten aus den betroffenen Ämtern, hier etwa Feuerwehr, Bauordnung oder Sozialamt, hatte kurz zuvor getagt. Am Ende dieser Sitzung stand die Entscheidung, den Hannibal zu räumen. Die Evakuierung einer Immobilie dieser Größe hatte es bundesweit bisher noch nicht gegeben. Um 17 Uhr wird das bekannt gegeben, zwei Stunden später stehen Busse vor dem Hannibal.

Eine Maschinerie wird hochgefahren, 753 Menschen müssen innerhalb weniger Stunden ausziehen, sie brauchen jetzt Unterkünfte. Auch wenn viele – zunächst – bei Freunden und Bekannten unterkommen werden. Eine Sporthalle wird als Notunterkunft geöffnet. Ehemalige Flüchtlingsheime, in der Regel Container, werden reaktiviert. Mehrere Tage steht vor dem Hannibal ein Einsatzleitwagen der Feuerwehr, ein Container des Sozialamtes, dazu Zelte, ein Sicherheitsdienst muss her. Es läuft nicht alles perfekt, aber obdachlos ist später niemand. Jörg Süshardt ist Leiter des Sozialamtes, er wird später sagen, so etwas hätte er in seinen langen Dienstjahren noch nie erlebt.
Die Kosten für diesen Einsatz, er dürfte inzwischen die Millionengrenze überschritten haben, sollen, so sagt es die Stadt immer wieder, später zusammengerechnet und dann Intown in Rechnung gestellt werden.
Von Eisbergen und Schneeflocken
Per Post werden die Mieter des Hannibals im Sommer 2016 über einen Verwalterwechsel informiert. Zuständig sei jetzt die Intown Property Management GmbH. Intown, die heute als Ansprechpartner für das Gebäude gilt und deren Chef Sascha Hettrich sich in einer Pressemitteilung als Eigentümer der Immobilie ausgibt, betritt damit die Dortmunder Bühne.
Andernorts ist Intown schon länger bekannt. Etwa in Wuppertal: Am 27. Juni 2017 müssen dort 72 Mieter eines elfstöckigen Hochhauses aus ihren Wohnungen raus. Die Kunststofffassade ist laut Feuerwehr brennbar. Auch in Wuppertal tritt Intown-Geschäftsführer Sascha Hettrich als Eigentümer auf. Vier Wochen und ein Baugerüst später, das als provisorischer Rettungsweg fungiert, dürfen die Bewohner zurück. Intown kritisiert die Räumung als „unverhältnismäßig“, das Wuppertaler Hochhaus wird ein Fall für die Gerichte werden. Denn wer die Kosten der Räumung trägt, ist zwischen Stadt und Eigentümer strittig.
In Schwerin kauft 2015 eine GmbH aus dem Intown-Geflecht 17 Wohnblöcke. 1040 Wohnungen in zwei sozialen Brennpunkten mit geringer Wohnqualität und hoher Hartz-IV-Dichte. Maik Schoefer hat selbst vier Jahre in einem der Blöcke gewohnt. Er sagt, nachdem Intown Besitzer wurde, habe sich die Situation der Mieter verschlimmert. Im Winter sei über Wochen die Heizung ausgefallen. Schoefer verfolgt die Nachrichten über die Räumung des Hannibal und findet: „Hut ab, dass der Dortmunder Oberbürgermeister sich da mit den Betroffenen hinsetzt. Das würde ich mir hier in Schwerin auch wünschen.“
In Hannover wiederum steht einer der größten Sanierungsfälle Niedersachsens: das gigantische Ihme-Zentrum, 23 Stockwerke hoch. Eine Stadt in der Stadt, mit Ladenpassage, 860 Wohnungen und vielen Büros. Die Linksterroristen der RAF nutzten in den 70er-Jahren den verwinkelten und unübersichtlichen Klotz, um dort eine Wohnung als Waffenlabor und Versteck zu nutzen. Das Ihme-Zentrum hat gewichtige Ankermieter: Die Stadt Hannover hat dort rund 26 000 Quadratmeter Büro- und Lagerfläche gemietet, die Stadtwerke 36 100 Quadratmeter. Vermieter seit 2015 auch hier: Intown. Geschehen ist seitdem: wenig. Man habe sich den Investor nicht aussuchen können, sagt Stadtsprecher Andreas Möser. Die Stadt übt Druck aus, damit der Komplex endlich saniert wird. Druck genug, dass im August 2016 Amir Dayan, israelischer Investor hinter der Intown-Gruppe, konkrete Pläne in einer öffentlichen Ausschusssitzung des Rates vorstellt. Jener Dayan, der im Frühjahr 2012 im Dortmunder Mieterverein vorstellig wurde. Und wenig sagte.
Wer eine Verbindung zwischen Amir Dayan und Sascha Hettrich sucht, die über deren Facebook-Freundschaft hinausgeht, der muss ins Handelsregister schauen. Amir Dayan war dort als Geschäftsführer mehrerer Unternehmen der Intown-Gruppe gelistet, unter anderem von der Objektgesellschaft Möckernstraße 139-141. Das ist die Anschrift der Intown-Gruppe und etlicher ihrer GmbHs in Berlin.
Das ausgeklügelte Geflecht aus GmbHs der Gruppe ist selbst für Experten schwierig zu entschlüsseln. „Intown ist sehr intransparent“, sagt Monika Leykam, Fachjournalistin von der „Immobilien-Zeitung“. Während die Aufteilung in mehrere GmbHs aus haftungs- und steuerrechtlichen Gründen nicht unüblich sei, wie Daniel Zimmermann vom Mieterbund Nordrhein-Westfalen meint, „verliert sich die Spur des Geldes aber nicht zwingend in diversen Limited-Gesellschaften in der Steueroase Zypern“. Bei Intown ist das der Fall. Intown, so Zimmermann, ist in diesem Konstrukt nur die „Spitze des Eisbergs, Hettrich eine Schneeflocke darauf“. Das komplizierte Geflecht dahinter sei undurchschaubar. So landen die Mieteinnahmen aus dem Hannibal in der Steueroase im Mittelmeer. Wer am Ende der Kette stehe, wird über dieses Konstrukt mit Absicht verschleiert. Man weiß nicht, wem der Komplex gehört. Im Grundbuch Firmennamen, in Handelsregisterauszügen Firmennamen. Welche Person letztlich Entscheidungen fällt, ist vollkommen unklar.
Klar ist nur: Das Geld, das seit Jahren aus dem Hannibal fließt, wurde nur in vergleichbar homöopathischen Dosen für ihn eingesetzt. Sieben Millionen Euro kostete der Hannibal 2011. Zwischen 6 und 9 Millionen Euro, so errechnet es ein Experte, dürfte er an Mieteinnahmen abgeworfen haben. Andere gehen von 11 bis 12 Millionen aus. Viel davon floss aus der öffentlichen Hand, rund 500 der 753 Bewohner beziehen Sozialleistungen.

Nach dem ersten Schock, die eigenen vier Wände zu verlieren, folgt bei den Mietern der Zorn, der sich im Laufe der Tage immer weiter steigert. Die Menschen machen eine einfache Rechnung auf: Wenn die Stadt sie aus ihren Wohnungen zwingt, muss die Stadt ihnen andere Wohnungen zur Verfügung stellen. In Dorstfeld. Dort aber gibt es keine freien Wohnungen in entsprechender Größe und Zahl, es gibt sie in diesem Preissegment schlicht in ganz Dortmund nicht.
Die Stadt selbst wiederholt immer wieder, bei Pressekonferenzen, bei Informationsveranstaltungen, bei einer Demonstration von Mietern am vergangenen Samstag, dass sie rechtlich gar nicht anders konnte, als das Haus zu räumen. Wie oft Planungsdezernent und Krisenstabsleiter Ludger Wilde in den letzten dreieinhalb Wochen „Es geht um Leib und Leben“ gesagt hat, weiß er wahrscheinlich selbst nicht mehr. Wäre es zu einem Brand im Hannibal gekommen, seitdem die Stadt von dem Zustand des Brandschutzes weiß, säße Wilde, so vermutet er selber, in Untersuchungshaft.
Wer soll das bezahlen?
Intown reagiert mit einer Pressemitteilung auf die Räumung, die sie unverhältnismäßig nennt. Auch dort wird Chef Sascha Hettrich zitiert: „Erstmals heute haben wir von den detaillierten Brandschutzbedenken und baurechtlichen Themen Kenntnis erhalten und keinerlei Zeit für eine Reaktion in der Sache gehabt.“ Möglich, dass Hettrich die detaillierten Bedenken nicht kannte – der Lütticher 49 müssen sie bekannt gewesen sein. Seit 2009.
Vier Tage nach der Räumung geht im zuständigen Verwaltungsgericht eine Klage von Intown ein, sie wird dann per Fax ins Dortmunder Rathaus geschickt. Ab dem 4. Oktober stehen dann auch zwei Intown-Container vor dem Hannibal, hier gebe es Hilfe für die Bewohner, heißt es. Wie die Hilfe aussieht, davon hat sich ein Mieter überzeugt: Er bekam Ersatzwohnungen angeboten. In Gelsenkirchen, in Wuppertal, wo Intown das Hochhaus besitzt. Und in Herne. Der Mann fuhr dann nach Herne, Grenzweg 9, und schaute sich dort, so sagt er, eine Wohnung an. Sie sei völlig versifft gewesen, ohne Fußböden oder Wasserhähne. Als er nach weiteren Wohnungen fragte, hieß es in Herne, die könne er sich sparen, das seien Messi-Löcher. Inzwischen lebt er in einer Übergangswohnung der Stadt im Osten Dortmunds.
Wenn man versucht, das Geschäftsmodell der Intown-Gruppe zu verstehen, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Strategie folgende ist: Marode Bestände werden aufgekauft und gehalten, investiert wird wenig bis nichts. Das geht nicht spurlos an den Gebäuden vorüber, man kann es auch als Auspressen der Immobilien bezeichnen und die Folgen zeigen sich in Hannover, Schwerin oder Wuppertal. Es lässt sich aber genauso gut in Dortmund betrachten: Hier besitzt die Gruppe laut Eigentümerverzeichnis des Amtsgerichtes zwei weitere große und alte Gebäude in der Innenstadt, die seit Jahren mit einem hohen Leerstand kämpfen. Und weitere 14 Immobilien. 12 in der Nordstadt, 6 von ihnen stehen auf der Liste der Problemhäuser der Stadt. Ein knappes Zehntel aller Problem-Immobilien in der Nordstadt.

Für den Immobilienmarkt-Experten Professor Stefan Kofner ist das Intown-Investment in den Hannibal durchaus nachvollziehbar. Hier seien grundsätzlich „durchaus Renditen erwartbar gewesen“, sagt Kofner. Durch „Investitionen mit angezogener Handbremse, um leere Wohnungen wieder bewohnbar zu machen und so mehr Miete einzunehmen“. Der Schwachpunkt sei die Ausblendung des Brandschutzes. „Das ist – mal ganz abgesehen davon, dass da Menschen in dem Gebäude wohnen – auch aus Investorensicht eine harte Nuss.“
Ingrid Reuter ist Fraktionssprecherin der Grünen im Dortmunder Rat, sie bewertet die aktuelle Situation wie folgt: „Das Verhalten von Intown ist ein nachdrückliches Beispiel für den Umgang von Wohnraumspekulanten mit Wohneigentum. Dabei wurde diesmal sogar die Sicherheit der Menschen im Gebäude außer Acht gelassen.“
Der Sanierungsstau im Hannibal ist seit dem letzten Gutachten von vor acht Jahren nicht kleiner geworden, im Gegenteil. Dazu kommt der Brandschutz, dessen Wiederherstellung inoffiziell mit einem zweistelligen Millionenbetrag veranschlagt wird.
Man kann den Sanierungsbedarf auch anders berechnen. Für eine Kernsanierung werden bei alten Gebäuden 1000 bis 2000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche veranschlagt. Dann käme man bei 27 bis 54 Millionen raus. So oder so ist das eine enorm hohe Summe.
Wie es jetzt weitergeht mit dem Hannibal, hängt in allererster Linie von Intown ab. Ein Verkauf wäre möglich. Rein theoretisch kann der im Grundbuch eingetragene Besitzer, die Lütticher 49 Properties GmbH, Insolvenz anmelden. Die im Grundbuch eingetragene Grundschuld in Höhe von 17,6 Millionen Euro bei der Berlin Hyp, ist im Vergleich zu den erwartbaren Sanierungskosten billiger. Allerdings ist die als Gesamthaft für den Hannibal, das Wuppertaler Hochhaus sowie weitere Immobilien eingetragen. Sollte es zu einer Insolvenz kommen, würde ein Insolvenzverwalter für den Hannibal eingesetzt, es käme ein neues Gutachten, dann eine Versteigerung, dieser Prozess würde mehrere Jahre brauchen.
Eine aufwendige Sanierung durch Intown wäre auch eine Option, würde aber dem bisherigen Geschäftsgebaren der Gruppe komplett widersprechen. Mit Baugenehmigungen, Bau und Abnahmen würde das für den gesamten Komplex zwei Jahre dauern. Davon geht Intown selbst aus, auch die Stadt hält diesen Zeitraum für realistisch. Dann gäbe es noch eine weitere Möglichkeit: Der Hannibal II wird zum Horrorhaus II. Das erste Horrorhaus steht an der Kielstraße in Dortmund, ebenfalls ein Hochhaus, seit Jahren verlassen, ein langwieriger juristischer Prozess.
Der Hannibal würde bleiben, was er im Moment ist: eine sinnlose Hülle aus Beton. Die seit dreieinhalb Wochen leer und wo das Wasser in den Leitungen steht. Wenn dieser Zustand anhält, wächst die Gefahr von Legionellen. Wenn das Wasser abgeklemmt wird, dürfte das die alten Rohrsysteme stark beschädigen. Die Sanierungskosten würden weiter steigen.
Perspektive: Man weiß es nicht
Am Montag, bei der dritten Informationsveranstaltung der Stadt, der dritten ohne irgendeinen Vertreter von Intown, nannte die Stadt erstmals die zwei Jahre, die Intown ihr genannt hatte. Wie das jetzt alles weitergehen soll für die Menschen, die einst im Hannibal wohnten, bleibt offen. „Intown hat in den vergangenen sechs Jahren nichts für uns getan, warum sollten sie jetzt damit anfangen?“, fragt einer der Besucher der Info-Veranstaltung.
Eine berechtigte Frage, die nur Intown beantworten könnte. Auf mehrfache Anfragen unserer Redaktion reagierte das Unternehmen nicht. Spätestens in der kommenden Woche wird sich das Unternehmen aus der Deckung bewegen müssen: Die Stadt Dortmund will dann die Schlüssel zu den Hochhäusern, die sie am 21. September an sich genommen hatte, an Intown zurückgeben. Was heißt, dass ab dann das Unternehmen für die Mieter Ansprechpartner ist. Aus den städtischen Informationsveranstaltungen, die an den letzten drei Montagen in der Dasa stattfanden, sollen dann vierzehntägige städtische Info-Freitage werden.
Die Geschichte des Hannibals ist noch lange nicht zu Ende. Er wird die Stadt, die Gerichte und vor allen Dingen die Menschen, die in ihm lebten, noch über Jahre beschäftigen.