Der Nordmarkt Anfang Dezember vor dem zweiten Lockdown.

© Felix Guth

Darum ist die Dortmunder Nordstadt ein Corona-Hotspot

rnHohe Infektionszahlen

Die Nordstadt ist der Corona-Hotspot in Dortmund. Läuft hier etwas anders als im Rest der Stadt? Viele suchen nach Erklärungen dafür – häufig führt das zu falschen Schlüssen.

Dortmund

, 01.01.2021, 21:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Die Zahlen sind seit Monaten eindeutig. Der Stadtbezirk Innenstadt-Nord verzeichnet mehr Neuinfektionen mit dem Coronavirus als jeder andere der elf weiteren Stadtbezirke. Rund 2000 positive Tests gab es hier bislang.

Das sind mehr als doppelt so viele wie in den beiden anderen Innenstadt-Bezirken. Der Abstand zum am zweithäufigsten betroffenen Stadtbezirk Eving (1107 Fälle bis zum 14.12.) ist deutlich.

Der „Hotspot“-Stempel bestätigt manche Menschen in ihren Vorurteilen

Die Nordstadt hat den Stempel „Hotspot“ erhalten. So ein Stempel, das weiß man gerade in der Nordstadt, scheint eine schwere Last zu sein. Denn die schnellen Erklärungen mancher Menschen sind in Kommentaren zu den Zahlen schon seit Monaten zu lesen: die Großhochzeiten, die Großfamilien, die Kultur anderer Herkunftsländer.

Offener Rassismus bahnt sich seinen Weg. Manche fühlen sich in ihren Vorurteilen über die Nordstadt bestätigt. Das ist gefährlich, und das spüren auch die Menschen in der Nordstadt, die sich in diesen Tagen oft nur zurückhaltend zu dem Thema äußern.

Bei vielen ist Frust zu hören. Über die Stigmatisierung. Aber in der Gegenrichtung auch darüber, dass sich zu viele im Stadtteil nicht an die Regeln halten.

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Die Recherche im „Hotspot Nordstadt“ über mehrere Wochen hinweg und in den zweiten Lockdown hinein zeigt: Die Gründe für die hohen Zahlen sind vielschichtig. Es gibt unterschiedliche Erklärungsmuster, die miteinander zusammenhängen.

Der Faktor Armut

Andreas Koch hat als Geschäftsführer der Grünbau GmbH mit Nordstadt-Bewohnern in allen erdenklichen Lebenssituationen zu tun. Seine Erkenntnis aus den vergangenen neun Monaten Corona-Geschehen lautet: „Wir sollten bei der Erklärung den Faktor auf Armut richten. Menschen in Armut sind stärker von Corona betroffen“, sagt Andreas Koch.

Die Schwierigkeit beginnt bei der Wohnsituation vieler Menschen. In der Nordstadt ist mit über 4100 Menschen auf einem Quadratkilometer die Dichte an Menschen so hoch wie nirgendwo sonst in der Stadt.

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Allein in einem Wohnkomplex wie dem Hannibal leben bis zu 1000 Menschen – fast so viele wie im südlichen Stadtteil Hacheney. In keinem anderen Stadtteil gibt es so viele Familien mit mehr als drei Kindern.

„Bei Häusern am Nordmarkt, wo teilweise 10 Personen auf 75 Quadratmetern leben, hat man Schwierigkeiten, Abstandsregeln zu beachten oder zu Hause zu bleiben“, sagt Andreas Koch. Ein großer Teil des Lebens findet deshalb auch in Pandemie-Zeiten im Freien statt.

Wer zwischen Borsigplatz und Hafen unterwegs ist, der sieht kaum jemanden ohne Maske. Sie sitzt nicht immer vorschriftsmäßig, aber auch nicht mehr oder weniger nachlässig, als man es auf dem Westenhellweg oder in Fußgängerzonen in Hörde und Hombruch besonders vor dem zweiten Lockdown gesehen hat.

Die Stadtbezirke mit den höchsten Infektionszahlen seien deckungsgleich mit den Sozialräumen in der Stadt, die wegen zahlreicher Probleme besonders unterstützt werden. Bemerkenswert dabei: Als das Coronavirus Dortmund erreichte, war es durch den Ski-Tourismus (Stichwort: Ischgl) zunächst in wohlhabenderen Stadtteilen im Dortmunder Süden verbreitet. Dieses Verhältnis hat sich umgekehrt.

Der Faktor Information

Die Frage steht im Raum, ob die schon für Muttersprachler schwierig verständlichen und oft wechselnden Corona-Schutzbestimmungen in nicht-muttersprachlichen und bildungsfernen Haushalten ankommen.

„Es sind viele Falschinformationen unterwegs“, sagt eine Sozialarbeiterin aus der Nordstadt. Über Medien aus den Herkunftsländern wird die Situation in Dortmund gar nicht oder nur unzureichend vermittelt.

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Es hat sich Unterstützung entwickelt, etwa durch die Erklärvideos in unterschiedlichen Sprachen, die es seit einigen Monaten gibt.

Mitarbeiter von Grünbau unterstützen das Gesundheitsamt außerdem bei der Betreuung von Menschen in Quarantäne, die geringe Deutschkenntnisse haben.

Ute Lohde, Betriebsleitung bei Grünbau und zuständig für Migration und Integration, sagt: „Wir suchen Familien mit Abstand auf, beantworten Fragen, erklären die Quarantäne-Regeln. Wir übernehmen auch manchmal die Klärung von Kontaktpersonen.“

Ihr Eindruck ist, dass mittlerweile die an Corona angepassten Verhaltensweisen bei den meisten angekommen sind. „Es gibt inzwischen eine starke Sensibilisierung“, sagt Ute Lohde.

Der Faktor „Kultur“

Gibt es so etwas wie eine „kulturelle“ Erklärung der hohen Infektionszahlen? Beobachter und Akteure aus der Nordstadt sehen zumindest einen Einfluss bestimmter Prägungen.

Der Arzt Dr. Ceyhun Dogan berichtete dieser Redaktion im November von seinem Praxisalltag. Die meisten Menschen seien sich der Gefahr bewusst und hielten sich an alle Vorgaben.

Zugleich habe familiäre Vernetzung eine große Bedeutung für viele Familien. Auch Dogan macht die enge Wohnsituation als Ursache für die vergleichsweise hohen Infektionszahlen aus. „Die Menschen sind viel näher beieinander, das ist eine Herausforderung“, sagt der Mediziner.

Andreas Koch von Grünbau verweist ebenfalls auf die Bedeutung von Familie, etwa bei Hochzeiten von Menschen aus dem arabischen oder türkischen Raum. Zudem sei die Begegnung auf der Straße Teil der „Kommunikationskultur“.

Ein Problem: Ein Teil der Nordstadt-Bevölkerung ist empfänglich für religiöse Deutungen der Corona-Pandemie. Eine Infektion wird etwa in manchen freichristlichen Pfingstgemeinden als Strafe Gottes dargestellt.

Andreas Koch sagt: „Mit diesen Informationsvermittlern in den Gemeinden müssen wir ins Gespräch kommen.“

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