
© Tobias Großekemper
Mordfall Nicole Schalla: „Ein Superkind war sie. Sie hat viel gelacht.“
Mordprozess
Vor 28 Jahren starb in Dortmund ein Mädchen. Der mutmaßliche Mörder wurde 2018 gefasst. Beim Prozess, waren die Eltern des Mädchens immer dabei. Was macht das alles mit ihnen?
Wie sie war?
„Ein Superkind“, sagt Joachim Schalla. Mit Betonung auf dem „super“.
„Fröhlich war sie“, sagt Sigrid Schalla. „Sie hat viel gelacht.“
Angenehm sei sie gewesen. Keine Zicke oder so. „Wir sind ja auch ganz normale Eltern. Nicht hochtrabend. Sie war unsere Erstgeborene“, sagt er.
„Die sind ja immer was Besonderes“, sagt sie. Und weiter: „Wir haben uns aber auch sehr bemüht, Kinder zu bekommen.“
Die Mühe bekam 1977 einen Namen: Nicole Denise Schalla, Rufname Nici, geboren am 7. März.
Es war am Anfang im Erdgeschoss des alten Zechenhauses im Stadtteil Rahm. Die Großmutter wohnte oben, hatte lebenslanges Wohnrecht. Den Anbau, wo heute die Wellensittiche tschilpen, den gab es damals noch nicht. Der kam erst 1980 dazu. Selbst gebaut. 1981 kam Janina, die zweite Tochter zur Welt, da war alles fertig. In drei Zimmern haben sie gelebt, im Schlafzimmer haben alle gegessen.
Privatsphäre als Eltern?
„Muss man dann mal streichen.“ Sagt sie.
„Haben wir da gar nicht gebraucht.“ Sagt er.
„Das isses“, fanden sie beide
Eng war es auch im Urlaub. Den Wohnwagen ans Auto und ab nach Holland, nach Renesse. 1985 waren sie zum ersten Mal dort. „Das isses“, fanden sie beide. Seitdem fahren sie da hin. Auf diesen Campingplatz. Drei, dreieinhalb Stunden dauert die Fahrt. Eine übersichtliche Strecke. Wenn es mal lange dauert, fahren sie vier Stunden. Dann sind sie da. Sie hatten genau so einen Platz gesucht, als die Kinder klein waren. Alles sehr sauber. Feste Toiletten. Ohne diese Westerntüren, die es früher häufig in den Niederlanden gab. Alles frisch gebaut und frisch gefliest, dazu ein Katzensprung an den Strand. Und die Superluft für die Kinder.
Alle Ferien waren sie da, sechs Wochen im Sommer, zwei Wochen Ostern. Der Vater fuhr dann montags von da aus zur Arbeit und am Freitag wieder hin.
„Zu uns“, sagt sie.
„Ist eine zweite Heimat geworden“, sagt er.
Nach all den Jahren kennt man sich. Schließt Freundschaften. Da freut man sich jedes Mal drauf. Immer im März geht die Saison los, Ende Oktober endet sie. In Renesse gab es auch einen Reitstall, gibt es heute noch, da lernten die Mädchen das Reiten und die Liebe zu Pferden kennen. In Bövinghausen hatte Nici dann später zwei Pflegepferde. Und Sportschützin war sie dann irgendwann auch. Ein paar Pokale gibt es noch aus dieser Zeit, und ihr Berufswunsch war dann bald klar: Berittene Polizei. Da konnte man das verbinden. „Dabei war sie gar kein ruppiger Typ“, sagt sie. „Sehr verlässlich“, sagt er.
Zunächst war die Rede von einem Unfall
Am 15. Oktober 1993 war die Saison in Holland fast zu Ende. Da klingelte morgens auf dem Campingplatz in Renesse ein Festnetztelefon. Der Platzbetreiber ging ran und dann zum Wohnwagen der Schallas. Er sagte ihnen, sie sollten in Dortmund anrufen. Nici war in diesem Urlaub zum ersten Mal alleine Zuhaus‘ geblieben, sagt die Mutter. Da mache ich mir immer noch Vorwürfe, sagt der Vater. Aber die Oma war ja auch da. Und damit die Sicherheit.
„Aber die Sicherheit war nicht sicher genug. Aber da rechnet ja keiner mit.“ Sagt er. „Und im folgenden März wäre sie auch 17 geworden.“ Sagt sie.
Wurde sie nicht. Sie war tot. Und kein Unfall, wie es damals gegenüber dem Platzbetreiber hieß. Sie war umgebracht worden. Irgendwann gegen 23 Uhr am Vorabend, als sie aus einem Bus gestiegen und ihr Mörder ihr gefolgt war. Hören konnte sie ihn nicht, sie hatte einen Walkman auf. Am nächsten Morgen fand man sie in einer Einfahrt. Nass geregnet. Die Batterien des Walkman waren leer.
Zu begreifen gab es damals für die Eltern nichts. Wie soll das gehen, so etwas zu verstehen? An alles können sie sich erinnern und waren doch in einem Tunnel. Die Sachen wurden gepackt, Bekannte hatten noch gesagt, komm, wir fahren euch. Aber Joachim Schalla ist dann selbst gefahren. Die dreieinhalb Stunden zurück. Menschliche Automatikschaltung: „Gesagt, getan, jetzt müssen wir Auto fahren.“
Tränen am Küchentisch. Auch heute noch.
„Wenn dir das zu hart ist, geh doch ins Schlafzimmer“, sagt er.
„Jaja“, sagt sie. Nimmt ein Taschentuch aus einer Schublade und bleibt.
„Ist alles ein bisschen viel“
Dann, in Dortmund, war das Haus in Rahm voll. Kriminalpolizei, Spurensuche, Befragung. Uwe, der Freund, ein Hobbyboxer aus Herne, die ganzen anderen Freunde. „Wenn die den Täter damals gefunden hätten, gäbe es heute keinen Prozess“, glaubt der Vater. Sie fanden ihn nicht.
Eigentlich müsste man in so einem Moment verrückt werden und das Leben stillstehen. Aber es gab ja noch Janina und die Pflegetochter und damit die Verantwortung, die man dann tragen musste. Weitermachen, immer weiter. „Aber irgendwie waren wir damals auch nicht richtig in der Welt.“ Sagt sie.
Presse vor der Tür, TV-Kameras und der Boulevard. Und 1994, im April, die eigene Tochter als Fall bei Eduard Zimmermanns „Aktenzeichen XY ungelöst“. Das brachte aber auch keinen Hinweis. So wie es nie einen gab, zumindest keinen brauchbaren.
Todesanzeigen haben die Schallas auch lange geschaltet. Immer zum Todestag, viele Jahre lang. Oben stand dann: „Man ist erst wirklich tot, wenn man vergessen wird. Wir werden dich nie vergessen.“
Dann ihr Name, ihr Geburts- und Todesdatum.
Und darunter dann: „Leben ist Liebe. Lebenswert wird das Leben durch die Menschen, die wir lieben – wer das zerstört, erntet Hass! Wenn der Sand des Lebens zerrinnt, steht ein jeder vor seinem Richter. Die Rache ist sein.“
Die Todesanzeigen erschienen dann nicht mehr, als die jüngere Tochter Janina an Krebs erkrankte. Sie starb 2015. Da rückte das mehr in den Vordergrund.
„Ist alles ein bisschen viel.“ Sagt er heute. Sagt „ist“ und nicht „war“. Und dann noch, dass am 1. Mai der Todestag der Zweitgeborenen war.
Zwei Männer, ein Fall, ein Versprechen und ein Wunsch
2000 kam ein neuer Polizist als Mordkommissionsleiter dazu, sein Name ist Uwe Block. Er stellte sich den Schallas vor und versprach, er würde nicht eher in Rente gehen, bis der Fall geklärt sei. Der Vater sagte damals, er würde so lange leben wollen, bis der Täter gefasst sei. Zwei Männer, ein Fall, ein Versprechen und ein Wunsch.
Block kam dann ab und an vorbei, meistens, wenn er in der Gegend zu tun hatte, einmal oder auch zweimal im Jahr. Berichtete, was geschehen war. Meistens wenig, aber immer irgendwas. Kleinteile, die eingeschickt worden waren. „Ich lasse auf den Block nichts kommen“, sagt Vater Schalla. Auch wenn der Angeklagte im Moment versuche, die Arbeit der Polizei zu diskreditieren.
Aber jetzt sind wir schon im Prozess, vorher war noch etwas. Ein Tag im Juni 2018, der 27., ein Mittwoch. Die Sonne schien und es schellte an der Tür. Herr Block und Herr Krüger, ein weiterer Beamter, standen da. Die Eltern dachten, die kommen auf einen Kaffee vorbei. Sie saßen draußen auf der Terrasse, und einer der Beamten sagte: „Wir haben einen Treffer“. Abends wollten sie sich noch einmal melden, da noch eine Gegenprüfung lief. Auch sie war positiv. Eine Hautschuppe, die auf dem Körper des Mädchens gefunden worden war, stimmte mit der DNA des Angeklagten überein. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, sagte der Staatsanwalt einen Tag später auf einer Pressekonferenz, dass die Hautschuppe von dem Verhafteten stammt. Und nannte dann noch eine Zahl zur Wahrscheinlichkeit: 10 hoch 27.
Als der Hoffnung entsprochen wurde, geschah nichts
„Da war bei uns … nichts.“ Sagt Sigrid Schalla. Kein Freude, keine Aufregung, gar nichts. Einfach nur Leere. „Man hat das immer gehofft“, sagt Joachim Schalla. Immer wieder Hoffnung. Und als dann nach 25 Jahren zwei Beamte kommen und der Hoffnung entsprechen, da passierte – nichts. Mindestens zwei bis drei Tage habe er gebraucht, um das zu realisieren.
Jetzt also die Verhandlung. Drei Verhandlungstage waren angesetzt, zwanzig sind mittlerweile gelaufen, vielleicht endet das alles im Juni. Der mutmaßliche Täter streitet alles ab, es gibt Anträge wegen diesem und jenem. Auch ein neues Gutachten, das den Mann, 52 Jahre alt, aus Castrop stammend und in Münster festgenommen, noch mehr belastete. Die Eltern sind Nebenkläger und sitzen jede Minute dabei.
Schwer ist das, sagt der Vater - aber notwendig
Schwer ist das, sagt der Vater. Aber notwendig. Impulsiv sei er. Und da dann ruhig zu bleiben, ist nicht einfach. Jetzt fixiert er ihn nur noch mit den Augen.
Wie das Urteil dann ausfallen wird, wird man sehen. Ob das alles hilft, die Gewissheit, der Prozess, das Wiederhochholen? Wissen wir nicht, sagt er. Mir ja, sagt sie. Wünscht sich, dass der Mann sehr lange verurteilt wird. 25 Jahre habe er sich in Sicherheit gewogen, habe sein Leben gelebt, wie er es wollte. Und jetzt sei er da herausgerissen worden. Wichtig sei es, dass er erwischt wurde. Und vielleicht sogar besser, dass das jetzt erst geschehen sei. Der Mann, der jetzt angeklagt ist, war bereits sicherungsverwahrt. Stand danach unter Führungsaufsicht. Und sollte er jetzt also verurteilt werden, dann wäre das für sehr lange Zeit. Wäre er damals gefasst und verurteilt worden, wäre er jetzt wohl schon wieder frei.
Der Stress, vermuten sie, zieht das Immunsystem runter
Nachbarn kommen regelmäßig zum Prozess. Die damals beste Freundin, heute Polizistin, ist auch jeden Tag dabei. Tröstlich sei diese Anteilnahme. Aber jeder Prozesstag auch schwer. Belastend. Schlecht gehe es ihnen davor, dabei und danach. Viel krank waren sie in den letzten Monaten. Der Stress sei das, der ziehe die Immunsysteme runter. Zuletzt, als sie wieder in Renesse waren, war er 14 Tage krank. „So etwas hatte ich früher nie.“
Bald ist der nächste Prozesstag. Auf einen normalen Alltag können sie sich nicht konzentrieren. Einladungen nehmen sie zum Beispiel im Moment nicht an. Womit die Frage im Raum steht: Wie lebt man dann weiter, wie kommt man damit klar, wie kann man das ertragen?
Das ist unser Typ. Sagt sie. Das ist unser Naturell, sagt er. Und sie haben ja auch aktuell noch einen zwölfjährigen Pflegesohn. Von der damaligen Pflegetochter der älteste Sohn - als er sechs Monate alt war, haben sie ihn bekommen. Das ist die Aufgabe, die sie haben, die sie zwingt, in der Spur zu bleiben. Wir lieben Kinder, sagt er. Zu sehen, was daraus wird.
Ansonsten, sagt sie, würden wir vielleicht auch gar nicht mehr leben. Und er sagt, dass er jetzt eine rauchen muss.
„So einen Baum“, sagt der Vater, „haben nur wir“
Draußen im Garten weht die BVB-Fahne im Wind. Da, wo letztes Jahr noch der kleine Swimmingpool stand, ist das Gras noch nicht nachgewachsen. Ein paar hundert Meter von dieser kleinen Idylle entfernt starb in einer Oktobernacht Nicole Denise Schalla. Mit ihr starb der Lebensplan einer ganzen Familie.
Ebenfalls im Garten der Schallas steht ein merkwürdiges Bäumchen. Ein starker Stamm, oben eine grüne Haube aus nadeligen Zweigen. „Unser Pils“ nennt ihn Joachim Schalla. Eigentlich sollte der schon weg sein, die Seitentriebe hatten aufgegeben. Vater Schalla hat die Seitentriebe entfernt, und oben entstand dann diese grüne Haube.
„So einen Baum“, sagt der Vater, „haben nur wir.“
Ich wurde 1973 geboren und schreibe seit über 10 Jahren als Redakteur an verschiedenen Positionen bei Lensing Media. Als problematisch sehen viele meiner Kollegen oft die Länge meiner Texte an. Aber ich schreibe am liebsten das auf, was ich selber bevorzugt lesen würde – und das darf auch gerne etwas länger sein.
