Das Thema tut weh, es reizt, bewegt und bereitet den Nachfahren mehr als sieben Jahrzehnte danach noch schlaflose Nächte. Renate Schröder aus Dortmund-Brechten ist hin- und hergerissen, als unsere Redaktion sie um einen Termin bittet. Wir möchten gemeinsam mit ihr in die Dokumente schauen, die bei unseren Recherchen zu ihrer Mutter aufgetaucht sind. Elisabeth Radojewski war zwischen Sommer 1943 und Kriegsende in mehreren Konzentrationslagern eingesetzt und beaufsichtigte Häftlingsfrauen in der Schneiderei und auf dem Kartoffelfeld, arbeitete in der Effektenkammer, in der Verwaltung, kontrollierte in der Poststelle ankommende Pakete für Häftlinge. Allein neun Monate verbrachte sie als SS-Aufseherin im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Die Angst vor der Wahrheit
Gerne würde Renate Schröder mehr über die Zeit ihrer Mutter in Auschwitz erfahren. Und doch ist die Angst groß, die vorliegenden Akten könnten Details offenbaren, die ihre Mutter verschwiegen hat, als sie einige Jahre vor ihrem Tod ihr Geheimnis lüftete. Renate Schröder sagt Terminen mit unserer Redaktion zu. Dann wieder ab. Insgesamt zweimal. Sie habe Angst, in die Akten zu schauen, kämpfe mit schlaflosen Nächten. Die innere Zerrissenheit zeugt von der Sorge über den Umgang mit der eigenen Familien-Geschichte. Nach Wochen dann bietet die 56-Jährige doch noch ein Gespräch an. Zu groß ist die Neugierde.
Renate Schröder denkt oft an die Situation vor einigen Jahren zu Hause im Wohnzimmer. Es kam ihr vor, als wolle ihre Mutter, damals 75, reinen Tisch machen, endlich loswerden, worüber sie jahrzehntelang geschwiegen, was sie so lange Zeit bedrückt hatte. Am Ende zog Elisabeth Radojewski neben ihrem Ehemann nur noch ihre Tochter ins Vertrauen. Nicht den Sohn. Und auch keine Freunde.
So stellt man sich keine SS-Aufseherin vor
„Als ich es zum ersten Mal hörte, war ich geschockt“, sagt Renate Schröder. Ihre Mutter? Als junge Frau von der SS angeworben? Aufseherin in Auschwitz? Nach dem Krieg vom sowjetischen Militärtribunal zu lebenslanger Haft verurteilt? „Warum sie? Warum nur in unserer Familie? Ich konnte es nicht fassen.“
Ein Foto der jungen Elisabeth Radojewski steht gerahmt auf dem Tisch, in Schwarz-Weiß. Es zeigt eine 19-jährige Frau - 1,60 groß, zierlich, kreisförmiges Gesicht, braune Haare, Scheitel und kreisrunde Ohren. Ein niedlicher Anblick. So stellt man sich keine SS-Aufseherin vor.

Und auch der Tochter fällt es schwer, ihre Mutter als Täterin zu sehen. „Sie war auch Opfer“, sagt Renate Schröder. „Sie war jung, sie hat sich von den Nazis verführen lassen. Sie wusste doch damals gar nicht, was das heißt, als Aufseherin in einem Konzentrationslager zu arbeiten.“ Dass ihre Mutter von der lebenslangen Haft letztlich nur zehn Jahre absitzen musste, habe sie ehemaligen Häftlingen zu verdanken, die sich nach dem Krieg für sie verbürgt hätten, erzählt die Tochter. Ihre Mutter sei im Gegensatz zu anderen Aufseherinnen, die aufgrund ihrer Brutalität nach dem Krieg zum Tode verurteilt worden seien, gut zu den KZ-Häftlingen gewesen. Es ist die Geschichte, die ihre Mutter erzählt hat. Die sowjetischen Ermittlungsakten, die heute in der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin lagern, legen aber auch noch andere, unangenehme Fakten offen.
22 Jahre jung ist Elisabeth Radojewski im Mai 1943. Sie arbeitet in einer Filmfabrik in Wolfen in ihrem Heimatkreis Bitterfeld, als in der Belegschaft KZ-Aufseherinnen rekrutiert werden. „Ihr müsst auf ein paar Häftlinge aufpassen - und könnt dabei gut verdienen“, habe es geheißen. Die junge Frau tritt freiwillig der SS bei, wird daraufhin ab Juni 1943 ins Konzentrationslager Ravensbrück (28.000 Todesopfer), ab Juli 1943 Maidanek-Lublin (78.000 Todesopfer) und ein knappes Jahr später in Auschwitz (1,1 Millionen Todesopfer) in verschiedenen Funktionen eingesetzt.
Am 15. April 1944 wird Elisabeth Radojewski mit Dutzenden anderen Aufseherinnen vom KZ Lublin ins KZ Auschwitz versetzt. Ein Blick in die Chronik der Vernichtung zeigt den Grund für dringenden Personalbedarf im Vernichtungslager: Im Mai 1944 beginnt nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn die Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz-Birkenau. Innerhalb der nächsten zwei Monate kommen hier 424.000 Juden zur Vernichtung an. Die Akten geben Hinweise darauf, dass Radojewski damals im Frauenblock des KZ Birkenau mit bis zu 30.000 Häftlingen eingesetzt wird. Auch gegenüber ihrer Tochter spricht sie später davon, in Birkenau gewesen zu sein.

Im Frauenlager herrschen unbeschreibliche Zustände, hier herrscht Oberaufseherin Maria Mandl, die nach dem Krieg als „Bestie von Auschwitz“ zum Tode verurteilt und hingerichtet wird. Sie wählt unter den Zwangsarbeiterinnen jene für den Tod in den Gaskammern aus, beteiligt sich an Misshandlungen und stellt das Mädchenorchester zusammen, das Appelle und Hinrichtungen von Gefangenen musikalisch begleiten muss. Auch Elisabeth Radojewski berichtete ihrer Tochter von „grausamen Aufseherinnen“, die Menschen gequält haben. „Sie sprach von einer Frau, die abgerichtete Hunde auf die Häftlinge losgelassen hat. Schrecklich“, sagt Renate Schröder. Dass ihre Mutter selbst jemanden misshandelt haben könnte, ist für die Tochter unvorstellbar – bis zu einem Blick in die Berliner Akten. Renate Schröder liest, schluckt und verstummt für einen Moment.
Denn als ihre Mutter im Juni 1948 in der Sowjetischen Besatzungszone verhaftet wird, gibt Elisabeth Radojewski in einer Vernehmung selbst zu, Häftlinge geschlagen zu haben.
„Ich bekenne (…) voll und ganz, dass ich als Aufseherin in den Lagern Maidanek und Auschwitz wegen Verletzung der Lagerordnung und wegen schlechter Arbeitsleistung Häftlinge geschlagen habe (…) Die Häftlinge, die ich geschlagen habe, waren Russinnen und Jüdinnen, wie viele ich von ihnen je geschlagen habe, weiß ich nicht. Die Schläge (…) gab ich mit der Handfläche in das Gesicht und in jedem Falle 1 bis 2 Schläge“ Elisabeth Radojewski, 17. Juni 1948, Sowjetische Militärstaatsanwaltschaft
Für Renate Schröder sind diese Aussagen ein Schock. „Das hat sie mir damals verschwiegen. Das wusste ich nicht.“ Sofort schießen ihr Erlebnisse ins Gedächtnis. „Bei einer Auseinandersetzung hat sie einmal unserer Nachbarin einen Schlag ins Gesicht versetzt. Da musste ein Schiedsmann schlichten. Mein Bruder hat früher als Kind auch das eine oder andere Mal Schläge bekommen. Aber zeigen diese Beispiele eine grundsätzliche Gewaltbereitschaft, die für sie Auschwitz erst möglich machte? Ich weiß es nicht.“
„Sie hat die Bilder nicht mehr aus ihrem Kopf bekommen“
Renate Schröder beschreibt ihre Mutter als resolut, direkt und manchmal launisch. „Im Grunde aber war sie eine liebevolle Mutter. Uns hat es an nichts gefehlt.“ Ihre Erlebnisse als Wärterin in Auschwitz und die folgende Inhaftierung haben sie zeit ihres Lebens nicht losgelassen. „Ich weiß, dass sie oft wach gelegen und die Bilder nicht aus dem Kopf bekommen hat“, sagt die Tochter. Und jetzt, wo sie schwarz auf weiß in den alten DDR-Akten liest, dass sie zehn Jahre lang im Frauengefängnis Hoheneck in Einzelhaft saß, mit Gewichtsverlust und Schikanen zu kämpfen hatte, ringt die Tochter um Fassung. „Umgekehrte Welt. In der Zeit war sie selbst Gefangene, in einem undemokratischen System den Wärtern ausgeliefert. Das war ihre Strafe.“
„Die Strafvollzugsanstalt Hoheneck kommt einem KZ gleich, und alles, weil hier eine Frau regiert, die nur schikaniert.“ Elisabeth Radojewski, Vernehmung, 20. Februar 1953
Elisabeth Radojewski, die nach ihrer vorzeitigen Haftentlassung 1956 zu ihrem Ehemann nach Dortmund zog und zuletzt bis zu ihrem Tod 2010 in einem Pflegeheim im Stadtteil Brackel lebte, hat ihre Zeit in Auschwitz bereut, sagt die Tochter. „Sie hat sich diesen Fehler bis zu ihrem Lebensende nicht verziehen. Meine Mutter hat mir gegenüber mehrfach bedauert, dass sie das Angebot damals angenommen hat. Sie hat sich von dem lukrativen Job locken lassen, ohne zu wissen, was wirklich auf sie zukommt. Die Menschen. Die vielen Opfer. Und dann war es zu spät“, glaubt Renate Schröder.
„Sie hat einen unentschuldbaren Fehler gemacht“
Aber stimmt das? War es wirklich zu spät? Es gibt mehrere Beispiele von KZ-Aufseherinnen, die ihren Dienst quittiert haben. Ohne Konsequenzen. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, die bis heute alle Ermittlungen wegen NS-Verfahren koordiniert, kommt in einer wissenschaftlichen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass es bis heute keinen nachweisbaren Fall gibt, in dem einem SS-Angehörigen, der einen Mordbefehl verweigerte, selbst Gefahr für Leib und Leben drohte. „Und doch war der ideologische Druck in dieser Zeit sehr hoch. Ich will das Tun meiner Mutter nicht verteidigen oder entschuldigen. Sie hat einen unentschuldbaren Fehler gemacht. Aber ich denke, niemand, der den ideologischen Druck dieses Systems nicht selbst erlebt hat, sollte darüber urteilen.“
„Über Häftlingstötungen kann ich eigentlich gar keine Angaben machen. Ich selbst habe jedenfalls nie eine Häftlingstötung gesehen. Ich habe überhaupt nur einmal einen Toten gesehen, der an einem heißen Tag von einem Außenkommando ins Lager gebracht wurde.“ Elisabeth Radojewski, 27. August 1975, Staatsanwaltschaft Köln
Dass ihre Mutter neun Monate in Birkenau eingesetzt war, von der Massenvernichtung aber nichts mitbekommen haben will, wie sie nach dem Krieg mehrfach beteuerte, bezweifelt Renate Schröder schon zu Lebzeiten der Mutter. Und auch der Berliner Historiker Jens Nagel, Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain, hält das nicht für vorstellbar: „Kein SS-Angehöriger, der in den Konzentrationslagern Dienst versehen hat, kann ernsthaft behaupten, von den Gräueltaten und dem Massenmord nichts gewusst zu haben.“
Allein die Tatsache, dass diese Männer und Frauen kaserniert untergebracht gewesen seien, habe ganz sicher dazu geführt, dass jeder davon wusste, was in dem jeweiligen Konzentrationslager passierte, sagt Nagel. Zudem bewegten sich die SS-Angehörigen im Lager, sahen den physischen Niedergang der Häftlinge tagtäglich, die Leichen, rochen den Gestank. „Auch Frauen wie Elisabeth Radojewski haben den kontinuierlichen Rauch aus den Krematorien aufsteigen sehen, das weitgehende Verschwinden der Kinder, Alten und vieler Frauen unmittelbar nach ihrer Ankunft.“ Solche Schutzbehauptungen hätten nur so lange aufrechterhalten werden können, weil die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft den Boden dafür bereitete, sich mit solchen Entschuldigungsstrategien in die Gesellschaft einzugliedern, betont Nagel.
„Vielleicht war es eine Schutzbehauptung, vielleicht hat sie gelogen“, sagt Renate Schröder. „Vielleicht hat sie es aber auch einfach nur verdrängt. Es ist in dieser Zeit einfach alles möglich.“
Der Schwager, ein KPD-Mann, wird von den Nazis hingerichtet
In der NSDAP war Elisabeth Radojewski nie. Das belegt die Mitgliedskartei im Bundesarchiv. Und doch hat sie wie fast alle jungen Menschen die Weltanschauung der Nationalsozialisten verabreicht bekommen - in der Schule, beim Bund Deutscher Mädel etwa. Gewirkt hat die Doktrin zumindest nicht auf Dauer. Davon zeugt ihre Hochzeit in den 60ern, als Elisabeth Radojewski den 17 Jahre älteren Dortmunder Maurer Otto Rapior heiratet, der aus einer überzeugten Kommunistenfamilie stammt und die Nazis schon in den 30ern zu spüren bekam. Damals wurde er mehrfach von der Gestapo verhaftet und zeitweise in der Dortmunder Steinwache inhaftiert. Es ging zumindest offiziell um „Verhinderung des Wahlrechts“ und „unerlaubten Waffenbesitz“. Sein Bruder Fritz, überzeugter KPD-Mann, wurde im März 1934 mit vier anderen Personen vor das Dortmunder Sondergericht gestellt. Sie sollen 1932 den SA-Mann Walter Ufer ermordet haben. Fritz Rapior wurde zum Tode verurteilt und am 30. August 1934 im Gerichtsgefängnis enthauptet.
„Das Mindeste an Wiedergutmachung, das unsere Familie leisten kann“
„Seitdem ich die Vergangenheit meiner Mutter kenne, gehe ich mit der NS-Geschichte anders um“, sagt Renate Schröder. Sie recherchiere im Internet zu Auschwitz, schaue Dokumentationen, versuche geschichtliche Verbindungen zu ihrer Mutter, aber auch zur Gegenwart herzustellen. „Die erschreckende Erkenntnis ist doch, dass die Welt aus den NS-Verbrechen nichts gelernt hat. Türkei und Russland entwickeln sich zu Diktaturen und in Nordkorea gibt es seit langem wieder Konzentrationslager.“ Auch deshalb habe sie sich doch noch entschieden, öffentlich über ihre Familiengeschichte zu sprechen und sich aktiv an der Aufarbeitung zu beteiligen. „Das ist doch das Mindeste an Wiedergutmachung, das unsere Familie heute leisten kann.“
Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Aus diesem Anlass haben wir diesen Text, der erstmals 2018 erschienen ist, noch einmal veröffentlicht.
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