Die Nordstadt steht erneut in den Negativschlagzeilen. Die Massenschlägerei wirft ein schlechtes Licht auf sie. Zu unrecht, meint unser Autor und empfiehlt: Kommt alle vorbei!
Schon wieder die Nordstadt! Ich meine, den aufgeregten Ausruf am Frühstückstisch bis in die Redaktion zu hören. In den Kommentaren bei Facebook kann ich es mannigfach lesen. Ja, und ich ertappe mich selbst bei diesem Gedanken. 80 Menschen haben sich dort am Pfingstmontag eine Schlägerei geliefert, alles ging wild durcheinander, es gab Waffen, stumpfe und spitze, und sogar ein oder zwei Molotow-Cocktails wurden geworfen. Der Ausnahmezustand forderte die Polizei. 100 Polizisten waren im Einsatz. Der Hintergrund ist noch immer unklar. Drogenstreitigkeiten? Herkunft? Fest steht aber: Es war wieder in der Nordstadt.
Reflexartig reagiert die Polizei in ihren Pressemitteilungen. Die Kriminalität im Dortmunder Norden sei zurückgegangen, heißt es. Polizeipräsident Gregor Lange lässt sich am Dienstag zitieren mit den Worten: „Wir haben in den letzten Jahren mit unserem hohen Engagement in der Nordstadt den Rechtsstaat konsequent durchgesetzt. Die deutliche Senkung der Straftaten in diesem Bereich von über 30 Prozent war das Ergebnis intensiven Personaleinsatzes in Form von starker Präsenz.“ Es gebe Schwerpunkteinsätze, eine starke Präsenz, die nach dem Vorfall noch ausgebaut werde. So wurde es am Donnerstag verkündet.
Menschen, die die Nordstadt nicht kennen, haben Angst
Das sind die Fakten. Doch das Gefühl vor allem derer, die aufgrund von Ereignissen wie an Pfingsten im Schleswiger Viertel oder bei der Schießerei in der Stahlwerkstraße (Juni 2016) vor einem Besuch in der Nordstadt zurückschrecken, ist ein anderes: Schon wieder die Nordstadt, da kann man nicht hingehen! Menschen, die die Nordstadt nicht kennen, haben Angst. Diese Angst ist angesichts solcher Meldungen nur allzu verständlich. Da hilft es auch nicht, an jeder Ecke einen Polizeiwagen zu sehen. Im Gegenteil: Eine zu starke Polizeipräsenz kann auch verunsichern. Das sollte der Polizeipräsident bedenken, wenn er, wie Donnerstag angekündigt, noch mehr Polizisten in den Norden schicken will, die verdachtslos Menschen kontrollieren sollen.
Wer sich aber hintraut in die Nordstadt, erlebt etwas Anderes. Der sieht, wie es tatsächlich dort aussieht, und das Gefühl, das sich einstellt, lässt den Argwohn kleiner werden. Die Nordstadt ist lebendig, die Nordstadt ist lebenswert und ja, all ihr Trolle in den Kommentaren in den sozialen Netzwerken und an den Stammtischen, sie ist im besten Sinne bunt! Was spricht dagegen?
Menschen versuchen sich ein Stück vom Glückskuchen abzuschneiden
Menschen aus aller Herren Länder ziehen dort ihre Kinder groß, in den Gründerzeithäusern am Nordmarkt oder Borsigplatz gibt es günstigen Wohnraum für alle, die sich ein Leben im Dortmunder Süden nicht leisten können. Wo sollten die denn sonst hin? Es gibt kleine Geschäfte, emsige Händler versuchen sich ihr Stück abzuschneiden vom Glückskuchen – und arbeiten hart dafür. Sie sind die Menschen hinter den Statistiken, die die Polizei so sehr bemüht. Sie wollen ein gutes Leben. Sie geraten nicht täglich in eine Massenschlägerei.
Dortmund ist nicht Berlin, wo Clans ganze Bezirke regieren. Dortmund ist nicht der Wohnblock in Köln-Ossendorf, wo ein Streifenwagen allein nicht ausreicht, wenn die Polizei dort einen Einsatz fährt. Zur Wahrheit gehört aber auch: Dortmund ist die achtgrößte Großstadt Deutschlands. Wo viele Menschen leben, kann auch viel passieren. Sicher: Es ist nicht schön auf Trinker am Nordmarkt zu treffen. Doch bei jedem meiner Besuche dort ließen sie mich in Ruhe. Es gibt Müll auf der Straße, doch in keinem Dortmunder Viertel wird er so schnell auch wieder beseitigt. Die Dortmunder Müllabfuhr ist dort quasi im Dauereinsatz, und das ist gut so. Wer genau hinschaut, sieht sie: die Prostituierten, die Dealer, die Junkies. Das gehört zum Leben in einer Großstadt, wir müssen das aushalten. Es ist aber falsch, diesen Leuten das Feld zu überlassen.
Die Bewohner brauchen eine Chance auf Normalität
Wer sagt, im Norden sind sie alle kriminell, da gehe ich nicht hin, nimmt all diesen Menschen, die versuchen, sich ein gutes Leben aufzubauen, eine Chance: die Chance auf Normalität. Wer nicht hingeht, um etwa auf dem vielfältigen und spannenden Nordmarkt einkaufen zu gehen, verpasst nicht nur etwas, sondern der überlässt die Nordstadt denjenigen, die nichts Gutes mit ihr im Schilde führen. Wenn viele runter in den Norden kommen, um etwa dort ins Roxy-Kino an der Münsterstraße zu gehen, wird sich lichtscheues Gesindel dort weniger wohlfühlen. Davon bin ich überzeugt. Wir haben es also alle in der Hand, was aus der Nordstadt wird - ganz einfach, in dem wir am Nordstadt-Leben teilhaben und diesem lebenswerten Viertel nicht den Rücken zukehren.
Immer wenn ich denke: ‚Schon wieder die Nordstadt!‘ rufe ich mir die positiven Erlebnisse dort in Erinnerung: meine Besuche bei Herrn Walter am Strand, in der Hafenschänke Subrosa, im grünen Salon auf dem Nordmarkt, beim DJ Picknick oder auf dem Weihnachtsmarkt im Fredenbaum. Diese Orte und die Nordstadt überhaupt brauchen mehr Besucher, Leute die sich hintrauen, die am Leben dort teilhaben. Dann sind es andere Ereignisse, die uns in den Sinn kommen, wenn wir denken: Schon wieder die Nordstadt!
Leitender Redakteur, seit 2010 in der Stadtredaktion Dortmund, seit 2007 bei den Ruhr Nachrichten.
