Der Wille zum Glück – die Geschichte nach der Flucht
Integration
Vielleicht war es dieser Tag im Jahr 2015, als eine Rakete ein paar Meter von ihm entfernt in die Apotheke einschlug. Es war eine der kleineren, darum wurde nicht gleich ein ganzer Straßenzug verwüstet. Abdul wurde klar: Ich muss hier weg. Weg aus Syrien, weg aus Aleppo. Aber auch weg von seiner Familie.

Bei Wilo in Hörde hat Abdul die Chance bekommen, eine Ausbildung anzufangen. © Becker
Der 28-jährige Abdul weiß noch heute genau, welche Kriegspartei das Geschoss damals abgefeuert hat. Aber er will und soll nicht alles erzählen in dieser Geschichte, die sich um seine Flucht und sein Leben in Deutschland drehen wird. Denn Eltern und Geschwister leben immer noch in Aleppo. Er kann verstehen, dass sie den großen Schritt, ihre Heimat zu verlassen, nicht mitgehen konnten. Im Gegenzug verstehen sie, dass ihr Sohn und Bruder nicht mehr bleiben wollte in dieser Stadt, in der Tote irgendwann zum Alltag gehörten und immer mehr Freunde im Gefängnis landeten. Manche haben nicht mal erfahren, warum.
Es wird eine gute Geschichte, die Abdul über seine Zeit in Deutschland zu erzählen hat. Eine, die Mut macht. Er weiß, dass es auch die anderen gibt. Von Menschen, die ihr Gastrecht missbrauchen. Und dass auch darüber berichtet werden muss. Aber vielleicht ist die seine ein Beispiel dafür, was gelingen kann, wenn einer alles auf eine Karte setzt und nicht darauf wartet, was das Schicksal für ihn bereithält. Oder eben nicht.
Ohne Sprache geht nichts
Da wäre zum Beispiel die Sache mit der Sprache: „Mir war von Anfang an klar, dass hier nichts geht, wenn man Deutsch nicht beherrscht“, sagt er. Und so forschte Abdul nach seiner Flucht, die ihn über Land, Wasser und den Wolken von Syrien aus mit Zwischenstation in einem afrikanischen Flüchtlingslager nach Dortmund führte, erst einmal, wie er das denn auf dem schnellsten Wege schaffen könnte. Seine neue Heimat war inzwischen die Flüchtlingsunterkunft Frenzelschule im Dortmunder Stadtteil Hörde. Betreut von der Diakonie.
Sechs Männer in einem Raum, alle aus Syrien: „Es war zwar eng, aber wir haben uns eigentlich immer gut verstanden.“ Laut sei es oft gewesen dort und nicht immer herrschte Frieden. Kein Wunder, sagt Abdul, wenn Dutzende Menschen aus verschiedenen Ländern und mit ganz unterschiedlichen Geschichten auf engstem Raum zusammenleben müssen: „Aber man muss seine Situation annehmen. Und sehen, wie man am besten zurechtkommt.“

In der Frenzelschule hat Abdul die erste Zeit in Deutschland verbracht.
Abdul, der in seiner Heimat Elektrotechnik studiert hatte, stieß bei seiner Suche im Internet auf ein Angebot der Fachhochschule: Deutsch für Flüchtlinge. Ein Jahr lang kämpfte der junge Mann wochentags vier Stunden mit einer Sprache, die er nie zuvor in seinem Leben gehört hatte: „Ich wollte ja auf jeden Fall nach Deutschland. Wir hatten viel Gutes gehört von diesem Land. Aber mit der Sprache hatte ich mich nicht beschäftigt.“ Die vier Stunden am Tag reichten nicht. In der Unterkunft wälzte er weiter Bücher, und wenn das Heimweh kam – und es kam unausweichlich und zu Anfang ziemlich oft – „bin ich einfach spazieren gegangen. Das hat meist geholfen.“
Der Wendepunkt bei Wilo
Abdul und sein Wille, die Sprache schnell zu lernen, fielen auf. Unter anderem auch Martina Herold, Flüchtlingsbeauftragte bei der Diakonie und damals Leiterin der Einrichtung Frenzelschule. „Eines Tages kam sie auf mich zu und sagte, dass sie da jemanden kenne, der bei der Firma Wilo arbeitet – und ob ich nicht mal ein paar Unterlagen über mich zusammenstellen könnte.“ Es macht Abdul sichtlich stolz, das erzählen zu können. Er lächelt, spricht schneller. Es war der Moment, in dem sich in seinem neuen Leben die Dinge zum Besseren wenden sollten. Manchmal müsse man eben Glück haben, damit alles gut wird. „Aber das Glück, sagt Abdul, „will vielleicht auch ein bisschen gezwungen werden.“
Der Pumpenhersteller Wilo, derzeit wieder auf Expansionskurs, lud ihn ein. Und versprach ihm ein Praktikum, wenn das mit der Sprache denn wirklich klappen sollte. Es klappte. 2016 begann der 28-Jährige seinen dreimonatigen Probelauf. Es sollten elf Monate daraus werden, weil er und die Firma irgendwie zusammenpassten. Und weil Abdul wieder auffiel. Seinen Kollegen diesmal. „Die haben mir immer Hilfe angeboten. Es gab keinen, der nicht da war, wenn ich bei irgendwas unsicher war oder mal nicht weiter wusste. Das hat mir alles viel einfacher gemacht.“ Anfeindungen, gar Neid – nein, das habe er wirklich nie erlebt.
Zusage für ein Studium
Er ging den nächsten Schritt und schrieb eine Bewerbung für ein duales Studium in Wirtschaftsinformatik, von dem er gehört hatte. Aber es gibt auch bei Wilo, wo sich eine ganze Gruppe um Flüchtlingsintegration kümmert, nichts geschenkt: „Ich wusste, dass ich gegen viele andere Bewerber antreten musste. Ich habe halt gehofft.“ Ein paar Wochen später kam die Zusage.
Als Abdul das erzählt, schauen wir gemeinsam durch den Zaun auf die inzwischen geschlossenen Frenzelschule. Ein gelber Container steht davor. Für den Müll, der noch weg muss. Vor dem Eingang stapeln sich Tische und Stühle. Abdul war dabei, als man sich zum Abschiedsabend traf. Es sei schon ein merkwürdiges Gefühl gewesen, als er ein letztes Mal sein Zimmer betrat, das für ihn das Tor zu einem anderen Leben geworden war.
Hilfe auf dem Behördenflur
Weit hatte er es nicht bis zur Schule. Denn mittlerweile lebt er längst in seiner eigenen Wohnung. Wieder so eine Sache, bei der er dem Glück ein bisschen auf die Sprünge geholfen hat. Diesmal auf dem Flur der Ausländerbehörde. Der Mann aus Aleppo beobachtete eine Dortmunderin, die ehrenamtlich eine syrische Flüchtlingsfamilie betreute. „Es gab offenbar Verständigungsprobleme, also bin ich hingegangen und habe gefragt, ob ich übersetzen soll.“ Er sollte. Und erzählte das Erlebnis abends seinen Kumpels auf dem Sechserzimmer.
„Dann meinte einer, dass der die Frau kennt und ihren Mann auch. Wir haben dann gekocht und sie zum Essen in unser Zimmer eingeladen.“ Man mochte sich. Wenig später hatte Abdul dann mit Hilfe seiner neuen Freunde die erste eigene Wohnung.
Fast ein Jahr ist das jetzt her. Mit dem Wort Freunde ist Abdul vorsichtig, aber er kennt inzwischen Menschen, die dem nahe kommen, was er an Freunden in Syrien zurückgelassen hat. Man kocht gemeinsam, feiert Silvester und Geburtstage. Und wenn er kann, geht Abdul auch noch ins Sprachcafé in der Dortmunder Nordstadt. Freiwillig und gern. Da sitzen sie dann, Menschen aus verschiedenen Nationen und lernen zum Beispiel, was Plätzchen sind in diesem Land. Und wie man sie backt. Alles auf Deutsch.
Weg ist das Heimweh noch längst nicht
Und wenn es geht, erzählen sie sich dort auch ihre Geschichten, die oft von Flucht handeln. Irgendwann will Abdul zurück nach Syrien. Eltern und Geschwister besuchen. Denn spazieren gehen muss er immer noch ab und zu. „Ganz weg ist das Heimweh nicht.“
Als wir auseinandergehen, verspricht er dann noch, dass wir uns in spätestens drei Jahren wiedersehen werden. Wenn er sein Studium beendet und hoffentlich einen Job hat. Am liebsten bei Wilo, wo sie ihm die Chance gegeben haben, anzukommen nach seiner Flucht. „Wilo ist Dein Plus für die Zukunft“ heißt ein Slogan des Unternehmens. Abdul fragt mich, ob ich den nicht im Text nennen könnte: „Denn für mich beschreibt das ja mein Leben.“