Navidullah Ishaq vor seinem Imbiss an der Hohen Straße. Der Dortmunder ist in Afghanistan geboren und aufgewachsen. Er blickt mit Sorge auf die Situation in seinem Heimatland – und die seiner Familie.

© Lukas Wittland

„Die ganze Stadt stank nach Tod“ – Dortmunder erzählt vom Leben unter den Taliban

rnAfghanistan

Der Dortmunder Navidullah Ishaq hat die erste Herrschaft der Taliban in Afghanistan erlebt. Dass sie sich geändert haben, glaubt er nicht. Was er damals gesehen hat, verfolgt ihn noch heute.

Dortmund

, 21.08.2021, 04:30 Uhr / Lesedauer: 3 min

Es fällt Navidullah Ishaq nicht leicht, über die Situation in seinem Heimatland Afghanistan zu sprechen. Das spürt man, wenn man sich in seinem Imbiss Indafi Curry mit dem 34-Jährigen unterhält. Ishaq lebt in Dortmund, seine Geschwister und seine Mutter in dem kriegsgebeutelten Afghanistan, das nach dem Abzug der internationalen Truppen in rasender Geschwindigkeit in die Hände der radikal-islamistischen Taliban gefallen ist.

Ishaq kennt die Taliban noch aus der Zeit, als sie das Land von 1996 bis 2001 kontrollierten. „Das Leben damals war schrecklich“, sagt der 34-Jährige mit ruhiger Stimme. Noch heute verfolgt ihn, was er damals als Kind erlebt, aber vor allem gesehen hat. In einem Stadion in der Provinz Baghlan wurden Menschen während der ersten Herrschaft der Taliban öffentlich hingerichtet.

Als Kind musste er sich Hinrichtungen anschauen

„Dort wurde kein Fußball gespielt, dort wurden Menschen gesteinigt, ihnen wurde der Kopf abgeschnitten oder sie wurden erschossen – fast täglich“, sagt Navidullah Ishaq. Die Menschen hätten hingehen und zusehen müssen, wie Frauen im Mittelkreis exekutiert wurden. „Sie hatten keine andere Wahl.“ Auch er musste sich als Kind die Hinrichtungen anschauen, erzählt der Afghane.

„Diese schrecklichen Bilder vergesse ich nie. Sie sind noch immer in meinem Kopf.“ er atmet lange aus. „Das ist ein psychisches Problem für mich. Vielleicht waren diese Menschen unschuldig.“ Diese Frage quält ihn noch heute. Die Taten der Taliban kann er nicht vergessen, auch nicht das Massaker in Masar i-Sharif 1998, bei dem Taliban-Kämpfer hunderte Zivilisten ermordeten. Tagelang hätten sie das Haus nicht verlassen, bis der Hunger sie trieb, erinnert sich Navidullah Ishaq.

Der Weg führte ihn vorbei an unzähligen Leichen. Hunde nagten an den leblosen Körpern. „Die ganze Stadt stank nach Tod“, erzählt Ishaq. Er kann es nicht vergessen. Es kann passieren, dass die Erinnerungen ihn im Alltag überwältigen.

„Die haben sich nicht geändert“

„Die Taliban sagen, sie seien nicht so wie vor 20 Jahren. Sie sagen, sie haben sich verändert. Aber ihre Attentate, bei denen in den vergangenen Jahren hunderte Menschen gestorben sind, passen nicht zu den heutigen Aussagen“, sagt der 34-Jährige. „Die haben sich nicht geändert.“

Wenn er mit seinen Geschwistern und Freunden in Afghanistan telefoniert, sagen sie ihm, dass sie Angst haben, dass sie sich Sorgen über die Zukunft machen. Und Navidullah Ishaq sorgt sich um sie. Er sagt ihnen, dass sich die Lage sicher beruhigen und bessern würde. Wirklich glaubt er daran nicht. „Aber was soll ich ihnen sonst sagen?“ In den ersten drei Tagen sei aus Angst vor den Taliban keiner seiner Angehörigen vor die Tür gegangen.

Sicher ist die Situation in Afghanistan aktuell nirgendwo. Vor allem nicht für Frauen. Nach dem Tod seines Vaters ist die Mutter von Navidullah Ishaq alleinstehend. Sie leide an Muskelschmerzen, erzählt er, und müsse deshalb mindestens zwei Kilometer am Tag laufen. „Vor ein paar Tagen war das kein Problem, aber jetzt verlässt sie das Haus nicht mehr.“

Die Machtübernahme der Taliban trifft Frauen besonders hart

Was mit ihr passiert, wenn sie es täte, weiß keiner. Beobachter befürchten, dass die Machtübernahme der Taliban bedeutet, dass Frauen viele ihrer Rechte und Freiheiten, die sich über die vergangenen Jahre gewonnen haben, wieder verlieren werden.

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Die Eltern von Navidullah Ishaqs Frau leben in Nord-Afghanistan. Von dort höre er schon, dass Frauen ihre Häuser nicht mehr alleine verlassen und Mädchen nicht mehr zur Schule dürften. Mit Freunden und Verwandten steht der 34-Jährige vor allem über die sozialen Netzwerke in Kontakt. Über diesen Weg erreichen ihn auch Videos, die aus Afghanistan stammen sollen.

Er zeigt auf seinem Smartphone eine Aufnahme, die er bei Facebook gesehen hat. Sie zeigt einen Mann, der auf dem Boden kniet. Seine Augen sind verbunden. Um ihn herum ist es dunkel. Dann sind Schüsse zu hören. Es staubt. Der Mann sackt leblos zu Boden.

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Es sind überwiegend solche Nachrichten, die Navidullah Ishaq aus seinem Heimatland erreichen. Zuletzt war aber auch eine gute dabei: Ein Freund aus Kabul, der einen deutschen Pass besitzt, hat zwei Tage lang versucht, in die Sicherheitszone des Flughafens zu gelangen. Dabei sei er verletzt worden, aber er soll es geschafft und ein Flugzeug nach Deutschland bekommen haben. Genaueres weiß er nicht. Seitdem hat er nichts mehr von seinem Freund gehört, aber es ist ein Hoffnungsschimmer in einer dunklen Zeit.

Es bleibt nur die Hoffnung

Für die Menschen in seiner Heimat wünscht sich der 34-Jährige „Ruhe und Sicherheit“. Mädchen sollen zur Schule gehen, Frauen ohne Angst das Haus verlassen. Und die Attentate sollen aufhören. Egal, wie. „Ich wünsche mir einfach nur, dass die Menschen friedlich zusammenleben. Das ist meine große Hoffnung.“

Doch Ruhe habe es in Afghanistan nie gegeben. Das Land sei in der Vergangenheit immer schlecht regiert worden: Von den Dschihadisten, von den Taliban und von Präsident Aschraf Ghani, der aus dem Land geflohen ist.

Trotzdem gibt Navidullah Ishaq die Hoffnung nicht auf. Das ist auch etwas, dass man in Afghanistan lernt. Lernen muss. „Hoffnung haben wir immer. Sie ist noch nicht gestorben.“ Sein Vater habe ihm damals erzählt, dass es Frieden geben wird. Das habe der schon von seinem Vater gesagt bekommen. Navidullah Ishaq wird es seinen Kindern nicht sagen. „Ich möchte sie nicht anlügen“, sagt er.

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