
© Thomas Thiel
Junge Mutter (29) gründete Café während Corona: „Es war jede Träne wert“
Pandemie in Dortmund
Selvi Aksünger Caphur (29) hat in der Pandemie nicht nur ihr zweites Kind bekommen, sondern auch ein Café in Dortmund eröffnet. Der Laden brachte ihr viele Tränen, eine 80-Stunden-Woche - und Glück.
Der Tiefpunkt kam am Tag, an dem eigentlich alles besser werden sollte: Nach Monaten des Lockdowns durften Selvi Aksünger Caphur (29) und ihr Mann Ali Caphur (35) am letzten Freitag im Mai 2021 endlich ihr kleines Café wieder öffnen - zum ersten Mal seit über einem halben Jahr.
Die Tage davor waren Stress pur gewesen: „Wir haben Tag und Nacht durchgearbeitet, um alles vorzubereiten“, erzählt Selvi. „Die Kinder haben auf Isomatten im Laden geschlafen.“ Alle ihre Hoffnungen waren auf diesen Neustart ausgerichtet. Doch dann passierte: nichts. „Wir hatten genau einen Gast. Am Ende des Tages hatten wir 6 Euro Umsatz gemacht.“
„Ich war der Meinung: Das war alles umsonst“
Die junge Mutter brach zusammen: „Ich habe geweint“, erzählt Selvi. „Wir haben hier alles reingesteckt. Ich dachte: ‚Wenn das jetzt nicht klappt, kratzt das an unserer Existenz.‘“ Sie hatten ihr ganzes Erspartes in den Laden investiert. „Ich war der Meinung: Das war alles umsonst.“
„Mensch, wie glücklich bist du?“
Was haben zwei Jahre Corona mit uns gemacht? Empfinden wir noch Glück? Wie hat sich unser Leben verändert? Das fragten wir in unserer Umfrage „Mensch, wie glücklich bist du?“ Und wir haben Menschen getroffen, die uns erzählen, wie sie die letzten zwei Jahre erlebt haben.Die heute 29-jährige Dortmunderin kann mittlerweile lächeln, wenn sie sich an ihren persönlichen Tiefpunkt in der Pandemie erinnert. Denn ihren Laden – das „Café Rot“ an der Robert-Koch-Straße im östlichen Kaiserviertel, nahe dem Ostfriedhof – gibt es immer noch. Sie sitzt an diesem verregneten Februarmittag an einem der Tische und blickt durch die Glasfront auf den kleinen Platz vor ihrem Café.
Beruflich gehe es ihr jetzt besser als zum Beginn von Corona, sagt sie. Damit gehört sie zu einer glücklichen Minderheit in Dortmund: In einer Umfrage unserer Redaktion zum Lebensgefühl in der Pandemie gaben nur rund 12 Prozent der 870 Teilnehmenden aus Dortmund an, dass sich ihre berufliche Situation verbessert habe - ihnen gegenüber stehen 56 Prozent, denen es gefühlt schlechter geht, knapp 30 Prozent sogar deutlich, beziehungsweise sehr deutlich.
Während Ali auf der anderen Seite der Kuchenvitrine gerade ein Mittagessen für einen Gast kocht, erzählt Selvi, wie sie das geschafft haben. Wie die beiden alles riskierten, als sie mitten in der Pandemie ein Café eröffneten - und dabei ihr Glück fanden.
Wahlheimat Dortmund: „Ich liebe es hier!“
Ihre gemeinsame Geschichte beginnt in Istanbul: Dort lernen sich die gebürtige Berlinerin Selvi und der Istanbuler Ali kennen, werden ein Paar. Er studiert Tourismus, sie arbeitet in einem Edel-Boutique-Hotel mitten in Istanbul. „Die Prinzessin von Dubai und der Chef von Google stiegen bei uns ab“, erzählt sie stolz.
Doch das gesellschaftliche Klima unter Erdogan gefällt ihnen schon länger nicht mehr - in der Türkei wollen sie keine Kinder kriegen. So ziehen Selvi und Ali Ende 2016 nach Dortmund. Hier lebt inzwischen Selvis Familie. „Meine Wahlheimat“, sagt sie heute über Dortmund, „ich liebe es hier!“
Die beiden arbeiten viel, Selvi in der Gastronomie und im Hotelgewerbe, Ali im Logistiksektor. Doch Ali ist unglücklich im Job, er will wieder ins Gastgewerbe.
Da passt es gut, dass Selvis Arbeitgeber (eine Firma, die sich auf Kurzzeit-Vermietungen spezialisiert hat, etwa für Handwerker auf Montage) in einem seiner Häuser ein Café aufmachen will – direkt in der Nachbarschaft von Selvis und Alis Wohnung. „Damit hat mich Ali um den Finger gewickelt“, sagt Selvi.
„Von einem Tag auf den anderen ist kein Handwerker mehr gekommen“
Als die beiden im Januar 2020 den Mietvertrag für die Räume unterschreiben, ist Corona noch eine obskure Krankheit in China, die Eröffnung nach Umbau ist zum 15. April geplant. Doch dann spült die sich rasant entfaltende Pandemie alle Pläne weg.
Als im März der erste Lockdown kommt, sind die Bauarbeiten noch in vollem Gange. „Von einem Tag auf den anderen ist kein Handwerker mehr gekommen“, erinnert sich Selvi. Zu der Zeit erfährt sie auch, dass sie zum zweiten Mal schwanger ist. Ihr Erstgeborener Baris ist da erst sieben Monate alt.

Selvi Aksünger Caphur und ihr Mann Ali Caphur vor ihrem geschäftlichen "Baby", dem "Café Rot" im Kaiserviertel. Die beiden sind trotz aller Widrigkeiten glücklich, dass sie sich ihren Traum vom eigenen Café erfüllt haben. © Thomas Thiel
Ein halbfertiges Café im Rohbau, eine Pandemie, unter der die Gastro-Branche mit am stärksten leidet, dazu noch ein zweites Kind unterwegs - Gründe, um vor Zukunftssorgen verrückt zu werden, gibt es zu dem Zeitpunkt zuhauf.
Doch Selvi versucht, der Situation etwas Positives abzugewinnen: „Durch Corona hatte ich die Wahl, fünf Tage im Büro oder sechs Tage im Homeoffice zu arbeiten.“ Sie entscheidet sich fürs Homeoffice. Für sie ist Corona erst einmal eine Chance, um flexibler zu sein.
Nach etlichen Verzögerungen feiert Selvis und Alis geschäftliches „Baby“, dem sie den Namen „Café Rot“ geben, Anfang Oktober endlich seine Eröffnung. 30.000 Euro haben sie in den Umbau gesteckt. Doch nur einen Monat später der nächste Rückschlag: Lockdown Nr. 2.
Es sind unfassbar intensive Tage für die junge Familie. Am 1. November, dem letzten Tag vor der erneuten Zwangsschließung, ist das Café voll. Am 3. November, einen Tag nach dem Beginn des Lockdowns, wird ihre Tochter geboren, Masal.
Ali richtete seine Frau wieder auf
Die ersten beiden Monate konzentrieren sich die beiden ganz auf ihre nun zwei Kinder - die kurzfristigen staatlichen Corona-Hilfen reichen für die laufenden Kosten ihres Cafés (rund 3000 bis 4000 Euro pro Monat). Auch die Familie hilft finanziell. Im Januar starten die beiden dann einen Außer-Haus-Verkauf. So hangelt sich das „Café Rot“ bis zum Re-Start im Mai.
Über Selvis ganz persönlichen Tiefpunkt des verkorksten Neuanfangs rettet sie Ali hinweg: „Er hat mich beruhigt, hat mich aufgerichtet, war immer optimistisch“, erzählt sie. „Er sagte zu mir: ‚Die Leute müssen sich an uns gewöhnen.‘“
Sie helfen aktiv nach: Sie verteilen Flyer in der Nachbarschaft, klopfen an die Türen von Firmen im Viertel und werben für ihren Mittagstisch - mit Erfolg: „Langsam kennen uns die Leute, wir haben inzwischen unsere Stammgäste.“
Der lange Atem lohnt sich. „Seit Jahresbeginn trägt sich der Laden selbst“, sagt Selvi. „Jetzt können wir anfangen, wieder zu investieren.“ Die Billigtische aus dem Internet werden bald durch höherwertige Exemplare eines Dortmunder Schreiners ersetzt, dazu wollen sie Sofas kaufen. Im hinteren Teil des Cafés soll eine Spielecke für Kinder entstehen. Selvis Ziel: „Wir wollen das Familiencafé des Viertels werden.“
Zwei neue Kinder, ein Vollzeitjob und obendrauf noch ein neues Café samt Existenzängsten - die vergangenen zwei Jahre waren ein wilder Ritt für die junge Mutter. Alleine hätten Ali und sie das nicht geschafft: „Ohne unsere Familie und unsere Freunde würde es uns nicht geben.“

"Café Rot ist einfach Familie", steht an der Wand des Cafés. Ohne Familie und Freunde der Betreiber würde in dem kleinen Lokal nichts gehen.
Am wichtigsten sei ihre Mutter, sagt die Jungunternehmerin: „Meine Mutter ist die Nummer eins. Sie backt mit mir die Kuchen, versorgt die Kinder, hilft im Café beim Service.“ Und wenn es voll werde, kommt eine gute Freundin, die um die Ecke wohnt, kurzfristig zum Aushelfen.
Trotz aller Hilfe bleibt es ein Haufen Arbeit, den Selvi zu stemmen hat. „Ich habe momentan bestimmt eine 80-Stunden-Woche“, sagt sie. Auf ihren eigentlichen Job als Gäste-Managerin kann sie nicht verzichten, schließlich muss die Familie ja auch von etwas leben.
Also arbeitet sie 20 Stunden die Woche im Büro und 20 Stunden in Bereitschaft. In das Café stecke sie bestimmt nochmals 40 Stunden pro Woche - wenn die Kinder schlafen, backen Selvi und Ali zusammen mit ihrer Mutter die neuen Kuchen.
„Wir haben unseren Traum verwirklicht“
Neben all dem muss das Familienleben aktuell etwas zurückstehen: „Meine Kinder kommen gerade etwas zu kurz - sie haben ganz viel Großeltern-Zeit“, sagt Selvi.
In der Pandemie habe sie gelernt, dankbar zu sein für Dinge, die man vor Corona oft als selbstverständlich angesehen habe: „Man lernt zu schätzen, was es bedeutet, eine Kinderbetreuung zu haben, Freunde zu treffen“, sagt Selvi. „Und ich bin dankbar für jeden einzelnen Gast.“
Würde sie mit dem Wissen von heute im Januar 2020 den Mietvertrag für das „Café Rot“ trotzdem unterschreiben? Selvi ist sich sicher: „Ich würde es definitiv nochmal machen. Jede Träne, jeder Tag, den ich mit meinem Mann und meinen Kindern hier verbracht habe, war es wert. Wir haben unseren Traum verwirklicht.“
1984 geboren, schreibe ich mich seit 2009 durch die verschiedenen Redaktionen von Lensing Media. Seit 2013 bin ich in der Lokalredaktion Dortmund, was meiner Vorliebe zu Schwarzgelb entgegenkommt. Daneben pflege ich meine Schwächen für Stadtgeschichte (einmal Historiker, immer Historiker), schöne Texte und Tresengespräche.
