Langsam rollt der Hubsteiger der Stadt Dortmund über die Weide des Naturschutzgebiets Siesack. Die Heckrinder halten sich im südlichen Teil des riesigen Areals in Dortmund-Schwieringhausen auf. Der Zugang zum Storchenhorst ist frei.
Unter dem großen Nest auf einem Telegrafenmast stehen Dirk Lehmhaus, Betriebsleiter im städtischen Grünflächenamt, Dr. Erich Kretzschmar vom Nabu und Michael Jöbges. Letzterer ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Weißstörche in der nordrhein-westfälischen Ornithologen-Gesellschaft. Er wird die beiden Jungstörche beringen – die erste Brut in freier Natur auf Dortmunder Stadtgebiet.
Jöbges ist ein erfahrener Vogelkundler: 3100 Weißstörche hat er in den vergangenen 30 Jahren bereits gekennzeichnet. Noch am Boden greift er in einen Baumwollbeutel und holt zwei Paar schwarze Ringhälften heraus. Sie sind zusammensteckbar und tragen die Kennzeichnungen DEW 5V815 und 5V816.
Jungstörche überrascht
DEW steht für Deutschland West und die Vogelwarte Helgoland mit Sitz in Wilhelmshaven. Alle im norddeutschen Raum bis nach Hessen im Süden beringten Vögel tragen die Kennung. Weitere Beringungszentralen sind auf der Insel Hiddensee für Ostdeutschland und in Radolfzell am Bodensee für den süddeutschen Raum.
Es 17.06 Uhr an diesem Montagnachmittag (10.7.): Langsam steuert eine Mitarbeiterin des Grünflächenamtes den Korb des Hubsteigers in luftige neun Meter Höhe. Die Jungvögel liegen flach auf ihrem Reisigbett. Michael Jöbges legt die Ringhälften auf den Rand.
Überrascht vom einmaligen Besuch richten sich die Weißstörche auf. Behutsam legt Jöbges einem Tier sein Basecap auf den Kopf, dem anderen die Hand auf den Rücken, zieht sie ein wenig vom Rand des Nests zurück. Die Medienvertreter und wenigen eingeweihten Zuschauer auf der Weide halten die Luft an. Stille.

Ein kritischer Moment. „Das ist die Gefahr in dem Alter“, erklärt der Ornithologe später im Gespräch mit unserer Redaktion. „Mit neun Wochen können sie fliegen, aber wenn das ein Notflug ist, weiß ich nicht, wo der erste Flug landet.“ Der Schutz der Tiere gehe absolut vor. Zur Not würde er auf die Beringung verzichten.
Aufgrund Jöbges‘ ruhigen und besonnenen Vorgehens legen sich die Vögel jedoch wieder hin. Der Rest ist Routine und dauert nur eine Minute und sechs Sekunden. Der Fachmann zieht je ein Storchenbein nach hinten und befestigt oberhalb des Knies die schwarzen Markierungen.
„Die Nummern melde ich jetzt der Vogelflugwarte Helgoland“, erklärt er. Wo immer in Zukunft Vogelkundler, Naturliebhaber oder auch Spaziergänger einen beringten Storch entdecken, können sie die Nummer an die Vogelwarte Helgoland melden. Die Datenbank speichert die Hinweise – für die Wissenschaft.
„Abreise“ im August
Mit den Daten lassen sich ein wenig das Leben und die „Reiserouten“ der Zugvögel nachzeichnen. Die liegen, wenn man so will, in Korridoren. „Unsere Störche hier fliegen den westlichen Flyway und überwintern meistens auf der iberischen Halbinsel“, sagt Michael Jöbges. „Deswegen sind sie relativ früh im März wieder zurück.“
Dr. Erich Kretzschmar vom Nabu sieht in der Vogel-Beringung neben den Daten-Erkenntnissen auch einen Gewinn für den Naturschutz. „Wir können hier schützen, was wir wollen“, sagt er. „Wenn das Überwinterungsgebiet nicht funktioniert oder weg ist, dann kommen die Vögel nicht wieder und wir wundern uns hier.“
Das wird sich im nächsten Frühjahr zeigen. Denn die gefiederten Lieblinge von Spaziergängern und Radfahrern treten schon bald die Reise in den Süden an. „Anfang August“, rechnet Michael Jöbges. In den kommenden Tagen werden die Jungvögel im Naturschutzgebiet flügge und werden sich bei der Nahrungssuche selbst für die Reise in den Süden stärken.

Grünflächenamts-Betriebsleiter Dirk Lehmhaus hatte mit Mitstreitern vom Nabu von elf Jahren die Idee, den Horst auf der Heckrinder-Weide aufzustellen. Er geht davon aus, dass auch im Frühjahr 2024 ein Storchenpaar im Siesack brüten wird.
„Die nahen Lippe-Auen und das renaturierte Emschertal bieten ideale Bedingungen“, erklärt Ornithologe Jöbges. Und ein wenig Stolz klingt in der Stimme mit, wenn er zurückblickt. „1990 hatten wir in Nordrhein-Westfalen drei Storchenpaare“, sagt er. „Jetzt haben wir 700.“
In Olfen, Lünen oder Waltrop etwa hätten sich gleich mehrere Paare niedergelassen. „In Hamm-Heesen brüten acht Paare auf einer Mauer.“ Auch Dirk Lehmhaus setzt auf eine stärkere Population in Schwieringhausen. Im Winter will er mit Mitstreitern einen weiteren Horst bauen und in seinem Obstbaum-Garten aufstellen.

Derweil halten am Montag Spätnachmittag immer wieder Radfahrer an, Fußgänger wagen ein paar Schritte auf die Weide. „Sind sie schon weg?“, fragt eine Radfahrerin in Sorge und beinahe enttäuscht. Die Jungstörche liegen so flach in ihrem Horst, dass sie von unten nicht gesehen werden können.
Derweil fliegen die Storchen-Eltern in luftiger Höhe über das Naturschutzgebiet – mutmaßlich mit Futter. Fest steht: Sie werden den Menschen im Stadtbezirk Mengede in Erinnerung bleiben als erstes Paar, das in freier Natur in Dortmund Nachwuchs gebrütet hat.
Übrigens: Der kleine Namenswettbewerb unserer Redaktion für den Nachwuchs ist abgeschlossen. Der Vorschlag mit den meisten Stimmen geht nun an die Mengeder Bezirksvertretung. „Wir überlegen uns gerade etwas zur Patenschaft“, erklärt Bezirksbürgermeister Axel Kunstmann. Er gehört zu den „Eingeweihten“, die die Beringung an diesem Spätnachmittag beobachtet haben.
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