Polizeiforscher kritisiert Reul im Fall Mouhamed „Was kann ich der Polizei noch glauben?“

Polizeiforscher kritisiert Reul im Fall Mouhamed D.
Lesezeit

Im Fall des am 8. August bei einem Polizeieinsatz getöteten Mouhamed D. sind zuletzt neue Erkenntnisse bekannt geworden. Unter anderem, dass bei einer toxikologischen Untersuchung weder Drogen noch Alkohol im Blut des 16-Jährigen nachgewiesen werden konnten. Zu dieser neuen Erkenntnis hat sich auch der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes gegenüber dem WDR geäußert.

Gehe man davon aus, dass der Junge nach dem Beschuss durch den Taser Schmerzen hatte und sich gekrümmt habe und nicht mehr in der Lage war, eine Person anzugreifen, könne man auf keinen Fall mehr von einer Notwehrlage sprechen, sagte Feltes gegenüber dem Sender. Feltes geht davon aus, dass es dann eine Schmerzreaktion gegeben haben muss, „die nicht als Angriff interpretiert werden kann“.

16-Jähriger hatte wohl Schmerzen

Ermittler nehmen nach Informationen der Deutschen Presseagentur an, dass sich Mouhamed D. vor Schmerzen zumindest gekrümmt haben müsse, da er nicht betäubt gewesen war.

In einem Bericht an den Landtag aus dem September hatte es geheißen, dass beim zweiten Taserschuss beide Pfeile in den Körper getroffen hatten, allerdings zu nah zueinander. Der Jugendliche habe offenbar Schmerzen verspürt, sei aber nicht bewegungsunfähig geworden.

Im selben Bericht war den Abgeordneten auch mitgeteilt worden, dass gegen den Polizisten, der auf den 16-Jährigen geschossen hat, wegen Totschlags ermittelt werde.

Nach neuen Details im Fall Mouhamed D. hält der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes sogar eine Mordanklage für denkbar.
Nach neuen Details im Fall Mouhamed D. hält der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes sogar eine Mordanklage für denkbar. © picture alliance/dpa

Mordanklage? Behr widerspricht

Thomas Feltes greift das nun noch einmal auf. Wenn man unterstelle, dass der Junge nicht mehr zu einem Angriff fähig war, würde das aus seiner Sicht eine Totschlag- oder Mordanklage nach sich ziehen.

Eine Mordanklage kommt aus Sicht des Polizeiwissenschaftlers Rafael Behr, der an der Akademie der Polizei Hamburg lehrt, nicht in Frage. Niedere Beweggründe, die für den Tatbestand Mord ausschlaggebend sind, sieht er nicht als gegeben, sagt er im Gespräch mit dieser Redaktion.

Viel ist noch unklar

Zu unklar seien weiterhin die zeitlichen Abläufe des Einsatzes, etwa auch die Frage, wann die Schüsse gefallen sind. „Noch ist nicht bekannt, ob eine Wirkung des Teasers überhaupt abgewartet worden ist, oder ob es eine gewisse Gleichzeitigkeit der Ereignisse gab“, sagt Behr. „Sollte der Jugendliche aber nicht mehr handlungsfähig gewesen sein, scheidet Notwehr als Grund für die Schüsse auf jeden Fall aus.“

Dass der Taser bei Mouhamed D. nicht gewirkt haben könnte, kann für Behr aber auch andere Gründe haben. Etwa, dass der Jugendliche einen psychotischen Schub gehabt haben könnte und deshalb in diesem Moment schmerzunempfindlich war. Die Erkenntnisse aus dem toxikologischen Befund sind für Behr deshalb nicht die entscheidenden. „Der Handlungsablauf war mit oder ohne Drogen unkalkulierbar“, sagt der Polizeiforscher.

Gift für die Polizei

Viel entscheidender ist für ihn die polizeiliche Kommunikation. „Es ist Gift für eine demokratisch legitimierte Polizei, wenn erst nach und nach Informationen zu einem solchen Fall raussickern, die ein anderes Bild der Abläufe zeigen, als vorher mitgeteilt – ohne dass die Polizei das von sich aus korrigiere“, sagt Behr. Zwangsläufig würde durch dieses Vorgehen die Frage aufkommen: „Was kann ich der Polizei noch glauben?“

Auch Innenminister Herbert Reul habe dazu beigetragen, als er sich zwei Tage nach dem Einsatz gegenüber dem WDR äußerte, findet Raphael Behr. Auf Grundlage des Polizeiberichts hatte Reul damals im WDR über Mouhamed D. gesagt: „Und derjenige ist immer aufgeregter, ich sag‘ mal angespannter, aggressiver auf die Polizisten zugerannt. Und in dieser Situation ging es um die Frage: Sticht der zu – oder schießt die Polizei?“

Kritik an Reul

Ob und wie der 16-Jährige auf Polizeibeamte zugerannt ist, ist allerdings noch immer Gegenstand der Ermittlungen. Auch im Innenausschuss sind dazu am Donnerstag keine weiteren Erkenntnisse geteilt worden. Allerdings gab es dort ebenfalls Kritik an der Darstellung Reuls vom 10. August.

„Das war ein Beitrag aus der Kategorie ‚Vorschnelle Beurteilung‘ auf Grundlage des polizeilichen Berichts“, erklärte Reul sich und sagte: Er habe sich ja zum Fall äußern müssen. Wenn er nichts gesagt hätte, wäre ihm das ebenfalls negativ ausgelegt worden. „Wie man es macht, macht man es falsch.“

Rafael Behr will das dem Innenminister so nicht durchgehen lassen. „Zwischen Nichts-Sagen und dem Sagen, was Reul gesagt hat, gibt es eine Menge Unterschiede“, sagt der Polizeiwissenschaftler. „Er hätte sagen können, was man bislang wisse und dass man weiter prüfen müsse, aber stattdessen hat er die Version der Polizeibeamten vor Ort übernommen.“

Druck durch eigene Beamte

Das liege auch daran, dass der Innenminister unter dem Druck der eigenen Polizeibeamten stehe. Dabei müsse Reul auch Kritiker sein und dürfe nicht die am Einsatz beteiligten Beamten zu objektiven Zeugen machen, findet Behr. „Es ist klar, dass von den eingesetzten Beamten zunächst eine subjektive Darstellung geteilt wird, bei der sich erst mal niemand selbst ans Messer liefern wird.“

„Es wäre alles nicht so schlimm gewesen, wenn man nachher kommuniziert hätte, dass man sich geirrt hat“, sagt Behr. Dass das nicht geschehe, unterminiere das Vertrauen in die Polizei. „Dafür braucht es wieder den Staatsanwalt.“

Für den Polizeiwissenschaftler ist es schon ein Skandal für sich, dass so unterschiedlich mit Informationen umgegangen werde. „Während neue Details zum Fall nur häppchenweise übermittelt werden, wurde auch vom Innenminister sofort das Bild der Polizei übernommen“, sagt Behr.

Neues Gutachten zu Tod von Mouhamed D. durchgesickert: Ergebnis entkräftet eine Theorie

Innenminister zu tödlichen Polizeischüssen: „Das wird 100-prozentig aufgeklärt“

„Da läuft etwas aus dem Ruder“: SPD greift Reul nach tödlichen Einsätzen in Dortmund an

Ermittlungen im Fall Mouhamed D.: Alle Schüsse aus einer Waffe

Randale, Bedrohung, Streit – so oft setzt die Dortmunder Polizei den Taser ein

Polizei und psychisch Kranke: Hat sich seit Mouhamed D. etwas verändert?