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Leben ohne Corona? Dortmunder Professor macht sich für „No Covid“ stark
Pandemie
Ohne Corona leben statt mit Corona leben – das ist das Ziel einer Wissenschaftler-Gruppe um einen Dortmunder Physik-Professor. Ist „No Covid“ mehr als ein schöner Traum?
Die Idee einer europaweiten Allianz aus Wissenschaftlern ist einfach. Statt mehrerer, immer wieder verlängerter Lockdowns, die immer weniger Akzeptanz bei der Bevölkerung finden, sollte es einen nachhaltigen Lockdown geben.
Mit dem einzigen, für alle nachvollziehbaren Ziel, die Zahl der Neuinfektionen auf 0 zu senken. Vorbilder dafür sind Länder wie Neuseeland und Australien.
Aus einem Artikel ist eine Bewegung geworden
Der Dortmunder Physik-Professor Prof. Dr. Matthias Schneider, Leiter der Abteilung medizinische und biologische Physik an der TU Dortmund, hat die Initiative mit angestoßen, die zuletzt große Aufmerksamkeit erhielt. Geplant war das nicht.

Prof. Dr. Matthias Schneider ist seit Leiter der Abteilung für medizinische und biologische Physik an der Technischen Universität Dortmund. © TU Dortmund
Nach Veröffentlichung eines Gastbeitrags auf „Zeit Online“ im September 2020 zum Modell der Phasenumwandlung aus der theoretischen Physik (Überschrift: „Wir können das Virus noch stoppen“), kontaktierten ihn Wissenschaftler und Lehrende aus zahlreichen Disziplinen, die die Dinge ähnlich sehen.
„Es ist uns buchstäblich um die Ohren geflogen“
„Es ist uns buchstäblich um die Ohren geflogen“, sagt er in einem Zoom-Interview am 21. Januar.
Zugeschaltet sind außer ihm noch die Politikwissenschaftlerin Elvira Rosert (Universität Hamburg), Denise Feldner (Wirtschaftsjuristin und Wissenschaftsmanagerin und Ilona Kickbusch (Leiterin des globalen Gesundheitsprogramms an der Universität Genf und WHO-Expertin).
Die Strategie von Australien ist das Vorbild
In dem lebendigen Gespräch fällt Australien immer wieder als Referenz. Viele der Maßnahmen hält die Initiative für auf Deutschland übertragbar.
Dort seien die Beschränkungen zwar rigider gewesen, die Solidarität für das gemeinsame Ziel von Anfang aber auch von Anfang an besser vermittelt worden, sagt Ilona Kickbusch. „Es gab eine ständige Kommunikation mit den Bürgern.“
In Deutschland sei dagegen von Anfang zu viel von oben verordnet und das Narrativ gebildet worden: „Wir müssen mit dem Virus leben“.
Was bedeutet das: Mit dem Virus leben?
Matthias Schneider fragt: „Was bedeutet das eigentlich: Mit dem Virus leben? Das ist inhaltsleer. Ich muss auch mit Feuer leben, aber meinen Wald nicht abbrennen lassen.“
Vielmehr zeigten die Erfahrungen andere Länder laut dem Dortmunder Physik-Professor: „Wenn sich alle zwei, drei Wochen ins Zimmer setzen, dann ist das Ding weg.“
Deshalb sollte nun aus seiner Sicht konsequent versucht werden, die Infektionszahlen zu drücken, damit die Feuer, die gelöscht werden müssen, klein bleiben.
Kritische Reaktionen - auch der Gesundheitsminister ist dagegen
Einige Reaktionen auf den No-Covid-Vorstoß fallen kritisch aus. Experten bezeichnen das Ziel als „fast aussichtslos“ und „Wunschdenken“ oder auch als „unethisch“, weil Folgeschäden der sozialen Isolation außer Acht gelassen würden.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn schloss eine solche Strategie für Deutschland zuletzt aus. Mit Begründung, dass die Situation von Inselstaaten mit der eines Landes mitten in Europa nicht vergleichbar sei.
Die „No-Covid“-Initiative hält dagegen. „Eine Stadt wie Sidney oder Melbourne frei von Neuninfektionen zu halten, hat nichts mit einer Insellage zu tun“, sagt Ilona Kickbusch.
Dortmund als No-Covid-Zone? Die Wissenschaftler halten das für möglich
Eine „No Covid“-Strategie kann laut der Wissenschaftler-Gruppe auch auf der Ebene von Bundesländern oder Städten angewendet werden.
Was wäre also, wenn die Dortmunder Politik sich für einen solchen Weg entscheiden würde? Noch länger Homeschooling, Homeoffice und Distanz zu Freunden und Verwandten? Müssten wir noch etwas länger im Lockdown verharren, könnten dafür aber im Sommer wieder in den Biergarten gehen?
Rechtliche Fragen eine lokalen Lockdowns außen vor lassend, sprechen Schneider und seinen Kollegen davon, dass man zunächst in den Austausch gehen und schauen würde, welche Maßnahmen für Dortmund passen. Es bestehe Kontakt zu Bürgermeistern in Australien, die bereit seien, Erfahrungen auszutauschen.
Die Politikwissenschaftlerin Elvira Rosert sieht ein Missverständnis in der Wahrnehmung. „Es geht nicht um noch härtere Maßnahmen, sondern darum, das Maximum rauszuholen. Der Lockdown muss sich für die Bürger lohnen.“
Kein pauschaler Lockdown, sondern ein zielgerichteter
Ziel sei dann ein „strukturiertes Maßnahmenpaket“. Anders als der pauschale Lockdown mit festem Enddatum soll so auf die individuellen Bedingungen der Menschen gezielt geachtet werden.
So müsse etwa für den Bereich Schule „bedürfnisorientiert“ aufgeschlüsselt werden, für welche Kinder lernen in Gruppen besser ist und welche besser zuhause lernen können. Für Unternehmen müsste beispielsweise geklärt werden wie eine Impf- oder Teststrategie aussehen könnte.
In mehreren Phasen könnten Beschränkungen schließlich wieder aufgehoben werden.
Das sind komplexe Fragen. Und vieles davon ist sehr weit weg von der Realität des politischen Handelns. Doch die Mitglieder der No-Covid-Initiative sind überzeugt von ihrem Ansatz. Sie wünsche sich einen offenen Dialog über die langfristige Strategie. „Wir sind einer Phase, in der wir noch umdenken können“, sagt die Juristin Denise Feldner.
Unterschiedliche Ansätze: „No Covid“ ist nicht „Zero Covid“
Matthias Schneider sagt: „Im No-Covid Ansatz geht es nicht um einen Megalockdown, sondern eher im Gegenteil um die Vermeidung weiterer Lockdowns und der schnellen, lokalen Rückkehr zu einen stabilen und möglichst normalen Zustand.“
Dabei sei das Team so gestaltet, dass dabei nicht nur gesundheitliche, sondern auch wirtschaftliche und soziale Schäden minimiert würden.
„Dieser Ansatz ist ein völlig anderer und nicht zu verwechseln mit dem Ansatz der zerocovid.org-Bewegung“, sagt Schneider. „Zero Covid“-Aktivisten fordern, Schulen, Büros und Fabriken zu schließen, bis die Infektionen bei Null stehen.
Seit 2010 Redakteur in Dortmund, davor im Sport- und Nachrichtengeschäft im gesamten Ruhrgebiet aktiv, Studienabschluss an der Ruhr-Universität Bochum. Ohne Ressortgrenzen immer auf der Suche nach den großen und kleinen Dingen, die Dortmund zu der Stadt machen, die sie ist.
