„Das sind letzte Warnungen“ Nach Schüssen in Dortmund – Eskaliert eine Rockerfehde?

„Das sind letzte Warnungen“: Eskaliert nach Schüssen eine Rockerfehde?
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Es ist eine Warnung, die am frühen Mittwochmorgen (15.1.) in Dortmund übermittelt wird: Mindestens fünf Schüsse durchschlagen im Zeitraum zwischen 6 und 7 Uhr die Schaufensterscheibe eines Tattoostudios an der Rheinischen Straße. Es ist nicht irgendein Studio, sondern einschlägig bekannt als ein Treffpunkt von Mitgliedern des Rocker-Milieus in Dortmund. Aber warum fielen die Schüsse? Antworten dazu könnten in der jüngeren Vergangenheit liegen.

Die Bandido-Stadt Dortmund ist vor wenigen Monaten zu einer Hells-Angels-Stadt geworden. Das Landeskriminalamt (LKA) in NRW geht davon aus, dass im September rund 150 Bandidos aus NRW zu den verfeindeten Hells Angels übergetreten seien. Über 20 Ortsvereine der Bandidos, „Chapter“ genannt, könnten die Seiten zu den rivalisierenden Hells Angels gewechselt haben. Darunter ist auch das Dortmunder Chapter.

In sozialen Netzwerken machten Dortmunder Mitglieder ihren Wechsel selbst öffentlich. Etwa 30 Personen könnten die Farben gewechselt haben, darunter führende, der Polizei bekannte Mitglieder wie der vorherige Bandidos Präsident in Dortmund. Hintergrund des Wechsels ist das Vereinsverbot der „Bandidos MC Federation West Central“, das damals rund 380 Mitglieder betraf.

Rocker: gestern Feind, morgen Freund

Wegen möglicher Vergeltungsmaßnahmen durch Bandidos, die nicht übergelaufen waren, schrieben Medien von einem drohenden Rockerkrieg. Sind die Schüsse auf das Dortmunder Tattoostudio also ein Indiz dafür, dass sich eine Gewaltspirale in Gang setzt? Wenige Tage zuvor war ein Wohnhaus in Unna-Massen beschossen worden.

Michael Ahlsdorf hält es jedenfalls für eine Möglichkeit, dass die Schüsse Wechselstreitigkeiten zugeordnet werden können. „Wechsel hinterlassen immer Ressentiments bei denen, die übrigbleiben“, sagt er.

Ahlsdorf kennt sich bestens aus in der deutschen Rocker-Szene. Über 15 Jahre lang war er Chefredakteur der „Bikers News“ und schrieb unter anderem das Buch „Auf heißem Stuhl im Rockerkrieg“.

So sahen die "Kutten" der "Bandidos Germany" aus.
So sahen die "Kutten" der "Bandidos Germany" aus. © picture alliance/dpa

Die Rocker-Szene ist grundsätzlich dynamisch. Wechsel zwischen verschiedenen Clubs hat es auch in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Welche Auswirkungen der aktuelle Wechsel auf die Szene hat, ist deshalb schwierig zu beurteilen. Vom LKA NRW heißt es: „Ein Wechsel dieses Umfangs ist bisher nicht vollzogen worden.“ Die Folgen ließen sich deshalb noch nicht abschließend überblicken.

Auch mit der Rivalität ist das in der Rocker-Szene so eine Sache: Die Clubs stehen über allem. Wer gestern noch Feind war, kann eine Woche später zum Freund werden. Genauso gut kann es aber auch in die andere Richtung kippen.

„Wechsel waren folgerichtig“

Ahlsdorf sagt, in der Szene komme es auch immer wieder zu persönlichen Konflikten, die gewaltsam ausgetragen werden. Ein solcher Fall könne auch hier vorliegen. „Ich halte es für unwahrscheinlich, dass es zu einem Rockerkrieg kommt, aber Nachbeben hat es in der Folge von Wechseln immer gegeben“ – auch zwischen Bandidos und Hells Angels. „Beide Gruppen sind nicht mehr die Erzfeinde, die sie einmal waren.“

Mit dem Vereinsverbot im Jahr 2021 waren die Bandidos in Dortmund nicht einfach verschwunden. Die ehemaligen Mitglieder hatten sich auch weiter als Bandidos verstanden und wurden auch von anderen in der Szene so wahrgenommen.

Als „schweren Aderlass“ bezeichnet Ahlsdorf das Verbot, das Ex-Bandidos Zusammenkünfte deutlich erschwert hat. „Da die Hells Angels nicht verboten sind, sind die Wechsel relativ folgerichtig. Sie müssen sich nun nicht mehr heimlich treffen. Mich wundert eher, dass der Wechsel nicht eher vollzogen worden ist“, sagt der Rocker-Experte.

Die neuen Hells Angels in Dortmund bekennen auf ihren Social-Media-Kanälen Farbe, zeigen sich in Kleidung der Hells Angels und präsentieren Patches mit der Aufschrift „Do City“ und dem Zahlencode „81“, die für den achten und den ersten Buchstaben im Alphabet stehen: HA – Hells Angels.

Michael Ahlsdorf als Redner auf einer Demonstration der Hells Angels vor dem Brandenburger Tor im Jahr 2019
Michael Ahlsdorf als Redner auf einer Demonstration der Hells Angels vor dem Brandenburger Tor im Jahr 2019 © Andreas Rilz

Polizei beobachtet Rocker-Szene

Mitglieder der Hells Angels hatte es in Dortmund zuvor nur vereinzelt gegeben, ein eigener Charter, wie es bei der Gruppierung heißt, existierte hingegen nicht. Das ändert sich nun. Doch zunächst erhält die neue Gruppe den Status eines „Prospect-Charters“, das heißt, es wird von überregionalen Akteuren der Hells Angels begleitet, beobachtet und moderiert.

Die neuen Ortsvereine der Rockerbande Hells Angels werden vom Innenministerium nicht als Nachfolgeorganisation der verbotenen Bandidos eingestuft. Gegenüber der WAZ sagte ein Sprecher, dass der Übertritt vieler ehemaliger Bandido-Mitglieder nicht automatisch dazu führe, dass es sich bei den lokalen Chartern der Hells Angels um eine Nachfolgeorganisation handle. Eine solche liege nur dann vor, „wenn die neue Vereinigung ein identischer ‚Klon‘ der verbotenen Vereinigung ist, insbesondere hinsichtlich der Mitglieder und der verfolgten Ziele.“

Die Polizei beobachtete die Entwicklungen in der Szene. Eine große Frage für die Ermittler dürfte dabei auch sein, wen der Wechsel noch nach Dortmund ziehen wird. Von ungefähr 50 organisierten Rockern geht man derzeit im Stadtgebiet aus. Hinzu kommt ein Supporterbereich von rund 100 Personen. Szene-Zuwächse sind nach dem Wechsel bislang nicht erkennbar.

Archiv: Feuerwehrleute entfernen 2021 unter Polizeischutz ein Schild am Vereinsheim der Rockergruppe «Bandidos» in Dortmund.
Archiv: Feuerwehrleute entfernen 2021 unter Polizeischutz ein Schild am Vereinsheim der Rockergruppe «Bandidos» in Dortmund. © Dieter Menne/dpa/Archivbild

„Natürlich beobachten wir die aktuellen Entwicklungen in der Dortmunder Rocker-Szene mit Argus-Augen. Wir kennen die Akteure. Wir haben sie im Blick. Wir lassen keine rechtsfreien Räume entstehen und schöpfen dafür alle Möglichkeiten aus, die uns der Rechtsstaat bietet“, sagt Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange.

„Schusswechsel sind nicht häufig“

„Wir haben eine dynamische Entwicklung in der Rocker-Szene“, ergänzt Polizeisprecher Kay Becker. Aktuell habe man aber keine Hinweise auf eine strukturelle Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Rockergruppen. Auch im aktuellen Fall von der Rheinischen Straße lägen diese bislang nicht vor. Man ermittle in alle Richtungen, heißt es von der Polizei.

Das LKA rechnet Angehörige der „Outlaw Motorcycle Gangs“ grundsätzlich dem Wirkungsbereich der Organisierten Kriminalität zu. Die Kriminologin und Psychologin Bettina Zietlow, die zu Sozialisation und Kriminalität in der Rocker-Szene geforscht hat, sagt aber auch, es gebe Akteure, die normalen Berufen nachgehen und mit kriminellen Machenschaften anderer Mitglieder nichts zu tun haben. Eine Einschätzung, die auch Ahlsdorf teilt. Es gebe Mitglieder, die einfach nur Motorrad fahren wollen.

„Um die Rockerszene ranken sich viele Mythen. Nicht jedes Mitglied ist vorbestraft oder kriminell“, sagt Zietlow „Die Annahme, man müsse jemanden töten oder verletzen, um in einem der Clubs aufgenommen zu werden, ist wohl auch mehr Mythos als Realität.“

„Es gab immer Auseinandersetzungen in der Szene. In den vergangenen Jahren ist es aber eher ruhig geworden“, sagt Zietlow. „Schusswechsel sind nicht häufig und resultieren nicht immer aus Clubrivalitäten. Mitunter stehen dahinter individuelle Motive.“ Die Rocker-Clubs würden darauf achten, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Man möchte ja nicht permanent die Polizei bei sich im Clubhaus haben.“

Miri-Clan versus Rocker

Trotzdem kommt es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen, die das Gewaltpotenzial der Dortmunder Rocker-Szene zeigen. 2019 wurde einem Bandido in Dortmund von einem Mitglied des Miri-Clans ins Knie geschossen – offenbar eine Vergeltungsaktion, weil der Rocker den Bruder des Clanmitglieds zuvor mit einem Messer schwerverletzt hatte.

2021 attackierten 20 bis 30 teils vermummte Personen aus dem Umfeld des Miri-Clans das Tattoostudio an der Rheinischen Straße, das nun erneut Schauplatz von Gewalt geworden ist.

In der Dortmunder Nordstadt kam es am 27.6. zu einer Schießerei.
In der Dortmunder Nordstadt kam es am 27.6. zu einer Schießerei. © Pohl

Im Sommer 2024 war ein zu den Hells Angels übergelaufener Bandido vor einem Fitnessstudio in der Nordstadt schwerverletzt worden, als ein Täter fünf Schüsse auf ihn abgab. Auch dort hat die Staatsanwaltschaft keine konkreten Hinweise darauf gefunden, dass die Schussabgaben „ihre Ursache in einer etwaigen Verbindung des Geschädigten zum Rockermilieu haben“. Ein Tatverdächtiger sei noch nicht ermittelt worden. Kriminelle Machenschaften von Rockern stehen nicht immer im Kontext zum Club.

Rocker in Dortmund sind unter anderem im Rotlichtmilieu aktiv. Sie betreiben aber auch legale Geschäfte wie das Tattoostudio an der Rheinischen Straße. Außerdem fungieren sie als Türsteher von Clubs und Kneipen. „In den Partymilieus, den Kneipen und Clubs wird der Drogenhandel nicht selten von demjenigen kontrolliert, der auch ,die Tür‘ kontrolliert. Das lässt sich über ein Security-Unternehmen machen“, sagt Zietlow. Klassisches Betätigungsfeld von Rockern sei zudem der Drogenhandel.

Im Drogenhandel in Dortmund sind hingegen eher andere Akteure aktiv, heißt es aus Polizeikreisen. Die Aufzählungen machen deutlich: Im Rockermilieu gibt es Überschneidungen zu verschiedenen Bereichen – kriminellen und legalen. Das macht es den Behörden schwer, durchgängig kriminelle Strukturen nachzuweisen. Auch, weil die Polizei über manche Straftaten keine Kenntnis erlangt.

„Über Schutzgelderpressung ist fast nichts bekannt – zu keiner Tätergruppe. Betroffene äußern sich aus Angst nur äußerst selten“, sagt die Kriminologin Bettina Zietlow.

Jedes Club-Mitglied hat „Zugang zu Waffen“

„Das Gewaltpotenzial in der Szene ist hoch“, sagt der Journalist und Waffensachverständige Lars Winkelsdorf. Er erstellt forensische Gutachten zu Waffen und Munition und hat dabei auch immer wieder mit Verfahren im Rockermilieu zu tun.

Bei den Outlaw Motorcycle Clubs, die der organisierten Kriminalität zugerechnet werden, gebe es eine hohe Bewaffnung. Dazu gehörten auch Kriegswaffen wie Maschinen- und Sturmgewehre. „Für Rocker ist es so leicht, eine illegale Waffe zu beschaffen, wie für den Normalbürger eine Tüte Milch zu kaufen“, sagt Winkelsdorf allgemein über die Szene in Deutschland.

Auch der Rocker-Experte Michael Ahlsdorf bestätigt, dass praktisch bei jedem Mitglied eines Clubs „der Zugang zu Waffen gegeben“ sei.

Der Waffensachverständige und Journalist Lars Winkelsdorf bei einer Anhörung im Bundestag.
Der Waffensachverständige und Journalist Lars Winkelsdorf bei einer Anhörung im Bundestag. © privat

Lars Winkelsdorf sagt, Waffenhandel würde im großen Stil betrieben, er habe schon Lkw-Ladungen voll mit Waffen gesehen.

„Das sind letzte Warnungen“

Über die Schüsse auf Gebäude wie das Tattoostudio sagt Winkelsdorf: „Das sind letzte Warnungen.“ Es müsse sich dabei aber nicht, um die große Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen handeln. „Es kann auch schon reichen, dass man mit der falschen Frau geschlafen hat.“

Diese Konflikte blieben im Normalfall in der Szene. Aber es bestehe die Gefahr, dass auch Unbeteiligte verletzt werden, gerade wenn Waffen großen Kalibers eingesetzt würden. „Die Durchschlagsleistung dieser Waffen ist so hoch, dass man teilweise auch hinter einer Wand nicht sicher ist“, sagt Winkelsdorf.

Eine Sorge, die auch Anwohner im Umfeld der Rocker haben. „Die Menschen, die hier leben, haben damit nichts zu tun. Aber es kann schnell passieren, dass Unbeteiligte in so etwas mit hineingezogen werden, wenn Gebäude beschossen werden“, sagte ein Anwohner am Mittwoch im Umfeld des Tattoostudios. Er macht sich Sorgen um seine Kinder und fordert von den Behörden, dass sie durchgreifen.

Hinweise auf einen Täter liegen der Polizei bislang aber nicht vor. „Die Spuren wurden kriminaltechnisch gesichert. Die Fachdienststelle hat die Ermittlungen aufgenommen“, heißt es.

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Polizei sucht Zeugen nach Schüssen

Die Polizei Dortmund bittet im Fall der Schüsse auf das Tattoostudio an der Rheinischen Straße/Siemensstraße um Zeugenhinweise und fragt: Wer hat am 15.1. im Zeitraum zwischen 6 und 7 Uhr etwas Verdächtiges bemerkt? Wer kann sachdienliche Angaben machen?

Zeugen werden gebeten, sich an die Kriminalwache des Polizeipräsidiums Dortmund unter der Telefonnummer 0231/132 7441 zu wenden.