Ute Kersting kann es nicht fassen: Ihr geliebter Ginkgo-Baum, der über drei Jahrzehnte das Stadtbild des Kreuzviertels in Dortmund vor ihrem ehemaligen Blumenladen zierte, wurde kürzlich gefällt. Für Kersting war der Baum von emotionaler Bedeutung. Seitdem sie ihn vor 37 Jahren in einem abgeschnittenen Stück Rohr fand, hatte sie den Ginkgo als eine Art „Pflegemutter“ großgezogen und regelmäßig zurückgeschnitten. Dennoch habe sie ihr Ex-Vermieter Rudolf Schneider Mitte 2024 „genötigt“, den Baum zu entfernen. „Ich habe ihm klargemacht, dass es nicht mein Baum war.“
Sie habe sich lediglich um den Ginkgo gekümmert; dessen Entfernung liege jedoch bei der Stadt Dortmund. Während die umliegenden Bäume bereits in Mitleidenschaft gezogen waren, sei der Ginkgo laut Kersting „der gesündeste Baum der ganzen Lindemannstraße“ gewesen und habe „niemanden gestört.“ Rudolf Schneider wollte sich auf Anfragen der Redaktion nicht äußern.

Anwohner kämpften um den Baum
Die Fällung des Ginkgos ist das Ende einer Ära, die Ute Kersting einst einleitete. Sie ist nicht nur ein Verlust für die Natur, sondern auch für die Gemeinschaft im Kreuzviertel. Anwohner Bernhard Link findet es „schade, dass der Baum weg ist.“ Für André Gorsky, Inhaber des „Lotto-Tabak-Zeitschriften-Post Shop Gorsky“ – direkt gegenüber dem einstigen Standort des Ginkgos gelegen – war der Baum ein Lichtblick auf dem Weg zur Arbeit. Regelmäßig warfen er und weitere Passanten, etwa beim Spaziergang zum Friedhof oder vor dem Einkauf, einen Blick auf die ungewöhnliche Baumart, deren herzförmige Blätter einst Goethe zu einem Gedicht für seine damalige Geliebte Marianne von Willemer inspirierten.

Anwohnerin Rosana W. hatte sich bis zuletzt mit selbstgebastelten Schildern, die sie gemeinsam mit ihren Enkeln um den Baum hing, für den Ginkgo eingesetzt. Doch Rudolf Schneider sah wohl seine Werbemaßnahmen durch die Triebe des Baums in Gefahr. Die Bezirksbürgermeisterin für den Stadtbezirk Innenstadt-West, Astrid Cramer, wünscht sich grundsätzlich bei „Grundstücks- und Immobilieneigentümern Sensibilität bezüglich solcher Themen. Eine Werbetafel hätte man sicher auch anders anbringen können“, so die Grünen-Politikerin.
Die Stadt Dortmund kam der Bitte des Hausverwalters, den Baum zu entfernen, jedoch nach ausgiebiger Prüfung nach. Der etwa 5 m hohe Ginkgo sei dem Volumen des Kübels entwachsen und daher auch eine „Gefahr für die Verkehrssicherheit“ gewesen, heißt es in einer Stellungnahme. Der für einen Straßenbaum ungeeignete Schnitt des Ginkgos habe eine Umpflanzung unmöglich gemacht. „Er war so beschnitten, dass er keinen Leittrieb ausbilden konnte, sondern stattdessen viele konkurrierende Seitentriebe hatte. Hinzu kommt, dass der Wurzelballen beim Entfernen aus dem Pflanzstein auseinandergebrochen wäre.“ Nun ist die Ecke an der Lindemannstraße also kahl.
Baum weg, Erinnerung bleibt
Im Gegensatz zu ihrem geliebten Ginkgo-Baum ist Ute Kersting die Umpflanzung gelungen. Im Juni 2024 hat sie ihr Traditionsgeschäft im Kreuzviertel geschlossen. Statt Blumen werden bald Burger an der Lindemannstraße verkauft. Die Werbung für die sechste Filiale des Gastro-Franchise R’n‘Beef ziert bereits die Wände. Ute Kersting versorgt ihre Kunden in ihrer BlumenCompany derweil an der Martener Straße mit allem rund ums Thema Pflanzen. Dennoch werden sie und alle anderen Bewohner des Kreuzviertels ihren Ginkgo vermissen.

Rosana W. wird sich einen anderen Baum als Ausflugsort mit ihren Outdoor-begeisterten Enkelkindern suchen müssen, und auch André Gorsky wird der Weg zur Arbeit nun ein wenig schwerer fallen. Ein kleiner Trost: Der Ginkgo aus dem Kreuzviertel ist in guter Gesellschaft, denn auch Goethes 1795 in Heidelberg gepflanzter Baum steht nicht mehr.