Der Knabenchor der Chorakademie ist mittlerweile über Deutschland hinaus eine Marke, die Jungs singen europaweit auf großen Opernbühnen und ernten stets viel Applaus. Wie schaffen sie das?
In eiskaltes Licht getaucht stehen sie da, zu dritt, gebeugt, mit schütterem, weißem Haar. Wie die Gollum-Figur aus der „Herr der Ringe“-Verfilmung von Peter Jackson tragen diese drei Wesen auch nur ein paar Lumpen auf der faltigen, grauen Haut, ihre Rippen scheinen als dunkle Streifen hindurch. Doch krächzen sie nicht, sie singen, markig und eishell: „Halt ein! o Papageno, und sei klug! Man lebt nur einmal, dies sei dir genug!“
Jubel nach dem letzten Bild der „Zauberflöte“
Die drei verkleideten Knaben, die hier in der „Zauberflöte“-Inszenierung von Simon McBurney auf der Bühne der Nationale Opera in Amsterdam stehen und nach dem letzten Bild besonders bejubelt werden, kommen aus Dortmund. Einer von ihnen ist Kristian Brill, 10 Jahre alt, Mezzosopran.
Er hat schon oft in diesem Kostüm gesteckt und gesungen, doch das ändert nichts daran, dass diese Montagabend-Vorstellung wie jede andere trotzdem aufregend ist. „Man singt da vor 2000 Leuten“, sagt er. „Und natürlich versucht man alles richtig zu machen. Aber man macht auch Fehler.“
Abends auf der Bühne, morgens in der Schule
An diesem Montag werden die drei Sänger erst gegen 2 Uhr in der Nacht zurück in Dortmund sein, wird Kristian in sein Bett fallen. Erschöpft und müde, vielleicht glücklich, vielleicht unzufrieden, je nach dem, wie es gelaufen sein wird. Er geht in die fünfte Klasse eines Gymnasiums, Unterrichtsbeginn ist vor 8 Uhr. Aber am Dienstagmorgen ist er vom Unterricht befreit. Sein Künstlerleben, als Solist im Knaben-Konzertchor der Chorakademie, ist nichts, das einfach so nebenher läuft.
Am nächsten Tag ist Probe
Statt zur Schule geht er am nächsten Tag zum Gesangsunterricht, Beginn ist um 16 Uhr. Zusammen mit Eric Aklender, auch 10, Sopran, probt er unter der Anleitung von Jost Salm, dem Leiter des Chores, Duostellen: darunter das „Excelsus super omnes gentes“ aus Johann Adolph Hasses „Laudate pueri“ und, als hätte er es nicht eben noch in Amsterdam gesungen, Teile aus den Knabengesängen der „Zauberflöte“.

Anfang Juni 2018 sang der Knabenchor das Eröffnungskonzerts des Tonwerks. © Stephan Schütze
Es ist erstaunlich, wie viel Klang aus den noch relativ kleinen Körpern kommt: Der ganze Raum ist gefüllt, die Luft flattert, man hört die Töne vibrieren. Jost Salm begleitet die beiden dezent ein- oder zweistimmig auf dem e-Piano. Immer wieder unterbricht er, um die Technik zu korrigieren.
Der Ton ist ruppig, aber humorvoll
„Säg doch nicht so“, „nicht so unschön ansetzen im Sopran“, „den Vokal nicht zu sehr einhellen“, „bitte nicht so massig“ – ein bisschen rau ist sein Ton schon, aber humorvoll.
Eric und Kristian lachen, sie fühlen sich offenbar wohl. Vieles mutet an wie Schulunterricht: „Was fällt dir auf?“ - „Es klingt nicht so spannend.“ - „Genau. Dann mach es spannend.“ Zu Kristian: „Was können wir tun, wenn uns der Ton entgleitet?“ - „Mehr stützen.“
Eric und Kristian haben mehrere Hefte mit Noten dabei, Bleistifte, Wasser. Beide singen seit etwa dreieinhalb Jahren im Knabenchor, auch sie fingen „unten“ an, im A-Chor. Nach einer Prüfung wechselten sie in den B-Chor. Weil sie sich dort bewährten, dürfen sie im Konzertchor mitsingen.
Spätestens mit dem Stimmbruch ist Schluss
Ewig können sie dort aber nicht bleiben: Spätestens, wenn sie in den Stimmbruch kommen, ist ihre Zeit um. Eric hat sich darüber noch keine Gedanken gemacht, gibt er zu. Kristian hingegen schon: „Ich will auf jeden Fall weitermachen“, sagt er. Sein Ziel ist der Jugendchor. Viele ehemalige Knabenchor-Sänger gehen diesen Weg innerhalb der Chorakademie – und tragen ihren Teil zu dem ebenfalls sehr guten Ruf des Jugendchors bei.
Was Eric und Kristian tun, ist für sie ein Hobby: täglich eine Stunde üben, zweimal Chorprobe in der Woche, einmal Stimmbildungsunterricht, immer wieder Konzerte. In den heißen Phasen vorm Konzert wird auch mal täglich geprobt.
Andere Chöre arbeiten intensiver, im Internatsbetrieb
Was für die Kinder und ihre Eltern viel sein mag, ist aus Chorleiter-Sicht extrem wenig. Andere Chöre wie der Windsbacher Knabenchor, die Wiener Sängerknaben oder der Thomanerchor arbeiten viel zeitintensiver, nämlich im Internatsbetrieb. „Doch es ist eine Mär zu glauben, so singen können nur Kinder, die im Internat aufgewachsen sind“, sagt Jost Salm.
Die Art, wie er in Dortmund arbeitet, kennt er aus Tölz, wo er 14 Jahre lang stellvertretender Chorleiter und Gesangslehrer war. „Das war das gleiche Prinzip wie in Dortmund.“ Es bedarf einer anderen strukturellen Organisation, so viel weniger Arbeitszeit zu haben. Doch es klappt.
Wie Leistungssport
Ihr Alltag ist vergleichbar mit dem von Kindern, die im Leistungssport ausgebildet werden. Es gibt klare Regeln: Auf dem Weg nach Amsterdam wird nach 20 Minuten im Bus geschlafen oder zumindest geruht. Mittagsschlaf ist Pflicht, wenn abends ein Auftritt ansteht. „Sonst hat man nicht genug Power“, sagt Kristian. Sie müssen täglich üben, pünktlich sein, Ausdauer mitbringen.
Wer sich dafür entscheidet, weiß, worauf er sich einlässt. Wer nicht mehr mag, ist raus. „Deshalb bleiben von etwa 40 Kindern, die pro Jahr bei uns anfangen, am Ende nur etwa 25 übrig“, sagt Jost Salm. „Viele merken recht schnell: Huch, das hat ja mit Arbeit zu tun.“
„Ich wollte besser werden“, sagt Eric
Dennoch schließt das nicht aus, dass Kinder wie Kristian und Eric dabei unglaublich motiviert sein können: „Als ich im B-Chor war, war meine Stimme nicht so gut“, sagt Eric. „Aber ich wollte besser werden. Irgendwann habe ich mir das Ziel gesetzt, dass ich auf der großen Bühne stehen will, und habe mich hochgearbeitet.“
Seine Noten vom „Laudate Pueri“ haben an den Stellen, an denen er sie beim Üben in der Hand hält, leichte Wellen – wie Papier, das feucht geworden ist. „Ich habe immer Lust zu singen“, sagt er. Momentan übt er aber weniger zu Hause, sondern immer mehr in der neuen Residenz des Chores, dem „Tonwerk“.
Das ehemalige Industrie-Ensemble ist nach den Bedürfnissen des Chores ausgebaut worden, mit Proben- und Unterrichtsräumen, Büros, Aufenthaltssaal, Terrasse, Fußball-Wiese und einer Scheune für Konzerte. Auf dem Weg dorthin, durch schmale Straßen am ländlichen Rand von Hombruch, kann man sich leicht verfahren.

Im Frühjahr 2018 ist das Tonwerk in Hombruch zum Domizil des Knabenchors der Chorakademie geworden. © Dieter Menne
Der Knabenchor ist nicht nur künstlerisch ein besonderes Ensemble in der Chorakademie, sondern auch räumlich. „Der Chor ist etwas komplett Besonderes“, sagt Jost Salm. „So etwas gibt es in anderen Städten nämlich nicht.“ Zwar habe beispielsweise Berlin auch einen, wenn nicht mehrere Knabenchöre, „aber keiner leitet die Sänger so an, wie sie es machen könnten, deshalb werden sie weniger engagiert.“
„Wir haben kein Klangideal“, sagt der Chorleiter
In Dortmund arbeitet Salm daran, die individuellen Stimmen der Sänger auszubilden. „Es geht nicht um einen reinen oder traditionell vorgegebenen Chorklang“, sagt Salm. „Wir haben kein Klangideal.“ Der Dortmunder Knabenchor sei in erster Linie ein „Konglomerat aus Einzelstimmen, aus denen ich den Chorklang mache. Den Klang ihrer Stimme können die Jungs ja variieren.“
Am besten natürlich dann, wenn sie wissen, wie sie mit ihrer Stimme umgehen können und was alles mit ihr möglich ist. „Die Stimmen sollen sich einzeln entwickeln, frei klingen und nicht gedrückt.“ Häufig sängen Knaben „mit hochgezogenem Kehlkopf, relativ viel Kopfklang und hauchiger.“ Hier lernten die Jungen mit voller Stimme zu singen, recht tief gestelltem Kehlkopf und einem weiten Ansatz.
Beim Singen ist viel Kraft im Spiel
Die Jungs in ein eigenes Haus auszuquartieren habe demnach auch nicht einfach ideelle Gründe, sondern vor allem einen künstlerisch-sozialen: „Wir brauchen eine Sonderstellung, um die Jungs überhaupt so zum Singen zu bringen“, glaubt Salm. „Wir lehren hier ein sehr körperliches Singen, bei dem viel Kraft im Spiel ist. Zusammen mit Mädchen würden die Jungen sich nicht so öffnen.“

Die Ursprünge des Tonwerks liegen im 19. Jahrhundert. © Stephan Schütze
In normalen Kinderchören funktioniere ein solches Arbeiten daher in der Regel nicht. Um also die Leistung zu bringen, die sie zu bringen fähig sind, musste es ein eigenes Domizil geben. Die Familie Ammer-Pütter, Eigentümer der Iserlohner Arzneimittel-Firma Medice, investierte für den Umbau rund 1,5 Millionen Euro. Einer der Söhne, Philipp, singt ebenfalls als Solist im Knabenchor.
Rauschhaftes Glücksgefühl
Auch wenn es den einen oder anderen verwundern mag: Es ist gar nicht ungewöhnlich oder unnatürlich, dass Kinder, gerade Jungen, sich für das Singen begeistern. Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther sieht im Singen, gerade in einer Gruppe, gar eine Anziehungskraft: Jungen erführen im Chor „das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit, weil die Modulation der Stimmbänder eine Form extremer Körperbeherrschung voraussetzt“, wird Hüther in einem Bericht der Wochenzeitung „Die Zeit“ zitiert.
Außerdem aktiviere das Singen ein körperliches Muster, das dem der Angst entgegengesetzt sei: „Der Brustkorb dehnt sich aus, der Hals wird lang, man kann die Luft nicht anhalten.“ Das verursache ein rauschhaftes Glücksgefühl im Gehirn der Jungen, das wieder und wieder erleben zu wollen zu einer regelrechten Sucht werden könne.
In jedem Winkel des Tonwerks ist das „Gloria patri“ zu hören
Die Sänger des Konzertchores steigern sich schon bei der Probe hinein in den kräftigen Klang, den sie zu erzeugen gemeinsam in der Lage sind. In jedem Winkel des Tonwerks ist ihr „Gloria patri“ zu hören. Auf den Couches und an den Tischen vor dem Probenraum sitzen ihre Eltern und warten, hören durch die Wände die Fetzen der nächsten Konzertprogramme. Dass sie das Hobby ihrer Kinder mittragen, ist eine wichtige Voraussetzung.
„Ich habe das Glück, nur Teilzeit zu arbeiten“, sagt Marina Aklender, Erics Mutter. „So kann ich Eric immer hierher ins Tonwerk fahren und mein Mann holt ihn nach der Arbeit ab.“ Würden beide Vollzeit arbeiten, wäre es kaum möglich: „Es ist so schon ein großer Organisationsaufwand“, sagt Marina Aklender.
Die Familie passt ihr Leben ans Hobby an
Sanja Brill und ihr Mann, die Eltern von Kristian, sind beide voll berufstätig. Sanja Brill arbeitet zudem in verschiedenen Städten, hat auch mal Termine woanders, beispielsweise in Hamburg. „Wir sind deshalb Teil einer Fahrgemeinschaft, die die Eltern gegründet haben“, sagt sie, „so kann immer jemand einspringen.“ Anders ginge es kaum. Die Familie passt ihren Alltag, ihr Leben an Kristians Hobby an: „Kristian hat als Solist ständig Proben und Konzerte. Da fällt auch schonmal ein Urlaub aus – oder wird so geplant, dass es nicht kollidiert.“
Der Zehnjährige war sechs Wochen von zu Hause weg
Die Eltern müssen flexibel sein, sagt Sanja Brill. Und sie müssen lernen ihre Kinder loszulassen, „in so jungen Jahren schon.“ Als Kristian Solist bei der Zauberflöten-Produktion in Aix-en-Provence war, war er sechs Wochen von zu Hause weg. „Das war das schwerste für mich“, sagt Sanja Brill, „da die Verantwortung so komplett abzugeben. Aber wenn er so großen Spaß daran hat und das unbedingt machen will – dann unterstützen wir ihn dabei.“
Aber auch vor Ort ist es nicht immer leicht. Diese Wochen seien im Chor „eine harte Zeit“, sagt Marina Aklender: In der ersten Woche in der neuen Schule lief die Ruhrtriennale mit „Das Floß der Medusa“, jetzt steht Leonard Bernsteins „Mass“ an. „Dafür fährt Eric fast jeden Tag nach Gelsenkirchen zur Probe.“ Zurück ist er häufig erst gegen 22 Uhr. „Neben der Grundschule war das alles kein Problem. Aber mit dem Wechsel ans Gymnasium hat sich viel geändert, vor allem die Hausaufgaben sind mehr geworden“, sagt Marina Aklender. „Es ist ganz viel auf einmal.“
Der Knabenchor macht die Kinder selbstständig
Sanja Brill berichtet von den gleichen Herausforderungen: viele Hausaufgaben, Klassenarbeiten, längere Schulzeit nach dem Wechsel auf das Gymnasium. Als das Singen zu Anfang nur mit dem Fußball und dem Schwimmen „kollidierte“, ließ Kristian den Sport irgendwann einfach zugunsten des Singens liegen. Mit der Schule aber geht das nicht.
„Wir haben aber das Glück, dass Schule nie ein Problem bei uns war“, sagt Sanja Brill. „Kristian hat immer selbstständig und schnell gelernt.“ In der Grundschule organisierte er sich eigenständig, „jetzt unterstützen wir ihn dabei“, sagt sie. Ihre Erfahrung: „Der Knabenchor macht die Kinder selbstständig. Wir sagen immer zu Kristian: Wenn du alles so machst wie das Singen, machen wir uns keine Sorgen um dich.“
“Die beste Entscheidung, die wir treffen konnten“
Das Singen, sagt Marina Aklender, sei nur ein Teil dessen, was die Kinder im Chor lernten: „Eric ist viel selbstbewusster geworden“, sagt sie. „Er hat durch das Singen im Chor gelernt, im Team zu arbeiten und gleichzeitig als Solist sicher zu sein. Außerdem weiß er, wie er sich eigene Ziele setzt und welche Mittel er hat, um sie auch zu erreichen. Das finde ich bewundernswert.“ Ihn in den Chor zu schicken, sagt sie, „war die beste Entscheidung, die wir treffen konnten.“
Die Söhne auf der Bühne stehen zu sehen, ist für beide Mütter noch dazu ein unbezahlbares Gefühl: Erics Eltern reisten nach Kassel und Bremen, um sich alle sechs Zauberflöten-Aufführungen anzuschauen. „Wir können die Stellen mittlerweile schon selbst singen“, sagt Marina Aklender und lacht. „Er übt sie ja fast täglich. Und so sind wir auch mit ihm aufgeregt. Jede Aufführung ist komplett anders.“ Auch Kristians Eltern kommen zu den Konzerten, wann immer sie es schaffen. Erstaunlich, dass beide Familien zuvor vom Knabenchor noch nichts gehört hatten. Beide waren überrascht von der Musikalität ihrer Söhne.
Komplexe Einsingübungen
Drinnen im Probenraum, unter der Akustikdecke, kontrolliert Jost Salm das Probengeschehen teilweise nur mit seinem Blick. Die Einsingübungen, die jeder Sänger seit Beginn seiner Chorakademie-Zeit kennt – Tonleitern, Wechselnoten, gebrochene Dreiklänge –, werden variiert und immer komplexer und schwerer.
Salm nennt die Jungs beim Nachnamen, die die Übung als nächstes alleine singen müssen, vor der ganzen Gruppe. Manche schaut er dabei absichtlich nicht einmal an: Sie müssen so aufmerksam sein, dass sie sofort reagieren, wenn sie ihren Namen hören.
Tatsächlich liegt eine große Spannung in der Luft, eine Konzentration, wie sie sich mancher Lehrer in der Schule wünschen würde. Das Singen vor den anderen scheint keinen wirklich zu stören. Klar, vollends entspannt sind nicht alle – aber wer ist das schon, wenn er sich in einer Vorsing- oder Prüfungssituation befindet, auf dem Weg zu einem höheren Ziel: Und erst recht, wenn sich in einem großen Opernhaus dieses Kontinents der Vorhang hebt.
Im Dortmunder Süden groß geworden, mittlerweile Innenstadtbewohnerin. Hat an der TU Dortmund Musik mit Hauptfach Orgel, Germanistik und Bildungswissenschaften studiert, studiert jetzt zusätzlich Musikjournalismus. Seit 2010 bei den Ruhr Nachrichten. Schreibt am liebsten über Kultur und erzählt Geschichten von Menschen.