
© Montage Martin Klose
Corona trifft Dortmunder Kirchen hart: „Es wird schon wieder“ reicht nicht
Gespräch zu Weihnachten
Nie waren wir einander entfernter: Corona zwingt uns Distanz auf. Kirche will zwar Gemeinschaft bieten, trifft aber auch in Dortmund auf Hürden – besonders zu spüren ist dies an Weihnachten.
Während der Predigt steigen die Kinder über die Bänke, die Gläubigen sitzen dicht an dicht, die Kirche ist pickepackevoll. Ein ordentliches Gewusel. So ist es an Heiligabend beim Familiengottesdienst in der St.-Johann-Baptist-Kirche in Brechten und an vielen anderen Orten. Normalerweise. Pfarrer Hanno Gerke liebt das. Es kommen auch die, die sonst nie kommen. Die Gemeinde kann Gemeinschaft sein. Dafür steht sie. An Weihnachten ganz besonders. Doch dieses Jahr fällt das aus. Das Coronavirus liebt das Gewusel nämlich auch, und deshalb müssen die Menschen darauf verzichten.
Mit der Weihnachtszeit geht das Jahr zu Ende. Corona hat es geprägt, und das Virus hat in vielen Fällen der Gemeinschaft einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es hat aber auch neue Formen des Zusammenseins geschaffen. Die katholische Gemeindereferentin Claudia Schmidt und der evangelische Pfarrer Hanno Gerke blicken im Gespräch mit Dennis Werner und Oliver Volmerich auf dieses Jahr zurück: Wie sehr greift die Corona-Pandemie in den Alltag ein? Welche Veränderungen hat das Virus gebracht? Wie sehr hat es Kirche in Dortmund verändert? Und wie wird Kirche aussehen, wenn wir alle wieder zusammen sein dürfen?
Wie war das Corona-Jahr?
Dennis Werner: Viele Menschen berichten von der Ruhe, die mit Corona einkehre. Alle hätten plötzlich Zeit, Maßnahmen werden empfohlen gegen Langeweile. Ich habe das nicht so empfunden. Ich finde, das war das turbulenteste Jahr meines Berufslebens…
Hanno Gerke: Es ging alles sehr schnell. Die Erfahrung des 15. März ist mir immer noch präsent. Das war der erste Sonntag nachdem die Krise proklamiert war und als die Empfehlung der Landeskirche kam, den Präsenzgottesdienst abzusetzen. Das war noch gar nicht mit der Öffentlichkeit kommuniziert. Ich war mit der Vikarin und dem Küster dann in der Kirche, nicht um den Gottesdienst zu halten, sondern um zu sagen, dass der Gottesdienst ausfällt. Dann waren wir zu dritt in der Kirche und haben spontan eine Videobotschaft aufgenommen für unsere Leute. Das ist mir emotional unglaublich nahe gegangen, weil das noch zwei Tage vorher in meiner Vorstellung völlig undenkbar gewesen wäre, dass ein Gottesdienst abgesagt werden könnte. Wobei ich die Entscheidung richtig fand. Das musste man erstmal begreifen.
Claudia Schmidt: Das kannte man nicht.
Dennis Werner: Die Welt war plötzlich eine andere, und man musste sich sofort kümmern, obwohl das Problem überhaupt noch nicht greifbar war.
Claudia Schmidt: Es war lange Zeit sehr unwirklich, dieses Szenario. Was dann vielen Menschen geholfen hat, war, was wir ökumenisch gemacht haben: Viele haben eine Kerze angezündet und die Glocken haben überall zur selben Zeit geläutet. Das war eine wichtige Symbolik, die Botschaft, dass es in naher Zukunft wieder besser wird. Das war wichtig für unsere Leute. Auch für die, die gar nicht so die Kirchgänger sind.
Dennis Werner: Ist das dann die Aufgabe von Kirche, Zuversicht zu geben?
Claudia Schmidt: Aufgabe ist es, den Weg mitzugehen. Da zu sein. Es lief ja vieles auch einfach weiter. Es gab weiter Beerdigungen zum Beispiel. Menschen konnten keinen persönlichen Abschied nehmen von den Angehörigen, die starben. Da waren wir doch sehr gefragt. Mitleiden, mitgehen und da sein – das war wichtig, also nicht einfach nur das Positive sehen und schönreden.
Hanno Gerke: Die Aufgabe von Kirche ist da kein Schulterklopfen „Es wird schon wieder“, sondern die Menschen in das Bewusstsein einzuladen, dass wir auch in der tiefsten Krise guten Grund haben, zu vertrauen.
Dennis Werner: „Fürchtet euch nicht“…
Claudia Schmidt: …die Weihnachtsbotschaft des Engels…
Hanno Gerke: Das ist so leichthin gesagt, doch wenn es in der Seele trifft, ist es eine ganz starke Zusage.
Claudia Schmidt: Dieses Gefühl, „Wir gehen da gemeinsam durch“, war es, was zählte.
Hanno Gerke: Wir haben ökumenisch gespürt - und jede Gemeinde für sich -, dass uns wieder neu bewusst wurde, wie sehr unsere Gemeinschaft in den Gemeinden trägt.
Claudia Schmidt: Wir mussten dann aus der Situation etwas Positives ziehen und überlegen, wie wir Menschen jetzt anders erreichen können, wenn es auch auf die übliche Weise im Gottesdienst nicht geht. Was tun wir dann? Da war eine unglaubliche Motivation auch der Ehrenamtlichen.
Dennis Werner: Irgendwie auch wieder handlungsfähig zu werden.
Claudia Schmidt: Ja.
Kirche wird Digital
Dennis Werner: Wieder handeln. Wir haben das mit der Redaktion auch überlegt: Wie kriegen wir es hin, ein Interview zu führen, wie kriegen wir ein Foto, ohne jemanden zu treffen? Plötzlich erklärt man jemandem, der das noch nie gemacht hat, wie er ein Selfie machen kann, damit wir sie oder ihn im Foto haben.
Hanno Gerke: Ich habe mir Anfang des Jahres ein neues Handy geschenkt. Ich habe mir überhaupt nicht vorstellen können, dass dieses Handy im Jahr 2020 mein wichtigstes Arbeitsutensil wird. Damit habe ich dann Whatsapp-Impulse aufgenommen, die meine Kollegin und ich an die Menschen in der Gemeinde verschicken. An einen größeren Verteiler. Die können dann weiterverschickt werden, und wir kriegen Rückmeldung aus Winkeln dieser Welt, von denen ich nie gedacht hätte, dass wir da mit unserer Stimme hinreichen. Wir sind plötzlich in der persönlichen Digitalisierung angekommen, mit Videokonferenzen… Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass das dieses Jahr noch für mich relevant wird.
Claudia Schmidt: Wir nutzen Youtube-Kanäle und haben jeden Adventssonntag ein Video eingestellt. Das ist ein Format, das gab es vorher nicht. Jetzt mussten wir uns auf die neuen Medien einlassen, da hinkte Kirche tatsächlich hinterher. Da hat sich nun was entwickelt, was viele erreicht. Und mit dem Telefon erreiche ich die Menschen, die kein Internet haben.
Hanno Gerke: Wir geben jetzt auch Konfirmandenunterricht im Homeschooling-Format, das ist nicht die Ideallösung, aber besser, als gar nichts zu machen. Man bleibt in Kontakt, auch wenn es nur die kleinen Fensterchen auf dem Display sind.
Claudia Schmidt: …und man sieht sich ohne Maske. Man sieht das ganze Gesicht.
Dennis Werner: Wir verändern unser Sozialverhalten. Wir fangen an, das Digitale zu erleben. Ist das eine Gefahr? Führt das die Leute zusammen oder bringt es sie voneinander weg?
Hanno Gerke: Beides. Problematisch ist, es gibt viele Menschen, die da abgehängt sind. Die Hochbetagten, und auch Familien, die die Mittel gar nicht haben, sich technisch so auszustatten. Da gibt es viel Nachbesserungsbedarf. Das ist so ein Stachel, den man jetzt nicht stumpf machen kann.
Bei Sitzungen und Konferenzen führt das zu konzentrierterem Arbeiten. Wir haben Kreissynoden mit über 200 Delegierten digital durchgeführt. Das sind sonst Veranstaltungen, die gehen über den ganzen Tag. Das geht digital viel schneller.
Claudia Schmidt: Mir fehlen bei solchen Konferenzen die Seitengespräche und der persönliche Austausch. „Und jetzt kommen wir zum gemütlichen Teil…“ – der kam aber nicht.
Auf die ältere Generation will ich noch mal zurückkommen. Viele sind schon immer einsam gewesen. Nun wird einem diese Einsamkeit bewusster und dass wir viele so gar nicht erreichen. Da sind wir dann auf Printmedien gekommen, ein kleines Begleitheftchen für diese Zeit, das durch die Ehrenamtlichen verteilt wird. Das ist eine Aufgabe, der wir uns langfristig stellen müssen: Wie können wir diese Menschen erreichen und für sie da sein?
Dennis Werner: Einsamkeit ist das große Jahresthema – neben Digitalität. Menschen sind plötzlich alleine, die vorher Gemeinschaft gefunden haben. In der Kirche, beim Kaffeetrinken. Können wir als Gesellschaft was aus dem Jahr lernen?
Claudia Schmidt: Das Bewusstsein ist da. Die AWO hatte die Idee zuerst, Plauderpartner zu finden, jemanden zu finden, mit dem man zu zweit mit Maske spazieren geht. Wir alle beginnen erst, Ideen zu entwickeln, aber das Bewusstsein dafür ist größer geworden.
Hanno Gerke: Ich persönlich bin an einem Punkt, bei dem ich emotional werde: Es ist ja den Kirchen vorgeworfen worden, in der Krise habt ihr die Sterbenden und Alten in Stich gelassen. Ich finde diese Kritik ungerecht. Das hieße im Einzelfall, sich über Schutzbestimmungen in Alten- und Pflegeheimen, in Krankenhäusern hinwegzusetzen. Viele die da tätig waren, sind dann über die Grenzen gegangen, wo sie es notwendig fanden. Das ist ein innerer Konflikt: Gehe ich meiner seelsorgerischen Pflicht nach oder sehe ich ein, was der Lebensschutz gebietet. Der Vorwurf hat mich manchmal richtig betroffen gemacht und geärgert.
Dennis Werner: Die andere Seite des Vorwurfs wäre ja „der Pfarrer als Superspreader“. „Ihr lockt die Leute noch in die Kirche, wo sie sich dann anstecken.“
Hanno Gerke: Wir können es im Moment nicht richtig machen. Deshalb habe ich einen hohen Respekt vor der Entscheidung unserer Leitungsgremien, die Weihnachtsgottesdienste als Präsenzgottesdienst ausfallen zu lassen.

Ein dichtes, sehr persönliches Gespräch ist auch auf Abstand möglich. Redakteur Dennis Werner hält die Kamera, Hanno Gerke und Claudia Schmidt sitzen auseinander. Alle drei tragen die ganze Zeit eine Maske. Man lernt, auch mit den Augen zu kommunizieren. Redakteur Oliver Volmerich ist per Video zugeschaltet. © Dennis Werner
Weihnachten ohne Gottesdienst
Dennis Werner: Wie wichtig ist denn so ein Gottesdienst an Weihnachten? Kommen wir nicht mal ohne aus?
Hanno Gerke: Für mich sind die Weihnachtsgottesdienste enorm wichtig. Ich weiß, dass das die Kontaktfläche im Jahr ist mit Menschen, denen ich sonst seltener begegne. Ich freue mich total, wenn ich jetzt erwachsene Konfirmanden treffe an Heiligabend. Ich sehe manchmal Leute, von denen ich weiß, dass sie aus der Kirche ausgetreten sind, aber an Weihnachten kommen sie doch. Das zeigt mir, da ist noch eine Verbindung da. Ich freue mich, dass sie da sind. Ich sehe Menschen, wo ich weiß, da ist gerade Krise in der Familie. Ich nutze das als Chance zur Zeitansage im Lichte des christlichen Glaubens. Dass dies Heiligabend nicht ist und nicht sein soll, ist ganz schade. Das macht mich sehr emotional und das wird mich Heiligabend einholen.
Claudia Schmidt: Das Krippenspiel ist es an Heiligabend, worauf ich mich immer am meisten freue. Die Freude über die vielen Menschen, die sonst nicht kommen, ist groß. Zu wissen: Das ist ihnen auch wichtig. Nicht nur Geschenke und Konsumgedöns. Einfach diese Chance, die Hoffnung zu vermitteln, was die Krippe bedeutet, noch mal mitgeben zu können. Eine Weihnachtspredigt ist halt was Besonderes. Da wird viel Arbeit reingelegt. Sie bietet die Chance, viele zu erreichen.
Dennis Werner: Also nicht nur das Event, sondern das ist mehr
Hanno Gerke: Ich spüre das in unserem Familiengottesdienst. Da ist dann richtig Halligalli, das finde ich sehr schön.
Wir wird die Zukunft?
Dennis Werner: Was bleibt denn hängen von diesem Jahr? 2021 – wie sieht es dann aus? Vielleicht spinnen wir ein bisschen rum. Haben wir dann wieder volle Gotteshäuser? Die Leute haben den Wert der Kirche erkannt. Die Kirche kann dann zeigen: Wir können Gemeinschaft, wir sind da die Experten, strömt herbei – oder ist es bald wieder leerer?
Claudia Schmidt: Unsere eigenen Leute freuen sich jedenfalls darauf, wenn wir uns physisch wieder treffen können. Wichtig finde ich aber auch die neuen Wege, die wir jetzt nutzen, auch andere Menschen zu erreichen. Dass wir uns das erhalten, was wir jetzt gelernt haben.
Oliver Volmerich: Auch dass Sie auch Jüngere erreichen. Das wird durch die elektronischen Möglichkeiten auch leichter, zum Beispiel im Konfirmandenunterricht.
Hanno Gerke: Wir haben im August bis Oktober langsam wieder ins Leben zurückgefunden. Ein paar Wochen, wo wir das Gemeindeleben wieder hochfahren konnten unter Schutzbestimmungen. Das hat uns Mut gemacht, darauf zu hoffen, dass nun nicht alles zusammenbricht und wir es wieder mehr schaffen, die Leute wieder in die Gemeindehäuser einzuladen.
Ich glaube nicht daran, dass diese Krise jetzt zu einem Erweckungserlebnis führt oder zu einem Boom kirchlicher Themen und zu mehr Präsenz. Da würde ich mit niedrigeren Zielen ansetzen.
Oliver Volmerich: Man kann davon ausgehen, dass ein Teil der digitalen Angebote sich über die Coronazeit fortsetzen wird…
Claudia Schmidt: Auf jeden Fall
Dennis Werner: Wenn es dann wieder läuft, gibt es eine weitere Aufgabe. Wir müssen die Spaltung, die es auch in dieser Krise gegeben hat, wieder kitten. Ich denke an den Streit zwischen Corona-Leugnern und denen, die wirklich Angst haben. Man hat sie an Weihnachten womöglich gemeinsam am Tisch sitzen. Was kann Kirche da leisten?
Hanno Gerke: Jenseits von parteipolitischer Präferenz hat der Gesundheitsminister eine tolle Formulierung gefunden, als er sagte: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Das ist für die Kirchen auch Stichwort. Eine Kultur des Verzeihens, sich Versöhnens, um Verwerfungen zu überwinden.
Claudia Schmidt: Es gab nicht nur bei uns das Problem der Extrempositionen, dass plötzlich über Menschen gesprochen wurde, die einfach aus Angst auf Abstand gegangen sind. Da wurde dann gesagt: „Die können doch wohl in den Gottesdienst gehen!“ Es braucht viel Verständnis füreinander und für die unterschiedlichen Positionen. Das war eine Herausforderung, da ein Miteinander zu finden, das niemanden verurteilte oder ausschloss. Unsere Aufgabe besteht darin zu vermitteln.
Oliver Volmerich: Man kann ja auf den Effekt hoffen, dass das Bewusstsein dafür, dass Gemeinschaft auch wertvoll sein kann, steigt. Wir haben das ja beim Kirchentag gesehen: Da haben die Leute gemeinsam gefeiert, gemeinsam gesungen. Das ist ja etwas Besonders, wonach die Leute durchaus hungrig sind. Das Interesse, dass es sowas noch mal gibt, wird wachsen durch die Distanz, die man jetzt einhalten muss
Dennis Werner: Wenn Sie sich die Situation malen könnten, wie wird sie dann. Wir werden schnell dieses Virus los, und dann..?
Claudia Schmidt: Dass alles wird wie vorher, glaube ich nicht, aber etwas mehr Unbeschwertheit wünsche ich mir schon wieder. Solidarität wünsche ich mir, das geht uns alle an. Solidarität ist Bestandteil der christlichen Soziallehre, die sollten wir uns alle auf die Fahnen schreiben und gemeinsam mit da mit positiver Stimmung weitermachen.
Hanno Gerke: Bei mir tritt sofort ein Bild von einem der vollen Gottesdienste vor Augen, die wir im Jahr erleben dürfen: Konfirmationen oder der Ewigkeitssonntag. Am Ostermorgen in der noch dunklen Kirche mit 130 Leuten – das ist meine Sehnsucht, dass das wieder geht. Mein Sohn wird nächstes Jahr konfirmiert und ich möchte als Vater das in mir vertraut schöner Weise erleben darf.
Leitender Redakteur, seit 2010 in der Stadtredaktion Dortmund, seit 2007 bei den Ruhr Nachrichten.

Oliver Volmerich, Jahrgang 1966, Ur-Dortmunder, Bergmannssohn, Diplom-Journalist, Buchautor und seit 1994 Redakteur in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten. Hier kümmert er sich vor allem um Kommunalpolitik, Stadtplanung, Stadtgeschichte und vieles andere, was die Stadt bewegt.
