
© Uwe von Schirp
100-jährige Dortmunderin: „Jetzt haben wir wieder Krieg. Muss das sein?“
Runder Geburtstag
Geboren im April 1922: Else Lohmann ist 100 Jahre alt. Sie erzählt über ihre Jugend, die „schönsten Jahre“, trotz Krieg. Geistig fit verfolgt sie das Weltgeschehen: „Muss das sein?“
Die Augen strahlen. Das Lächeln ist ebenso gütig wie manchmal verschmitzt. Die Wangen sind ein wenig gerötet. Die letzten Tage waren aufregend. Else Lohmann feierte ihren 100. Geburtstag – im kleinen Kreis, aber mit unzähligen Gratulanten. Geistig fit ist sie, kein Zweifel. Allein das Laufen fällt schwer.
Zur Begrüßung streckt sie die Faust entgegen. Der Kaffee steht wie selbstverständlich für den Besuch auf den Tisch. Tochter Ulrike Brand hat ihn gekocht. Sie betreut ihre Mutter in ihrer „Heimat Mengede“ und – Tapetenwechsel für beide – „zu Hause in Lingen“ im Emsland, wo die Tochter mittlerweile lebt.
Keine Frage, dass Else Lohmann ihren Lebensabend in den gewohnten vier Wänden verbringt. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, sagt Ulrike Brand über ihre Mutter. Seit 55 Jahren lebt die 100-Jährige Am Hohen Teich. Hier ist alles vertraut, sie ist nah bei den Verwandten aus der Umgebung und den Freunden und Bekannten, die noch leben. „Wenn man 50 Jahre im Ort ist, ist man bekannt“, lautet ihr klares Statement.
Jugendjahre im Krieg
Bekannt wurde Else Lohmann vor allem durch ihr Engagement im evangelischen Männerverein. Als sie 1948 der Liebe wegen nach Mengede kam, lebte sie zunächst im Schatten der Remigiuskirche im alten Ortskern. Else Lohmann arbeitete ihr halbes Leben lang ehrenamtlich, betreute als Obfrau Vereinsmitglieder, besuchte Gemeindeglieder.

Mit 30 Gästen feierte Else Lohmann ihren 100. Geburtstag im Handelshof. Bürgermeisterin Barbara Brunsing (r.) überbrachte die Glückwünsche der Stadt Dortmund. © Ulrike Brand
Zu ihrem Engagement bleibt die Seniorin bescheiden einsilbig: „Schreiben Sie nicht so viel.“ Sie lächelt. Sich in der Kirche zu engagieren, war in der Nachkriegszeit noch selbstverständlich. In jungen Jahren ausgehen, tanzen? Nicht ihre Welt: „Wir haben zu Hause gefeiert.“ In den Urlaub ging es erstmals Mitte der 60er Jahre: nach Österreich.
Und was waren die schönsten Jahre? Else Lohmann zögert keine Moment. „Meine Jugendjahre.“ Die Kriegszeit. Hier sprudeln die Gedanken, leben die Erinnerungen auf. Hagen-Halden: Auf dem Gelände des Dolomitwerks bewohnten die Eltern mit Else und ihren fünf Geschwistern ein Häuschen. Der Vater arbeitete dort. Else Lohmann lernte Zahnarzthelferin, arbeitete später im Zahnlabor der Praxis.
Die beiden Brüder mussten zur Wehrmacht – und fielen im Krieg. „Die Jungs wurden ja alle eingezogen“, sagt sie. „Aber mein Bruder war noch so jung.“ In Russland war Else Lohmanns späterer Mann sein Ausbilder an der Waffe. Als der Bruder auf Heimaturlaub war, kam der Ausbilder zu Besuch – der erste Kontakt und Beginn einer Liebe.
Schokolade von den Amerikanern
Der Krieg forderte immer mehr seinen Tribut. Die Verwundeten kamen auch in die Zahnarztpraxis. „Mutter hat manche Gesichter nach Durchschüssen zusammengeflickt“, sagt Tochter Ulrike. Als die Briten in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 die Staumauer der Möhnetalsperre zerstörten, schossen die Fluten durchs Ruhrtal. „Das Wasser stand bis bei uns in Halden.“
Bomben der Alliierten trafen die Stadt. Eines Morgens fuhr Else Lohmann zur Arbeit. „Alles war weg. Und ich konnte wieder nach Hause gehen.“ Eine „schäbige Zeit“ war es. „Ich hab den Krieg erlebt, jetzt haben wir wieder Krieg. Muss das sein?“ Hort in den unruhigen Zeiten war das Elternhaus mit dem großen Garten. Unternehmungen brauchte es da nicht.

Ulrike Brand (r.) betreut ihre Mutter - "in der Heimat" Mengede und "zu Hause in Lingen". © Uwe von Schirp
Kriegsende: Die Amerikaner besetzten Hagen, tauschten Kaffee, brachten Schokolade. 1948 kehrte ihr späterer Mann aus der Kriegsgefangenschaft in England zurück. „Da haben wir geheiratet“, erzählt die 100-Jährige. Eine Doppelhochzeit zusammen mit der zehn Jahre älteren Schwester. „Mein Vater hat gesagt, jetzt eine Hochzeit, dann noch eine Hochzeit, das gibt es nicht.“
Mengede, 1949: Der ältere Bruder von Ulrike Brand kam zur Welt. Als der vor einigen Jahren starb, traf Else Lohmann „ein Schlag in die Beine“, wie sie sagt. „Auf einmal konnte ich nicht mehr laufen.“ Der Rollator hilft. Ihr Geburtstagswunsch überrascht da nicht. Die Augen blicken am Ende des Gesprächs sehnsuchtsvoll: „Ich möchte gesund werden und wieder selbstständig laufen können.“
Geboren 1964. Dortmunder. Interessiert an Politik, Sport, Kultur, Lokalgeschichte. Nach Wanderjahren verwurzelt im Nordwesten. Schätzt die Menschen, ihre Geschichten und ihre klare Sprache. Erreichbar unter uwe.von-schirp@ruhrnachrichten.de.
