Hier saß er oft. Auf diesem kleinen Platz im Herzen der Dortmunder Nordstadt. Geradeaus sein Elternhaus, wo er heute noch wohnt, schräg rechts der einst baufällige Ziegelbau, wo er sich vor Jahren aus dem fünften Stock stürzen wollte. Neben ihm die Moschee, in der er als Jugendlicher Halt suchte und um Kraft betete, um gegen seine Sucht anzukämpfen. Und 800 Meter links von ihm der Lotto-Laden an der Schützenstraße, in dem er im September 2022 fast zehn Millionen Euro gewonnen hat.
Jeder hier kennt Chico. Die Leute winken, wenn er mit seinem Porsche vorbeifährt. Ein junger Mann im Anzug fragt ihn nach einer beruflichen Empfehlung. Die junge schwarzhaarige Frau errötet, als er sie hier am Dreieck Burgholz-, Schubert- Haydnstraße freundlich grüßt. Der über 90-Jährige Moschee-Besucher hält stolz seine Hand.
„Noch vor einem Jahr habe ich mir die Kapuze ins Gesicht gezogen, wenn ich durch die Nordstadt, mein Viertel, gelaufen bin. Ich hatte überall Schulden, hatte mir überall Geld geliehen“, erinnert er sich. Kürsat Yildirim, wie Chico bürgerlich heißt, nimmt seine verspiegelte Sonnenbrille ab, blickt nach oben und sagt: „Wenn über mir ein Vogel vorbeigeflogen ist, habe ich mich erschrocken, weil ich dachte: Da kommt noch einer, dem ich Geld schulde.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 22. August 2023. Aufgrund des großen Interesses veröffentlichen wir ihn erneut.

Chico brauchte viel Geld. Für Kokain, für Alkohol, fürs Glücksspiel. Also lieh er sich welches, ließ anschreiben, stahl. Sein eigener Vater zeigte ihn an. Ein Akt der Hilflosigkeit, um seinen Sohn aus dieser Abwärtsspirale zu befreien.
Auf Bewährung aus der Haft entlassen brach das große Glück über Chico herein: Exakt 9.927.511 Euro gewinnt der 42-Jährige im Lotto. Chico glaubt an sein Karma. „Alles was du mit der einen Hand gibst, kommt in deine andere Hand mehrmals zurück“, sagt er.
Das erklärt natürlich nicht die geringe Wahrscheinlichkeit, dass ein Kranführer aus der Nordstadt im Lotto gewinnt. Aber es illustriert Chicos Lebenseinstellung: „Ich war immer spendabel und hilfsbereit. Das bin ich jetzt auch noch. Aber ich weiß auch, wer schon mein Freund war als ich kein Geld hatte. Das ist wichtig.“
Eine hohle Nuss? „Ich bin ein Nussknacker“
Wir haben Chico gebeten, uns zu zeigen, wo in Dortmund sein Glück zu Hause ist, wo er Freunde fand, als er sie brauchte. Der 42-Jährige, der sein privates Glück an der Seite einer Dortmunder Polizistin gefunden hat, hat uns zu drei Orten geführt.
Der erste ist sein zweites Zuhause in Dortmund – neben der Wohnung seiner Eltern, in der er immer noch wohnt: das Café Royal in der Schützenstraße. Hier parkt sein 670-PS-Porsche fast täglich. Hier beginnt er mit einem Espresso den Tag. „Ich mag diese Straße, hier bin ich seit 25 Jahren zuhause.“
Nach seinem Lotto-Gewinn hatte er erwogen, hier ein Café zu übernehmen. „Aber ich habe keine Zeit, so einen Betrieb zu führen“, wurde ihm dann klar. Also nutzt er, das „Royal“ als Anlaufpunkt und schmiedet hier Pläne: „Ich will der erste Lottomillionär Deutschlands sein, der seinen Gewinn öffentlich gemacht hat und dessen Leben nicht den Bach runtergeht“, sagt er.

Deshalb investiert er eifrig und nutzt die sinkenden Immobilienpreise, um unter dem Dach einer Holding Objekte zu bündeln: Zwei hat er schon erworben, ein drittes kommt nun – voraussichtlich Ende August – dazu. Fast die Hälfte seines Gewinns hat er dann in Mietshäuser angelegt. 10.000 Euro monatlich möchte er hieraus erlösen – nicht sofort, aber künftig: „Das soll meine Rente sein“, sagt er. Chico hat einen Plan. „Die Leute denken, ich wäre eine hohle Nuss. Dabei bin ich ein Nussknacker“, greift er zu einem seiner ihm eigenen Sprachbilder.
Und Chico bleibt seiner Stadt treu: Ein Objekt ist in der Nordstadt, eins in der City. „Ich mag Ecken, wo Leben ist. Wenn es zu ruhig ist, ist das nichts für mich.“ Für sich selbst fasst er ein eigenes Zuhause am Phoenix See ins Auge. „Das ist für mich eine ganz eigene Geschichte. Ich kenne die Ecke noch von früher – da war ja mein erster Arbeitsplatz“, erinnert sich der Thyssen-Kranführer.
Mit acht Jahren war er mit seinem Vater aus einem kleinen Dorf in Anatolien nach Dortmund gekommen. „Hier bin ich aufgewachsen, ich mag die Energie dieser Stadt – ich liebe Dortmund über alles“, sagt er. Über seinen Youtube-Kanal erfüllt er Einzelpersonen Wünsche, er unterstützt die Tafel – „ich möchte dieser Stadt und vor allem auch der Nordstadt ein wenig was zurückgeben.“

Vom Boom um Chico profitiert wohl der schmucke Lotto-Laden an der Schützenstraße, wo der 42-Jährige so viel Geld gewonnen hat - der zweite Ort unserer Nordstadt-Tour. Die genaue Summe steht in goldenen Lettern über dem Eingang von „Presse Tabak Post Marcel Hackel“. Links im Eck erinnert eine Artikel-Galerie an den prominenten Kunden. Letztens traf Chico hier in der Annahmestelle einen hochrangigen Vertreter seiner muslimischen Gemeinde, für den Glückspiel eigentlich tabu ist. „Ich würde wahrscheinlich auch noch den Papst zum Lottospielen verleiten“, scherzt Chico.
Er ist nicht tief religiös, aber er glaubt an Gott. Und er ist ihm dankbar. „Gott hat mir eine zweites Leben geschenkt“, sagt er, nippt an seinem Tee-Glas und zieht an seiner Zigarette. Wir sitzen auf einer Bank vor der Eyüp-Sultan-Moschee an der Haydnstraße - sein Glücksort Nummer drei. Zwei stilisierte Minarette zieren das Eckhaus des türkischen Kulturvereins. Hier ist sein Kiez. Als Teenager war er oft in der Gemeinde, seine Mutter ist sehr religiös. „Als ich so abgestürzt war, hat sie sich kaum rausgetraut, weil sie alle immer auf mich angesprochen haben.“
Tagelang sei er damals nicht nach Hause gekommen. Und seine Mutter hätte, krank vor Sorge, stets aus dem Fenster geschaut und ihren Sohn erwartet, der zugedröhnt mit Kokain unterwegs war. Zu jedem kleinen Grünzug, jedem Hauseingang kann Chico eine Geschichte erzählen.
„In dem Haus dort hinten hat meine damalige Freundin gearbeitet. Das war damals eine ziemlich Baustelle. Ich war komplett fertig und habe mich vor mir selbst geschämt. Am liebsten hätte ich in dieser Nacht meinen Leben ein Ende bereitet. Ich war schon in den fünften Stock geklettert und malte mir aus, wie es wäre, wenn ich in die Tiefe fallen würde. Ich habe es dann nicht getan“, beschreibt er seine Suizid-Gedanken.

Seit elf Monaten ist Chico jetzt clean. Alkohol trinkt er kaum, „höchstens mal aus gesellschaftlicher Verpflichtung“. Er hat wieder mit dem Sport angefangen, boxt nun regelmäßig. „Acht Kilo habe ich so zugelegt“, ist er über den Gewinn an Muskelmasse glücklich.
Als er straffällig wurde, hat er zwei Mal freiwillige eine Therapie gemacht, eine weitere hat er im Gefängnis hinter sich gebracht. In Dortmund und in Bochum saß er ein. „Ich habe auf die Zähne gebissen, es war schwierig, aber ich habe es geschafft.“ Chico ist voll des Lobes: „Das sind wirklich Fachleute – ich habe vollstes Vertrauen in die deutsche Justiz.“
„In 90 von 100 Nachrichten geht es um Geld“
In dem Jahr vor dem Lotto-Gewinn hat er oft Zuflucht in der Moschee gesucht. Meist allein hat er den Gebetsraum im ersten Stock des Gebäudes aufgesucht. Er zeigt uns den Raum mit dem hochflorigen dunkelblauen Teppichboden. „Hier habe ich niedergekniet, meist habe ich mich mit den Rücken ein wenig an die Wand gelehnt, gebetet und über meine Situation nachgedacht.“ Und er ist sich sicher: „Gott hat mir geholfen.“
Für seine Eltern war der Lotto-Gewinn ein doppelter Segen: Chico zahlte ihnen eine Wallfahrt nach Mekka. Nun haben seine Mutter und sein Vater diese religiöse Pflicht erfüllt.
Viele Menschen wollen was von Chico: „In 90 von 100 Nachrichten, die mich erreichen, geht es um Geld“, sagt der Lotto-Millionär. Er helfe gern, aber es seien auch viele Unverschämtheiten dabei. „Aber: Wie alle Menschen muss auch ich sterben. Und dann möchte ich als guter Mensch in Erinnerung bleiben.“
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