Die Schneiderwerkstatt im Plovdiver Sozialzentrum bildet Frauen aus dem Stadtbezirk Stolipinovo für Arbeitsplätze in der Textilindustrie aus.Die Nationale Allianz für die Arbeit mit Freiwilligen finanziert das Projekt mit Spenden. Öffentliche Zuschüsse gibt es nicht.

Die Schneiderwerkstatt im Plovdiver Sozialzentrum bildet Frauen aus dem Stadtbezirk Stolipinovo für Arbeitsplätze in der Textilindustrie aus.Die Nationale Allianz für die Arbeit mit Freiwilligen finanziert das Projekt mit Spenden. Öffentliche Zuschüsse gibt es nicht. © Peter Bandermann

Eine Schneiderwerkstatt qualifiziert für Arbeitsplätze und erhält keine Zuschüsse

rnDortmund und Osteuropa

2015 eröffnete in Bulgarien eine Schneiderwerkstatt, um Frauen für die Textilindustrie zu qualifizieren. Das Projekt ist ein Erfolg – und untypisch für Bulgarien.

Dortmund

, 19.03.2019, 17:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

2014 stand die „Nationale Allianz für die Arbeit mit Freiwilligen“ (NAVA) in der vierten Etage des Sozialzentrums „Sveti Georgi“ (Heiliger Georg) der bulgarischen Stadt Plovdiv noch in einer Baustelle. Handwerker setzten neue Fenster ein, strichen die Wände weiß und warteten die aus Deutschland importierten Nähmaschinen.

Im Februar 2015 gab es einen anderen Dresscode: Hochrangige Politiker aus Sofia kamen in Anzügen vorbei, um Bulgariens erstes großes Sozialprojekt für die Qualifizierung von Frauen zu bestaunen. Das Medieninteresse war groß. Die Schneiderwerkstatt schaffte es in die Hauptnachrichten bulgarischer TV-Sender.

Frauen aus Stolipinovo

Vier Jahre später, im März 2019. Das mit vier Frauen gestartete und zwischenzeitlich auf 15 Teilnehmerinnen in zwei Schichten aufgestockte Qualifizierungsprojekt für Frauen aus dem Elends-Bezirks Stolipinovo hat die Teilnehmerzahl auf 7 heruntergeschraubt, denn die Suche nach Spenden ist nicht einfacher geworden. Angeschoben wurde das Projekt auch mit Spenden aus Dortmund. Und die Hoffnung auf öffentliche Zuschüsse nach dem großen politischen Interesse am Eröffnungstag vor vielen Foto- und Fernsehkameras ist abgeflacht.

Maria Shishkova managt die Schneiderwerkstatt in Plovdiv. Frauen aus Stolipinovo absolvieren eine einjährige Ausbildung. Öffentlich gefördert wird die Werkstatt allerdings nicht.

Maria Shishkova managt die Schneiderwerkstatt in Plovdiv. Frauen aus Stolipinovo absolvieren eine einjährige Ausbildung. Öffentlich gefördert wird die Werkstatt allerdings nicht. © Peter Bandermann

„Sie können von einem besseren Leben träumen und bekommen endlich einmal Perspektiven“, sagt Projektmanagerin Maria Shishkova über die teilnehmenden Frauen aus Stolipinovo, wo 55.000 Menschen leben. Die meisten sind Roma. Häufig brechen Mädchen schon als 14-Jährige die Schule ab, weil sie ein Baby erwarten. Die meisten der Näherinnen haben Stolipinovo nie zuvor verlassen und zum ersten Mal die große Hauptstraße, den Boulevard Tsarigradsko Shose, überquert, als sie in der Schneiderwerkstatt ihren Ausbildungsplatz angenommen haben.

Frauen verdienen zum ersten Mal eigenes Geld

„Manche von ihnen waren noch nie in einer Schule. Sie fangen hier bei Null an“, berichtet Maria Shishkova über die 18- bis 50-Jährigen, die nicht nur zum ersten Mal in ihrem Leben Geld verdienen, sondern auch an Selbstbewusstsein gewinnen. Maria Shishkova weiß, dass viele Bulgaren ihr Land in Richtung Westdeutschland verlassen haben und weiter verlassen werden.

„Viele Bulgaren denken ständig darüber nach: Gehe ich? Oder bleibe ich? Aber wenn diese Frauen hier einen Arbeitsplatz finden, dann bleiben sie“, erklärt die Projektmanagerin. In Plovdiv gibt es 45 Textilunternehmen. Sie sind ständig auf der Suche nach Arbeitskräften. So, wie die Frauen von einem besseren Leben träumen, träumt Maria Shishkova von noch größeren Ausbildungskapazitäten, damit noch mehr Frauen für einen Arbeitsplatz qualifiziert werden können.“ Doch zwischendurch drohte der Schneiderwerkstatt der Untergang. Weil das Geld fehlte.

Großer Bedarf auf dem Arbeitsmarkt

„Die Werkstatt musste die Kapazitäten herunterfahren, obwohl auf dem Arbeitsmarkt ein großer Bedarf an Näherinnen besteht“, sagt der Journalist Mirko Schwanitz, der sich seit den 1990er-Jahren ehrenamtlich in Bulgarien engagiert. „Leider gibt es keinen sozialen Arbeitsmarkt“, stellt er fest, „nach einem optimistischen Start der Schneiderwerkstatt gibt es jetzt keinen politischen Willen.“

Bulgariens zentralistische Regierung in der Hauptstadt Sofia habe für soziale Dienstleister dieser Kategorie nie „eine Linie aufgemacht“. Also nicht dafür gesorgt, dass die Europäische Union dieses Projekt fördert. Anders als in Dortmund, wo eine Schneiderwerkstatt mit EU-Geld bereitwillig unterstützt worden ist.

Wieder zurück aus Duisburg

Familienangehörige der 32-jährigen Sevda Dimitrova aus dem 2019er-Lehrgang in der Schneiderwerkstatt leben in Gladbeck im Ruhrgebiet. „Sie führen ein besseres Leben. Wer Stolipinovo einmal verlassen hat, will nie wieder zurück“, sagt sie über die Lebensbedingungen in dem Elends-Bezirk. Kalina Golova (32) widerspricht: „Ich war vor vier Jahren in Duisburg. Aber wir waren nicht glücklich. Das war nicht das, was man uns hier versprochen hat“, sagt sie.

Sevda Dimitrova weiß, dass die Europäer Ende Mai 2019 ein neues Parlament wählen. Aber sie weiß nicht, warum sie selbst wählen sollte. Europa sei „so weit weg“.

Ein eigenes Einkommen

Stolipinovo verlassen? „Niemals“, sagt Sevilen Tair. Die 20-Jährige will durch eigene Arbeit zum Familieneinkommen beitragen, fordert eine bessere Schulausbildung für die Kinder aus Stolipinovo und mehr Ausbildungsprogramme wie die Schneiderwerkstatt.

Ausbildung an der Nähmaschine: Sevelin Tair aus Stolipinovo (inks) und eine Ausbilderin in der Schneiderwerkstatt.

Ausbildung an der Nähmaschine: Sevelin Tair aus Stolipinovo (inks) und eine Ausbilderin in der Schneiderwerkstatt.

Die Schneiderwerkstatt hat der Europa-Pessimistin Sevda Dimitrova ein neues Leben ermöglicht. „Diese Arbeit verändert das Leben vollständig. Ich konnte schon neue Möbel für unsere Wohnung kaufen und sogar den Kindern etwas schenken. Und es ist schön zu wissen, dass man keine Angst mehr haben muss, ob es im nächsten Monat noch Geld gibt.“