
© Stephan Schütze
Fußball als soziales Event in Dortmund: „Es herrscht eine große Leere“
Borussia Dortmund
Uli Hesse (54) ist auf Entzug. Dem BVB-Fan und Sportjournalisten wurde sein täglicher Begleiter genommen. Ein Gespräch darüber, wie sich Dortmund und die Borussia gegenseitig brauchen.
Für viele Fans von Borussia Dortmund ist gar nicht so wichtig, was auf dem grünen Rasen im Signal Iduna Park passiert. Viel zentraler an einem Spieltag ist das ganze bunte Drumherum. Der Treffpunkt mit den Freunden, die Ablenkung vom Alltag.
Egal ob man sich vor den heimischen Fernseher setzt, in die Lieblingskneipe pilgert oder in einer Prozession mit zehntausenden Fremden zum „Tempel“ läuft: Mit Fußballspielen sind Rituale verbunden. Verlässlich durch Spielpläne Woche für Woche, Jahr für Jahr genau terminiert. Spieltage geben Halt, an ihnen ist die Welt in Ordnung.
Wegen des Coronavirus fallen diese Rituale weg, von einem Tag auf den anderen. Seit Ende Februar gibt es kein Heimspiel an der Strobelallee. Kalter Entzug für Hunderttausende, ohne Ersatzdroge. Mit einem der Junkies haben wir uns zum Interview verabredet.
Uli Hesse (54) ist in Dortmund aufgewachsen, eingefleischter BVB-Fan und hat sein Hobby zum Beruf gemacht: Der Sportjournalist arbeitet fürs Fußball-Magazin „11 Freunde“.
Herr Hesse, eine komische Zeit, um über Fußball zu reden. Was vermissen Sie als Fan aktuell am meisten?
Es gibt diesen Spruch von Nick Hornby, der Fußball sei die einzige Konstante im Leben. Beziehungen und Jobs wechseln, aber der Fußball bleibt. Bei mir ist das ganz extrem so. Seit 1982 hab ich eine Jahreskarte in Dortmund, ‘77 war ich das erste Mal bei einem Spiel im Westfalenstadion. Seitdem ist der untere Teil der Südtribüne genauso geblieben.
Der Besuch eines Fußballspiels ist ein soziales Event. Viele sind ja von ihrem Vater zum ersten Mal ins Stadion mitgenommen worden, bei mir hat das mein großer Bruder gemacht, der ist zwölf Jahre älter und war schon immer mein Held.
Seitdem wir in verschiedenen Städten wohnen, war das Stadion ein wichtiger Treffpunkt für uns. Man geht über dieselben Stufen wie früher, mit demselben Geländer an der Treppe. Und wenn ich da um die Ecke biege, weiß ich, steht da mein Bruder.
Als wir noch zusammen rausgehen durften, bin ich mit Kollegen mittags zum Essen gegangen. Die unterhielten sich dann darüber, welche Serien sie gerade gucken, und ich konnte da nie mitreden. Ich gucke halt immer Fußball. Der Fußball als täglicher Begleiter, das fällt jetzt gerade weg.

Der Dortmunder Uli Hesse arbeitet für das Fußball-Magazin "11 Freunde". © Privat
Dabei gibt es unter Fans ja viel Kritik am „modernen Fußball“ mit schwindelerregenden Ablösesummen und TV-Geldern. Jetzt vermissen ihn aber doch alle.
Vor vielen Jahren hab ich eine Reportage auf St. Pauli gemacht, über Fans, denen das sogar da beim FC St. Pauli zu kommerziell geworden ist. Die gehen seitdem zum Beispiel zu Altona 93 Fußball gucken. Aber auch das ist jetzt nicht möglich, gerade herrscht eine große Leere.
Wie sehen Sie das in Dortmund? Schafft der weltweit bekannte Verein den berühmten Spagat zwischen Borsigplatz und Shanghai?
Letztens bin ich gefragt worden, warum sich gerade die Dortmunder so über Hoffenheim echauffieren. Da habe ich geantwortet, dass wir gerade deshalb gegen diese Sache sind, weil wir diese ganz schlimme Phase Ende der 90er hatten, als der BVB richtig größenwahnsinnig wurde. Dafür hat man ein besonderes Gespür in Dortmund.
In der Tat ist der BVB das größte Beispiel, wie man versuchen muss, diesen Spagat hinzukriegen. Der Erfolg hat mit dem Verein ja auch etwas gemacht. Man muss schon seine Gesellschaft vor Ort repräsentieren, nicht nur den Borsigplatz, vielleicht eher Westfalen und das Ruhrgebiet. Es gibt aber auch viele Fans, die in ihrem Leben nur ein- oder zweimal überhaupt nach Dortmund kommen, wenn überhaupt. Der Fußball bedeutet für viele Leute sehr viel.
Dortmund ist in ganz vielerlei Hinsicht ein Sonderfall. So richtig aufgefallen ist mir das seitdem ich in Berlin lebe. Die Stadt hier ist ja wahnsinnig groß, da kann man lange durch die Straßen gehen und sieht nicht, dass Hertha oder Union ein Heimspiel haben. In Dortmund kann man von der Innenstadt zum Stadion laufen, da ist das ganz anders.
Wie hat sich die Fankultur in den vergangenen Jahrzehnten in Dortmund verändert?
Das ist ganz schwierig, kurz zusammenzufassen. Der Fußball war in den 80er- und 90er-Jahren ganz anders als heute. Meine Erinnerungen aus den 80ern sind eine halbleere Südtribüne und wir verlieren im Nieselregen gegen Waldhof Mannheim.
In den 90ern kam dann plötzlich der Erfolg und es wurde wahnsinnig voll. Bengalos kamen Anfang der 90er nach Dortmund, es gab einen richtigen Pyro-Tourismus. Ich hab mal mit einem Leverkusener Fan gesprochen, der wollte unbedingt mal diese südländische italienische Atmosphäre hier miterleben.
Was die Fankultur angeht, kam mit dem Erfolg Mitte der 90er ein Bruch. Zum Teil kam das durch die Erfolgsfans, die natürlich dazukamen. Und es war nach dem Stadionausbau nicht mehr so laut, nicht mehr so intensiv wie vorher.
Daraus entstanden dann Ende der 90er die Ultra-Gruppen. Da war für viele die Frage: „Wie kriegen wir wieder Stimmung ins Stadion, wie kriegen wir eine Geräuschkulisse hin?“ Auf der alten Südtribüne reichte es, wenn ein paar Hundert Leute Radau gemacht haben.
Fürs Publikum war Dortmund übrigens schon immer berühmt, auch weil das Westfalenstadion eins der wenigen richtigen engen Fußballstadien war. Der Bau des Westfalenstadions war für den BVB und für die Stadt Dortmund sehr wichtig.
Anfang dieses Jahres war Rassismus in den Stadien ein großes Thema.
In den 80ern gab es die Borussenfront, die ja eindeutig rechts war. Die zeigten eindeutig Position, da gab es auch regelmäßig Affenlaute und Asylanten-Gesänge in den Stadien. Damals bin ich sogar manchmal komisch angeguckt worden, wenn ich gesagt hab, dass ich regelmäßig ins Stadion gehe. In den 90ern gab es dann einen echten Fußballboom, der Fußball wurde sehr populär, sehr hip.
Die 20 Schwachköpfe von der Borussenfront waren dann deutlicher in der Minderheit, so passierte es, dass die Tribüne sich selbst zur Raison rief. Gewalt im und ums Stadion herum, Rassismus im und ums Stadion herum, beides ist sehr viel besser geworden. Was nicht heißen soll, dass man es heute verharmlosen soll, was auch für die Pyro-Sache gilt.
Hat sich das soziale Gefüge auf den Tribünen verändert?
Die Karten sind natürlich teurer geworden, aber ich habe persönlich den Eindruck, dass es zumindest auf der Südtribüne tatsächlich noch eine Durchmischung gibt, wie sie eigentlich immer war.
Es gab mal irgendein Pokalspiel, da kam ich nicht auf meinen Stamm-Stehplatz, weil der Durchgang verstopft war. Da bin ich mal an eine andere Stelle gegangen, nur zehn Meter entfernt, das war aber ein Ort, an dem ich noch nie war.
Da standen ganz viele 15- oder 16-Jährige und man hat gemerkt, dass es für sie etwas ganz Aufregendes war. Das erinnerte mich daran, wie es für mich als Kind hier war, in einer Menschenmenge, die flucht und schreit, Ausdrücke benutzt, die ich von zu Hause nicht kannte, die Bier tranken und rauchten. Nach meinem Empfinden ist das im Kern noch so wie es früher war.
Buch über 20 Jahre Fankultur
Das Magazin „11 Freunde“ gibt es seit 20 Jahren. Passend zum Geburtstag ist Ende März „Das große 11 Freunde Buch“ erschienen. Auf 456 Seiten sind die besten Geschichten aus zwei Jahrzehnten gesammelt. Das Buch ist für 25 Euro zu bestellen.Kevin Kindel, geboren 1991 in Dortmund, seit 2009 als Journalist tätig, hat in Bremen und in Schweden Journalistik und Kommunikation studiert.
