
Nadila Shatalova (l.), ihre Söhne Artur (Mitte) und Meron (schlafend im Kinderwagen), Maryna Symonova in der Dortmunder Innenstadt. Sie sind vor dem Krieg in der Ukraine geflohen und sprechen darüber, wie sich die Situation für sie sieben Monate nach Kriegsbeginn anfühlt. © Felix Guth
Ukrainerinnen in Dortmund: „Der Große fragt immer, wann wir wieder zurückkönnen“
Geflüchtete Frauen
Seit Februar ist die Ukraine ein Kriegsgebiet. Mehr als 6000 Menschen sind seitdem nach Dortmund gekommen. Zuletzt wurde mehr über sie gesprochen als mit ihnen. Zeit zum Zuhören.
Wer mit Nadila Shatalova und Maryna Symonova (35) spricht, benötigt Kraft. Denn was sie schildern, sind belastende Szenen aus dem echten Krieg. Was wir auf dem Bildschirm sahen und sehen, haben die beiden Frauen in Wirklichkeit durchlebt. Und längst nicht überwunden, auch wenn sie in Sicherheit sind.
Ein bestimmender Teil des Tages besteht aus dem Warten auf die Nachrichten aus der Heimat. Nadila Shatalovas Ehemann ist als Soldat im Einsatz. Mit ihrem ältesten Sohn Artur (11) sehnt sie täglich den Moment herbei, in dem er ihnen sagt, dass er in Sicherheit ist.
„Der Große fragt immer, wann Papa uns endlich sagt, dass wir wieder zurückkönnen“, sagt die Mutter.
Mutter brachte Kind im Keller eines Krankenhauses zur Welt
Auf ihrem Arm sitzt ihr jüngster Sohn Meron, sechs Monate alt. Geboren ist er in der Ukraine, im Keller eines Krankenhauses in Saporischja.
Bomben seien auf die Stadt gefallen, als sie entbunden habe. Ihr Neugeborenes sah Nadila Shatalova zum ersten Mal im Schein einer Taschenlampe, weil im Krankenhaus die Lichter gelöscht werden mussten. Acht Tage später verließ sie mit den Kindern das Land.
Meron strahlt die sprechenden Menschen um ihn herum an, saugt das Gemisch aus Ukrainisch und Deutsch sichtbar auf. Das, worüber gesprochen wird, kann er glücklicherweise noch nicht verstehen.
Nach einer Milchflasche schläft er auf dem Arm seiner Mutter ein, während das Gespräch über die Schrecken des Krieges weiterläuft.
Belagerung im Asow-Stahlwerk
Maryna Symonova erzählt davon, wie sie die Belagerung des Asow-Stahlwerks in der Stadt Mariupol im März überstanden hat. Vier Wochen harrte sie im Februar und März mit 50 weiteren Menschen in einem kalten Keller aus.
Unter Beschuss aus der Luft durften Zivilisten Ende März das Stahlwerk-Gelände verlassen - unter der Bedingung, sich auf russisches Territorium zu flüchten. Maryna Symonova schaffte es schließlich, mit ihrem Sohn über Georgien und Polen nach Deutschland zu gelangen.
„Das Heimweh ist sehr groß“, sagt sie. Zugleich versucht sie Fuß zu fassen in der neuen Umgebung. Als Schülerin hatte sie Deutsch-Unterricht. Das hilft ihr jetzt, schnell aufzuholen.
Schon seit längerem hilft sie in einer Schule in der Dortmunder Nachbarstadt Lünen dem Lehrpersonal dabei, ukrainische Kinder einzubinden. In Kürze beginnt sie in dieser Funktion in einer festen Anstellung.
In einigen Momenten kommt das Erlebte schmerzhaft wieder hoch
Sie könne über das Erlebte sprechen, sagt sie. Doch es gebe immer wieder Momente, wie den während einer S-Bahn-Fahrt, als sie unvermittelt habe beginnen müssen zu weinen.
Weil es für sie immer noch nicht realisierbar ist, dass ihr Leben in Mariupol, das sie vor dem 24. Februar 2022 geführt hat, nur noch auf Fotos auf ihrem Smartphone existiert. Weil der Ort, wie sie ihn kennt, nicht mehr existiert.
In Kürze wird sie einen Teil ihrer Familie wieder treffen, in einem vergleichsweise sicheren Teil der Ukraine im Westen. Beide Seiten werden danach wieder in eine ungewisse Zukunft auseinandergehen müssen. Es sind Gedanken wie dieser, die Maryna Symonova zum Weinen bringen.
74 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge sind Frauen
Die beiden Frauen stehen stellvertretend für Tausende Ukrainerinnen, die in Deutschland mit ihren Kindern auf sich allein gestellt sind. Laut Bundesinnenministerium sind 74 Prozent der aus der Ukraine Geflüchteten weiblich. Viele Familien seien „auseinandergerissen“ worden.
In den ersten Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges ist in Deutschland viel über die Schicksale dieser Menschen gesprochen worden. Ab einem gewissen Punkt ist der Konflikt – so bitter das klingt – zu einer Nachrichten-Routine geworden.
Menschen, die aus Dortmund in ihrer Heimat mit Spenden helfen, spüren das an einem zurückgehenden Spendenaufkommen. Sie spüren das an Debatten über einen Begriff wie „Sozialtourismus“, also den Vorwurf, Geflüchtete aus der Ukraine würden das deutsche Hilfssystem ausnutzen.
Es gebe „einen kleinen Prozentsatz“, der der Ansicht sei, Deutschland und Europa müssten alles für sie bereitstellen, sagen die beiden Frauen. Sie selbst seien unendlich dankbar für die Hilfe in Deutschland.
Viele Geflüchtete möchten wieder zurück
Nadila Shatalova und ihre Kinder erhielten in den ersten Monaten Hilfe von einem aus dem Libanon stammenden Mann. Sie leben jetzt in der Nordstadt in einer eigenen Wohnung. „Ich bin glücklich, dass die Kinder in Sicherheit sind. Aber ich möchte gerne so schnell wie möglich wieder zurück. Das ist mein Zuhause“, sagt sie.
Artur hat noch keinen Schulplatz in Dortmund bekommen, erhält im Moment Online-Unterricht in seiner ukrainischen Schule. Der Elfjährige sei „erwachsen geworden“, aber auch verschüchtert und häufig traurig. Es wird in diesem Moment klar, dass er im Gegensatz zu seinem kleinen Bruder all die Schilderungen von Kriegsverbrechen verstehen kann.
Für die beiden Mütter gibt es nur einen möglichen Ausgang dieses Krieges. „Wir glauben an einen Sieg und daran, dass Putin aus dem Land wieder rausgeht“, sagt Maryna Symonova.
Sie können nur aus der Ferne beobachten, wie sich die Lage entwickelt. Und denen helfen, die dableiben mussten, indem sie Hilfstransporte oder Demonstrationen organisieren.
Krieg erzeugt Hass und Unversöhnlichkeit
Es wird in dem Gespräch etwas deutlich, das Krieg auslöst, auch, wenn Menschen nicht direkt Opfer von Kampfhandlungen werden. Die beiden Frauen sagen, sie hätten den „Hass“ gespürt, mit dem russische Soldaten vorgegangen seien.
Sie erzählen vom Beschuss von Schulen, der Bombardierung von Medizinlagern oder Vergewaltigungen von Minderjährigen und Alten. „Das alles hat nicht Putin selbst gemacht“, sagt Symonova.
Deshalb empfinden auch sie nach eigener Aussage wenig Mitgefühl für russische Familien, die jetzt um ihre Söhne weinen, die in das Militär eingezogen werden.
Ob russischen Deserteuren in Deutschland Asyl gewährt werden solle? Shatalov und Symonova sind sich bei dieser Frage, in der manche auch ein Sicherheitsrisiko für Deutschland sehen, nicht sicher. „Es ist jedenfalls besser, wenn sie hier sind, als wenn sie dort bleiben und gegen Ukrainer kämpfen.“
Seit 2010 Redakteur in Dortmund, davor im Sport- und Nachrichtengeschäft im gesamten Ruhrgebiet aktiv, Studienabschluss an der Ruhr-Universität Bochum. Ohne Ressortgrenzen immer auf der Suche nach den großen und kleinen Dingen, die Dortmund zu der Stadt machen, die sie ist.
