Zahl der Obdachlosen und Wohnungslosen in Dortmund höher als gedacht

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Zahl der Obdachlosen und Wohnungslosen in Dortmund höher als gedacht

rnForschungsbericht

Wie viele Obdachlose es in Dortmund gibt, darüber wird lange gestritten. 400, sagt die Stadt. Mehr, sagen Kritiker. Die FH Dortmund hat jetzt nachgezählt. Die Stadt spricht von Irreführung.

Dortmund

, 05.06.2019, 04:30 Uhr / Lesedauer: 2 min

Es war der 20. Mai 2019, als 80 Studenten der Sozialen Arbeit der Fachhochschule Dortmund einen ganzen Tag lang obdach- und wohnungslose Menschen in der Stadt zählten und interviewten. „Aktionsforschungstag“ hieß das, Doppelzählungen wurden durch Nachfragen vermieden und am Ende stand da die Zahl 606. So viele Menschen wurden als obdach- oder wohnungslos identifiziert. Auf weitere 203 Personen, die akut von Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit bedroht sind, trafen die Studenten zusätzlich. Und auf eine unklare Anzahl von Menschen, die über ihre Situation weder sprechen konnten noch wollten.

Unterschied zwischen Obdach- und Wohnungslosen

Die Stadt ihrerseits hatte die Zahl der Obdachlosen in Dortmund bisher mit 350 bis 400 angegeben. Also verschickte die Fachhochschule am Dienstagmittag eine Pressemitteilung mit der Überschrift: „Mehr Obdach- und Wohnungslose in Dortmund als bislang bekannt“. Die Kritik, die man hier anbringen könnte, ist: Obdachlose sind keine Wohnungslosen. Während Obdachlose überhaupt kein Obdach haben und irgendwo auf der Straße übernachten, haben Wohnungslose zwar keine Wohnung. Sie übernachten aber in Notschlafstellen, bei Freunden oder Bekannten. Prof. Dierk Borstel von der FH will diese Kritik aber nicht gelten lassen: „Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit bekommt man in der Theorie klar getrennt. In der Praxis aber gibt es ganz viele Übergänge und Graubereiche, die eine Unterscheidung sehr schwer machen.“

Kritik an der städtischen Zahl ist alt

Bereits in der Vergangenheit hatten Helfer die Zahl von 400 Obdachlosen, die die Stadt angab, als deutlich zu gering kritisiert. Eher 800 seien es, sagte etwa der ehemalige Obdachlosenseelsorger Daniel Schwarzmann. Katrin Lauterborn, die das Gasthaus an der Rheinischen Straße leitet, antwortet auf die Frage, wie viele Obdachlose es in Dortmund gibt, nicht mit einer Zahl sondern mit einem Wort: „Viele.“ Genau beziffern kann sie sie nicht. Was sie beziffern kann, ist die Zahl der Mahlzeiten, die das Gasthaus als ehrenamtliche Initiative 2018 an Bedürftige ausgegeben hat: 122.000. Und damit etwa zehn Prozent mehr als 2017.

„Toll, dass das gemacht worden ist“

Bastian Pütter von der Obdachlosenzeitung Bodo findet die Zählung der Fachhochschule „hochspannend“. Zum ersten Mal würden viele Leute erfasst, die bei der Stadt gar nicht als wohnungslos gemeldet sind. Denn auch bei Bodo e.V. „kennen wir viele Menschen, die in keiner Statistik auftauchen. Wir wissen aber nicht, wie viele das sind.“ Pütter kennt auch das Phänomen, auf das die Studenten bei ihrer Zählung stießen: Längst nicht jede oder jeder Betroffene möchte über seine Situation sprechen. Insofern sieht Pütter auch in dieser Zählung ein großes Dunkelfeld. Nichtsdestotrotz sei es „toll, dass das gemacht worden ist.“ Viel mehr als eine Zahl interessieren ihn die Interviews, die während der Zählung ebenfalls entstanden sind, deren Auswertung und Ergebnisse.

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Da geht es Borstel ähnlich: Jetzt gebe es einen „Riesensack an Daten, der aufgearbeitet werden muss“. Wenn alles so läuft, wie es sich der Professor und seine beiden Lehrbeauftragten, Stephanie Szczepanek und Tim Sonnenberg, vorstellen, könnte aus der Zählung ein belastbarer Forschungsbericht im Herbst oder Winter 2019 entstanden sein. Borstel: „Sehr viele Betroffene waren sich in den Gesprächen einig: Die bestehenden Hilfestrukturen reichen trotz der enormen Anstrengungen vor allem der freien Träger nicht aus. Da muss die Stadt jetzt dringend nachlegen.“ Die Stadt Dortmund ihrerseits nannte am Dienstag auf Nachfrage die Aussage der FH „irreführend“. Sollten sich aber „aus der Befragungsaktion durch die Studierenden tatsächlich neue Aspekte ergeben haben, würden diese - wenn sie uns zur Kenntnis gegeben würden - selbstverständlich betrachtet.“

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