Seltene Bilder aus dem Todeslager Auschwitz Sie schlummerten 70 Jahre lang in einem Kleiderschrank

Seltene Bilder aus dem Todeslager Auschwitz tauchten in Castrop-Rauxel auf
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Dieser Text erschien zuerst im Januar 2018. Anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers am 27. Januar veröffentlichen wir ihn erneut. Johannes Meyer ist am 15. Juli 2018 gestorben.

Diese Fotos zeigen fröhliche Jungen mit freiem Oberkörper, sie flachsen und grinsen. Im Hintergrund sind Baracken, Zelte, Bauernhäuser und hochgewachsene Getreidefelder zu erkennen. Würde auf manchen Fotos nicht schwere Militärtechnik zu sehen sein, man könnte meinen, die Bilder seien in einem Ferienlager entstanden. Doch das ist nicht alles. Auf dem kleinen runden Esstisch mit grüner Tischdecke von Johannes Meyer in Castrop-Rauxel liegt eine historische Sensation: ein Stapel von 18 Fotos, entstanden direkt neben dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Sie zeigen Jungen aus Castrop-Rauxel, die als letztes Aufgebot eingezogen wurden, um die geheimen Lager des Massenmords und umliegende Industrieanlagen gegen die übermächtig gewordene alliierte Luftwaffe zu schützen.

Fotos heimlich entstanden

Vor zehn Jahren hat das Fotoalbum von Karl Höcker in Historikerkreisen für Aufsehen gesorgt. Die Abbildungen, geschossen vom Adjutanten des letzten Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, zeigen Angehörige des Lagerpersonals bei Schießübungen, bei der Übergabe eines SS-Lazaretts und bei Freizeitaktivitäten.

Sie lachen, sie tanzen – und das alles während in ihrem Lager damals Hunderttausende Menschen vergast und ermordet werden. Höckers Fotos, die anonym an das United States Holocaust Memorial Museum gelangten, geben einen neuen Einblick in das Grauen von Auschwitz. Sie geben dem Todeslager ein menschliches Antlitz.

Jetzt tauchen wieder Fotos auf, die auf Historiker mit einer großen Anziehungskraft wirken. Sie lagerten seit mehr als sieben Jahrzehnten unbeachtet in Castrop-Rauxel – und geben Einblick in den Alltag von jugendlichen Luftwaffenhelfern, die zwischen Juli und November 1944 bei der Bekämpfung feindlicher Flieger über dem KZ halfen.

Zu diesem Zeitpunkt war eine ganze Oberschulklasse aus Castrop-Rauxel in Auschwitz stationiert. Unter ihnen Johannes Meyer, heute 90, in dessen Besitz sich die Fotos befinden. Sie haben zwar inhaltlich nicht die Qualität der Höcker-Bilder, mit deren Hilfe viele Täter ein Gesicht erhielten und identifiziert werden konnten. Aber sie sind ebenso selten. „Fast alle Aufnahmen, die wir aus Auschwitz kennen, sind heimlich entstanden“, weiß Piotr Setkiewicz, Historiker in der Gedenkstätte Auschwitz.

Johannes Meyer mit dem Foto eines Flakgeschützes
Johannes Meyer mit dem Foto eines Flakgeschützes ©

Johannes Beermann vom renommierten Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main hält die Bilder deshalb für sehr besonders. „Bislang sind uns keine anderen Fotografien von Wehrmachtsangehörigen oder Flakhelfern aus Auschwitz und Umgebung bekannt“, sagt er. Im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurden zwischen 1941 und 1944 mindestens 1,1 Millionen Menschen, davon eine Million Juden, ermordet. Um die Verbrechen zu vertuschen, war hier Fotografieren strengstens verboten.

„Hätte mir damals jemand gesagt, was in den Lagern wirklich passiert - ich hätte es nicht geglaubt“, sagt Johannes Meyer. Die Stimme des 90-Jährigen ist klar und deutlich, seine Sätze spricht er druckreif. Seine Erzählungen unterbricht er nur dann, wenn er nach dem Wasserglas greift.

Im Februar vor 75 Jahren werden seine Klassenkameraden und er aus der Oberschule für Jungen als Luftwaffenhelfer eingezogen. Ein Erlass des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung ermöglicht es im Januar 1943, dass auch 14- und 15-Jährige zum Kriegsdienst herangezogen werden können. Die Niederlage vor Moskau, die sich anbahnende Katastrophe in Stalingrad und die überdehnte Ostfront zehren an den Kräften der Wehrmacht. Flaksoldaten an der Heimatfront werden an die Brandherde beordert, ihre Plätze müssen jetzt Kinder wie Johannes Meyer einnehmen.

„Nazis waren meine Eltern nicht“

Der damals 15-Jährige ist mit Stolz und Eifer dabei, will seine Heimat vor den feindlichen Flugzeugen beschützen, die als Vergeltung für Hitlers Angriffskrieg eine deutsche Stadt nach der anderen in Schutt und Asche bomben. Er entstammt einem deutschnationalen Elternhaus, betont: „Nazis waren meine Eltern aber nicht.“ Sein Vater Fritz Meyer, ein bekennender Christ, leitet damals das Beschaffungsamt in Castrop-Rauxel. Dass er nicht in der Partei ist, bereitet ihm immer wieder Probleme mit der Gestapo. Erst als er sich von Oberbürgermeister Richard Anton dazu überreden lässt, regelmäßig etwas Geld für die NS-Volkswohlfahrt zu spenden, wird er in Ruhe gelassen, sagt Meyer.

Neben Nationalstolz aus dem Elternhaus macht sich auch die braune Doktrin bemerkbar, die die Jungen von kleinauf im Nazistaat verabreicht bekommen. Johannes Meyer hat wie Millionen andere Kinder die nationalsozialistische Soldatenschmiede von den Pimpfen bis zur Hitlerjugend durchlaufen. Der Plan der Nazis geht auf: 14- und 15-Jährige brennen darauf, Soldaten zu sein. „Wir wollten etwas gegen die Luftüberlegenheit der Alliierten tun, wir wollten an die Front“, erinnert sich Meyer an seinen falschen Stolz.

Sie werden in der Flakkaserne Bochum eingekleidet, der Großkampfbatterie Henrichenburg zugewiesen, deren Untergruppe Horneburg ihren Sitz auf Schloss Bladenhorst hat. Hier erlebt er seine ersten Tieffliegerangriffe. Johannes Meyer bedient das Funkmessgerät, er ortet die feindlichen Flugzeuge. Die Geschosse des Geschützes, Kaliber 10,5, feuern unaufhörlich in den Nachthimmel. Treffer markieren die Jungs mit einem weißen Kreis ums Schüzenrohr.

Verschwiegenheitserklärung

In den nächsten Monaten wird Meyers Batterie immer wieder verlegt. Erst nach Soest, dann ins oberschlesische Stöblau. Mitte Juli geht es noch ein Stück weiter nach Osten. Am 17. Juli kommen die Jungen auf dem Bahnhof Auschwitz an. Sie übernehmen eine von drei Batterien im Flakstützpunkt Birkenau. Jede Batterie besitzt sechs Geschütze und 120 Mann Besatzung. „Da waren jeweils zu einem Drittel Flaksoldaten, Luftwaffenhelfer und sowjetische Hiwis“, sagt Meyer. Von nun an wird er vier Monate lang in direkter Nachbarschaft der Mordfabrik arbeiten.

Neben der Batterie liegt ein SS-Wirtschaftshof, in Sichtweite befindet sich das KZ Auschwitz-Birkenau. Was hier genau passiert, sagt Meyer, habe er erst nach Krieg erfahren. Viele Beobachtungen aber hätten sein Bild vom Nationalsozialismus in diesen Monaten bröckeln lassen. „Gleich nach unserer Ankunft mussten wir eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen. Wir sollten niemandem erzählen, was sich hier beobachten ließ. Über die Judenvernichtung wurde uns nichts gesagt, die Batterie durften wir nur in Ausnahmefällen verlassen.“ In den Lagern seien kriminelle Partisanen interniert, die zu Arbeiten herangezogen werden, wird den Jungen eingetrichtert.

Seltene Bilder aus dem Todeslager Auschwitz tauchten in Castrop-Rauxel auf

In dieser Zeit entstehen die jetzt bei Johannes Meyer aufgetauchten Fotos. Sie wurde von seinem Vorgesetzten, Leutnant Weber, geschossen. „Der war Reserveoffizier und von Beruf Agfa-Vertreter. Er hat die Fotos heimlich angefertigt und uns Jungs Abzüge für einen Groschen verkauft.“ In den Heimaturlauben schmuggelte der Jugendliche die Fotos nach Hause, hob sie bis heute in Castrop-Rauxel auf.

Besonders eindrücklich sind die Fotos, die Auschwitz-Häftlinge zeigen. Sie müssen damals auch in der Flakbatterie arbeiten, bauen Baracken und Fundamente für die schweren Geschütze. „Ich habe nie selbst gesehen, dass jemand von einem Soldaten misshandelt wurde. Aber ich habe gesehen, wie die Kapos ihre Mithäftlinge mit Holzknüppeln zur Arbeit angetrieben haben“, sagt Meyer. Historiker gehen davon aus, dass keiner der abgebildeten Häftlinge seine Zeit in Auschwitz überlebt haben dürfte.

Johannes Meyer sieht auch Häftlingstrecks, die morgens an seiner Baracke vorbeiziehen. Und er sieht hinter dem Stacheldraht des Todeslagers Rauchschwaden aufziehen. Mit Ferngläsern beobachten die Jungen, wie dort Leichen auf offenem Feld verbrannt werden. „Der Geruch von verbranntem Fleisch war allgegenwärtig. Dass hier viele Menschen starben, konnte man erahnen. Nicht aber, dass sie industriell ermordet wurden.“

Als sie zwei Häftlingen eines Tages etwas Brot geben, stehen kurz darauf zwei SS-Männer vor der Tür der Luftwaffenhelfer. „Sie wollten wissen, woher die Häftlinge das Brot hatten. Das durfte nicht sein“, sagt Johannes Meyer. Und: „Zu diesem Zeitpunkt fragten wir uns, was in Auschwitz eigentlich los ist.“

Johannes Meyer erlebt auch den bewaffneten Aufstand von Häftlingen aus dem Sonderkommando am 7. Oktober 1944. Dabei wurde nicht nur das Krematorium III/IV mit Hilfe von geschmuggeltem Sprengstoff zerstört, es gelang 250 Menschen die Flucht durch den Lagerzaun. „Es hieß, alle Gefangenen seien gefasst und zurück ins Lager gebracht worden. Doch wir hörten in den Tagen danach aus einem angrenzenden Waldstück immer wieder Schüsse“, sagt Johannes Meyer. Er hört die Mordkommandos. Die SS lässt alle Flüchtlinge und 451 Mitwisser in diesen Tagen erschießen.

Eine unvorstellbare Zeit

Johannes Meyer stellt sich immer wieder die Frage, ob er vom Massenmord in Auschwitz hätte wissen müssen. „Wir waren junge Burschen, lebten zu sechst in unserer Baracke in unserer eigenen Welt. Wir waren anfangs unbekümmert und abenteuerlustig, später dann kam es uns in Auschwitz komisch vor. Aber das was wir heute wissen, war doch damals unvorstellbar.“

Kann das sein? So nah dran – und doch so unwissend? Piotr Setkiewicz aus der Gedenkstätte Auschwitz beantwortet diese Frage mit einer Begegnung vor einigen Jahren, als er einen Mann kennenlernte, der 1944 als Soldat nach Libiaz kam, das etwa fünf Kilometer von Auschwitz entfernt liegt. „Er fragte seinen Vorgesetzten, ‚Herr Leutnant, was sind das für Feuer dort?‘ - ‚Ah, da gehen Juden zu ihrem Moses‘, antwortete dieser.“

Andererseits betonte ein anderer Augenzeuge, Thomas Gnielka, der später durch seine Recherchen zu den SS-Mördern für die Frankfurter Rundschau erst die Auschwitz-Prozesse ermöglichte, in seiner Zeit als Luftwaffenhelfer in Auschwitz ebenfalls keine Kenntnis vom Massenmord erlangt zu haben.

„Es ist kompliziert. In dieser unvollstellbaren Zeit war einfach alles möglich“, betont Historiker Johannes Beermann, der bereits angekündigt hat, sich um die Fotos für sein Institut bemühen zu wollen. „Sie dokumentieren das Leben rund um das Vernichtungslager und vervollständigen unser Bild von den Vorgängen dort“, sagt der Historiker.

Der 90-jährige Johannes Meyer ist vom Interesse der Historiker überrascht. „Ich kenne diese Fotos seit über siebzig Jahren. Für mich sind sie nichts Besonderes, sie bilden ein Stück meines Lebens ab. Aber wenn sie zur Aufarbeitung der Geschichte beitragen, teile ich sie gerne mit den Instituten“, sagt Meyer.