
Silvija Rostohar, Kitasozialarbeiterin beim Kinderschutzbund, im Gespräch © Schaper
„Eklatanter Mangel“: Für Masernimpfung keinen Kinderarzt gefunden
Kinderschutzbund alarmiert
Ohne die zweite Masernimpfung ist ein Schul- und Kitabesuch nicht möglich. Doch was macht man, wenn keine Kinderarztpraxis das Kind aufnimmt? Laut Kinderschutzbund ein echtes Problem in Dortmund.
Einen Kindergartenplatz für die Tochter einer zugewanderten Familie aus Serbien hat Silvija Rostohar relativ schnell gefunden. Doch an einem Termin für die zweite obligatorische Masernimpfung des Mädchens vor dem Kindergartenbesuch und für ihre beiden Geschwister ist die Kita-Sozialarbeiterin fast verzweifelt.
Silvija Rostohar arbeitet beim Kinderschutzbund in der Dortmunder Nordstadt. Wie mit der Mutter der serbischen Familie erlebt sie immer wieder in den Beratungsgesprächen, dass Eltern keinen Kinderarzt finden. Wenn die Kinder nicht schon als Säuglinge in einer Praxis aufgenommen worden seien, heiße es oft: „Wir nehmen keine weiteren Kinder mehr auf.“
Es gebe in Dortmund einen „eklatanten Mangel an Kinderärzten“, kritisiert Martina Furlan, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes. „Wir bekommen häufig auch Anfragen von anderen Trägern, ob wir von Kinderärzten wüssten, die noch Kinder aufnehmen.“ Auch wenn Eltern den Kinderarzt wechseln wollten, gebe es oft keine Chance.
Auch Beschwerden bei der Kassenärztlichen Vereinigung
Die Familie aus Serbien hat noch keinen Kinder- und keinen Hausarzt. Sie lebt seit rund drei Monaten in Dortmund. Der Vater hat einen Aufenthaltstitel, die Kinder sind über ihn krankenversichert. Dennoch holte sich Silvija Rostohar bei ihren Anfragen eine Abfuhr nach der anderen, selbst als ein Kollege in einer benachbarten Kinderarztpraxis erst telefonisch und dann persönlich vorgesprochen hatte.
„Wären die Kinder entweder nicht krankenversichert gewesen oder aus der Ukraine zugewandert, hätte es jeweils Lösungen gegeben“, sagen Martina Furlan und Silvija Rostohar. Dann ist nämlich das Gesundheitsamt zuständig.
Auch Dr. Prosper Rodewyk, Bezirksstellenleiter der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) in Dortmund und selbst niedergelassener Hausarzt in Hörde, bekommt in der KVWL-Bezirksstelle immer wieder Beschwerden von Familien, die keinen Kinderarzt finden.
Dortmund ist formal mit Kinderärzten überversorgt
Dabei dürfte es solch einen Engpass eigentlich gar nicht geben; denn „formal ist Dortmund nach der Bedarfsplanung ,überversorgt‘ mit über 110 Prozent“, so Rodewyk. Die bundesweite Bedarfsplanungsrichtlinie gibt vor, dass auf eine gewisse Anzahl Kinder eine entsprechende Anzahl Kinderärzte existieren muss.
Allerdings, schränkt Rodewyk ein, würden bei Kinderärzten auch fachärztliche Praxen, wie Kinderendokrinologie und Kinderkardiologie (je zwei in Dortmund) formal mitgezählt, nähmen aber gar nicht an der Basisversorgung teil.
Zudem gibt es in Dortmund noch eine primär auf Kinderpulmologie und eine Neuropädiatrisch orientierte Praxis, die ebenfalls überwiegend solche Kinder versorgen. „Somit fehlen diese in der kinderärztlichen Basisversorgung. Die bundesweite Bedarfsplanung sieht diese Zuordnung aber so vor“, sagt Rodewyk.
Die Arbeit ist mehr geworden
Er sieht noch einen Grund, warum die Zahl der Kinderarztpraxen nicht zur Nachfrage passt. Die Bedarfsplanung sei seit 25 Jahren gleich, die vorgeschriebenen Vorsorgeuntersuchungen, sogenannte U-Untersuchungen, habe der Gesetzgeber aber von drei auf heute neun ausgeweitet. Rodewyk: „Der Verteilungsschlüssel ist gleich geblieben, die Arbeit aber mehr geworden.“
Auch eine plötzliche Zunahme an Kindern wie in der Flüchtlingswelle sei bei dieser Berechnung nicht eingeplant, so der Mediziner. „Zudem haben die verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen, die zu einem bestimmten Alter erfolgen müssen, die Termine in vielen Kinderarztpraxen blockiert, diese Zeiten stehen für die Behandlung banaler Erkrankungen nicht zur Verfügung.“ Denn nehmen Kinder nicht an den Vorsorgeuntersuchungen teil, gebe es eine Meldung an das Jugendamt.
Grundsätzlich würde die KV einem Antrag zusätzlicher Kinderärzte in der Versorgung nicht entgegenstehen, versichert der Bezirksstellenleiter, allerdings entscheide der autarke Zulassungsausschuss aus Krankenkassen und KV-Vertretern. Und auch die Bereitschaft zur eigenständigen Niederlassung sei bei weiblichen Kinderärzten seltener vorhanden.
Gleichmäßige Verteilung über das Stadtgebiet
Die KVWL achte auf eine gleichmäßige Verteilung der Praxen über die Stadtteile, so der Bezirksstellenleiter, „die Übernahme einer Praxis in einem schwach versorgten Gebiet und die Verlegung zum Beispiel in den Süden oder die Innenstadt würde nicht genehmigt werden.“
Trotz allem sollte die Versorgung mit Masernimpfung kein Problem darstellen, meint Rodewyk, da der Impfstoff ausreichend vorhanden sei und diese Impfung auch bei allen Hausärzten durchgeführt werden könnten, wenn es an Terminen mangele. Aber auch Rodewyk weiß, dass die meisten Hausärzte Kinder vor dem Schulalter ablehnen.
Diese Erfahrung hat auch Silvija Rostohar bei ihrem Einsatz für die serbische Familie machen müssen. Weil sie keinen anderen Ausweg wusste, hat sich die Kita-Sozialarbeiterin an das Dortmunder Gesundheitsamt gewandt. Das erklärte sich zunächst für nicht zuständig, weil die Kinder krankenversichert seien und nicht aus der Ukraine kämen.
Gesundheitsamt schließt Impflücken
„Familien, die das deutsche System der medizinischen Versorgung nicht gut kennen und bei denen auch sprachliche Verständigungsprobleme bestehen, haben mitunter Schwierigkeiten, einen Kinderarzt in Dortmund zu finden“, bestätigt auch Stadtsprecherin Katrin Pinetzki. Dem Gesundheitsamt sei dies bekannt und es schließe in diesen Fällen die Impflücke zur Masernimpfung, „auch für krankenversicherte Kinder“.
Dr. Frank Renken, Leiter des Gesundheitsamtes, ergänzt: „Für uns spielt die Nationalität der Kinder keine Rolle. Es ist die Aufgabe der Gesundheitsämter, Impflücken bei Kindern zu schließen. Das gilt unabhängig vom Versichertenstatus.“
Zusätzlich zu den Impfungen, die im Gesundheitsamt durchgeführt würden, fahre die Koordinierende COVID-Impfeinheit (KoCI) in der kommenden Woche in die Flüchtlingsunterkunft Grevendiecks Feld und impfe dort rund 30 nicht-ukrainische geflüchtete Kinder gegen Masern.
Impftermin blieb auf dem Schreibtisch liegen
Doch Silvija Rostohars Erfahrung war eine andere. Sie wurde nach der ersten Ablehnung vom Gesundheitsamt an eine andere Abteilung verwiesen, die sich um Akutfälle kümmert. Dort kam die Ablehnung mit der Begründung, dass die Kinder nicht akut erkrankt seien. Man sei nur für solche Fälle zuständig.
Schließlich kontaktierte Silvija Rostohar eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes, mit der sie schon in der Corona-Zeit eng zusammengearbeitet hat. Die legte sich ins Zeug und leitete einen Impftermin für die drei Kinder in die Wege, aber weil wohl die zuständige Kollegin im Urlaub weilte, blieb der Termin auf dem Schreibtisch liegen und die Familie hing weiter in der Warteschleife.
Die Kita-Sozialarbeiterin entschloss sich am Ende, ihre eigene Hausärztin anzurufen und um einen Impftermin für die drei Kinder zu bitten. Die Ärztin willigte ein – und beendete damit eine Odyssee, sagt Martina Furlan, „die die Familie allein gar nicht und letztlich nur durch private Kontakte erfolgreich lösen konnte.“
Stellvertretende Leiterin der Dortmunder Stadtredaktion - Seit April 1983 Redakteurin in der Dortmunder Stadtredaktion der Ruhr Nachrichten. Dort zuständig unter anderem für Kommunalpolitik. 1981 Magisterabschluss an der Universität Bochum (Anglistik, Amerikanistik, Romanistik).
