
© Felix Guth
Obdachlos und drogensüchtig: Wie Martin (48) den Neustart schaffen will
Wohnungslosigkeit
„Housing first“ ist für Menschen ein Weg aus Wohnungslosigkeit und Sucht. Sie bekommen eine Wohnung und sind dabei nicht allein. Sie können wieder bei null anfangen - so wie Martin (48).
Seit dem 1. August setzt das Soziale Zentrum Dortmund auf das Konzept „Housing First“, das in den 00er-Jahren in den USA entstand. Im bestehenden System müssen die Menschen in einem stufenweisen Verfahren ihre Wohnfähigkeit nachweisen. „Sie müssen sich erst bewähren“, sagt Wolfram Schulte, Fachbereichsleiter in der Drogenberatung Drobs, die zum Sozialen Zentrum am Schwanenwall gehört.
„Housing first“ setze auf den umgekehrten Ansatz: Die Menschen erhalten voraussetzungslos eine Wohnung. Und haben für die vielen Fragen, die sich daran anschließen, feste Ansprechpartner im Sozialen Zentrum.
Das erlebt ein ehemaliger Wohnungsloser nach dem Umzug
Martin K. ist der erste Mieter einer Wohnung, die der Verein in einem Mehrfamilienhaus gekauft hat. Der 48-Jährige bezeichnet den Einzug als „neue Chance für mich, von null anzufangen“. Er habe ein „Lotterleben“ geführt. „Ich habe es mir auch anders vorgestellt“, sagt er.
Über 30 Jahre pendelte er zwischen einem Leben auf der Straße und Episoden mit fester Wohnung - und verfiel den Drogen. Nach einer 17-monatigen Haft landete er vor zwei Jahren endgültig auf der Straße.
„Ich war die meiste Zeit in der Männerübernachtungsstelle an der Unionstraße. Aber immer ein Zimmer mit fünf Leuten zu teilen, die man nicht kennt, ist schwierig“, sagt Martin K.
Als Obdachloser eine Wohnung zu finden, habe er häufig versucht. „Aber es war unmöglich.“ Sobald Vermietern klar geworden sei, dass er eine Zeit lang ohne festen Wohnsitz war, seien die Wohnungen „plötzlich schon vergeben“ gewesen.
Martin K. äußert Dankbarkeit dafür, dass er mit 48 noch einmal neu anfangen darf. Er strahlt bei einem Gespräch im Drobs echte Überzeugung aus, wenn er sagt: „Ich möchte den Ausstieg aus der Szene schaffen und neue soziale Kontakte knüpfen.“ Martin K. substituiert seine Drogenabhängigkeit zurzeit über verschriebene Ersatzstoffe.
Langeweile birgt ein großes Rückfallrisiko
Er weiß, dass der Weg in drogenfreies und strukturiertes Leben beschwerlich sein kann. Das Risikoszenario zeichnet er so: „Nach drei Tagen zuhause fällt einem die Decke auf den Kopf, und dann zieht es einen in die Szene zurück. Man kennt viele Leute, trifft sich in der Stadt. In solchen Situationen nur Hallo zu sagen und dann weiterzugehen, ist schwierig.“ Die Langeweile ist eine der größten Gefahren.
Eine Stütze auf dem langen Weg ist Alina Bracht, Sozialarbeiterin im Drobs. „Wir kümmern uns gemeinsam um alles, was nach dem Einzug notwendig wird, von der Einrichtung, über die Gesundheitsversorgung bis zum Umgang mit Ämtern und Behörden“, sagt sie. „Ich blicke dabei auch in Lebensbereiche, die sehr persönlich sind.“
Zwischen Martin K. und Alina Bracht scheint die dafür erforderliche Vertrauensbasis hergestellt. Sie duzen sich, als sie über die nächsten Termine im Sozialamt und die weitere Hilfeplanung sprechen. „Alina gibt mir Unterstützung. Denn manche Wege traue ich mich nicht“, sagt der Dortmunder. Die Wohnung hat K. eingerichtet, „es fehlt nur noch etwas Zierde“. Sein nächstes Ziel ist es, eine Arbeitsstelle zu finden, um den Tag wieder mehr zu strukturieren.
Wo genau die neue Wohnung von Martin K. ist, soll nicht bekannt werden, um den 48-Jährigen einen Neuanfang frei von Vorbehalten zu ermöglichen. Drobs wird in Kürze eine zweite Wohnung vermieten. Für eine dritte befinde man sich in guten Gesprächen mit einem Vermieter, wie Wolfram Schulte von Drobs berichtet.
Fonds für Wohnungskauf wird durch den Verkauf von Kunst finanziert
Der Ankauf der Wohnungen durch die in der Regel nicht besonders solventen sozialen Vereine wird über den sogenannten „Housing First Fonds“ ermöglicht. Der Fonds füllt sich durch den Verkauf von Kunst. Aktuell hat der Maler Gerhard Richter, einer der teuersten lebenden Künstler, drei Sets mit je sechs Motiven seiner „Cage“-Reihe zur Verfügung gestellt. Deren Verkaufserlös geht direkt in den Fonds. Der Paritätische Wohlfahrtsverband und das Land NRW unterstützen das Projekt.
In Düsseldorf praktiziert die Organisation „fifty-fifty“ schon seit 2015 den „Housing-First“-Ansatz. Dort haben auf diesem Weg schon 60 rund ehemals wohnungslose Personen wieder eine feste Unterkunft gefunden. Wolfram Schulte sagt: „Es tritt kein Drehtür-Effekt ein. Die Menschen bleiben oft langfristig in den Wohnungen.“
Er sieht einen enormen Bedarf angesichts der steigenden Zahl an Wohnungslosen. Dieser lässt sich im Sozialen Zentrum an einer Zahl ablesen. 2010 hatten 89 Personen hier am Schwanenwall eine Postanschrift hinterlegt. Heute sind es laut Wolfram Schulte mehr als 500. „Doch der Markt an Wohnungen ist sehr dünn“, sagt er.
Das macht die Stadt Dortmund gegen Wohnungslosigkeit
- „Housing First“ ist eines von mehreren Konzepten gegen Wohnungslosigkeit in Dortmund.
- 292 Menschen sind derzeit über das städtische Wohnraumvorhalteprogramm untergebracht.
- Anfang 2019 wurde die Männerübernachtungsstelle an der Unionstraße neu strukturiert. Sie hat jetzt 70 Schlafplätze.
- Eine neue Frauenübernachtungsstelle mit 50 Plätzen soll im ersten Quartal 2020 an der Nortkirchenstraße in Hörde öffnen.
- Es gibt mehrere weitere Anlaufstellen für Wohnungslose, etwa das Gast-Haus oder den Brückentreff.
Seit 2010 Redakteur in Dortmund, davor im Sport- und Nachrichtengeschäft im gesamten Ruhrgebiet aktiv, Studienabschluss an der Ruhr-Universität Bochum. Ohne Ressortgrenzen immer auf der Suche nach den großen und kleinen Dingen, die Dortmund zu der Stadt machen, die sie ist.
