„Menschenverachtend und krankmachend“ Dortmunder Empfängerin kritisiert neues Bürgergeld

Annika bezieht Grundsicherung und kritisiert das neue Bürgergeld scharf
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Politisch wurde das Bürgergeld erst heiß diskutiert und dann in einer Kompromiss-Fassung nach einem Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat verabschiedet. Es wird das vielfach kritisierte Hartz-IV-System ablösen. Eine Dortmunder Betroffene spricht allerdings statt von Bürgergeld von „Hartz V“.

Annika ist 40, wohnt in Dortmund und lebt von Grundsicherung, weil sie durch eine Erkrankung erst arbeitslos und dann erwerbsunfähig geworden ist. Der bisherige Grundsicherungssatz entspricht dem Hartz-IV-Satz: 449 Euro plus „angemessene“ Heizkosten und Miete. Macht für sie das neue Bürgergeld einen Unterschied?

53 Euro mehr

„Nein, absolut nicht“, schreibt Annika in ihrer Antwort auf unsere Fragen. „Es gibt zwar 53 Euro mehr, aber das wird alleine durch die extrem gestiegenen Stromkosten ‚gefressen‘“.

Sie rechnet vor: Der Hartz-IV-Regelsatz sieht 40 Euro für Strom vor, das neue Bürgergeld 40,75 Euro. Schon Anfang des Jahres lagen Annikas Stromkosten aber bei 46 Euro im Monat. Nach mehreren Erhöhungen liegen sie nun bei 80 Euro. „Heißt, ich muss nun gut 40 Euro von einem anderen kleingerechneten Bereich nutzen, um weiterhin Strom zu haben“, so die Dortmunderin.

Ein weiteres Beispiel: „Mit dem Bürgergeld wird einem nun 174,19 Euro für Lebensmittel und Getränke zugestanden. Das bedeutet pro Tag 5,80 Euro für drei Mahlzeiten und Getränke. Davon soll man sich gesund und ausgewogen ernähren.“

Auch andere Neuerungen des Bürgergelds, wie zum Beispiel die Möglichkeit, mehr hinzuzuverdienen, bringen Menschen nichts, wenn sie arbeitsunfähig sind, so Annika. „Mit Grundsicherung darf man gar nichts dazuverdienen. Keine der so hochgelobten Änderungen haben irgendeine positive Auswirkung auf mich.“

„Verachtenswertes Menschenbild“

Einer der Kernpunkte der Debatte um das Bürgergeld waren die Sanktionen. In aller Kürze: Wer Leistungen vom Staat bezieht, muss bestimmte Auflagen erfüllen. Wer Auflagen des momentan noch geltenden Hartz-IV-Systems nicht nachkommt - zum Beispiel Termine beim Amt verpasst -, dem kann das Geld gekürzt werden, obwohl es eigentlich das gesetzliche Existenzminimum in Deutschland darstellt.

Das ursprünglich geplante Bürgergeld der Ampel-Koalition sollte ein Sanktionsmoratorium von sechs Monaten enthalten - also sechs Monate ohne Sanktionen. Doch CDU und CSU stellten sich im Bundesrat quer.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verfolgt während der Bundesratssitzung die Abstimmung zum Bürgergeld.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verfolgt während der Bundesratssitzung die Abstimmung zum Bürgergeld. © picture alliance/dpa

„Ich bin nie sanktioniert worden und ich kenne auch niemanden, der je sanktioniert worden ist“, so Annika. „Mit ihrer Fokussierung auf Sanktionen hat die CDU/CSU eine echte Scheindebatte entfacht.“

Nur drei Prozent aller Harz-IV-Beziehenden seien überhaupt je sanktioniert worden und darunter seien noch Menschen, die wegen einer psychischen Erkrankung gar nicht in der Lage seien, zum Beispiel Termine wahrzunehmen oder Bewerbungen zu schreiben, so Annika.

„Ich versuche alles, um keine Fehler zu machen. Das bedeutet, ich melde jeden Cent beim Amt“, schreibt die Dortmunderin. Das führe auch zu absurden Situationen, bei denen wegen 1 oder 2 Euro mehrere Briefe hin- und hergeschickt werden müssen, deren Porto höher liegt. „Wenn ich diese 1 oder 2 Euro aber nicht melde, kann es dazu führen, das man mir wegen Versäumens der Meldepflicht 10 Prozent des Regelsatzes kürzt.“

„Es ist ein verachtenswertes Menschenbild, das dem Sanktionsgedanken zugrunde liegt“, schreibt Annika.

„Dieses System macht krank“

Auch ein weiterer Punkt aus der Debatte um das Bürgergeld macht Annika merklich wütend. Das Argument, man müsse aufpassen, dass das Bürgergeld nicht dazu führe, dass Menschen einfach von Leistungen leben, weil sie keine Lust auf Arbeit haben. Der Tenor: Arbeit müsse sich lohnen.

„Das sagen Menschen, die sich noch nie ab dem 15. des Monats überlegen mussten, ob sie Lebensmittel oder nötige Medikamente kaufen vom letzten Geld“, schreibt Annika. „Ich kenne viele, die in prekären Arbeitsverhältnissen stehen und die ergänzende Leistungen bekommen, niemand - wirklich niemand - von denen würde freiwillige die Arbeit kündigen.“

Viele wären viel eher froh, wenn sie eine Chance auf richtige Arbeit hätten, schreibt Annika. Doch: „Dieses System macht krank. Wenn man jeden Monat jeden einzelnen Cent viermal umdrehen muss und immer Angst hat, dass irgendwas kaputtgeht, wirkt sich das auf Psyche und Körper aus - und hilft nicht dabei, Arbeit zu finden oder die Arbeitsfähigkeit zurückzuerlangen.“

725 Euro Regelsatz

Der entscheidende Punkt für Menschen, die in Armut leben, ist und bleibt das Geld. Im Fall des Bürgergeldes ist es künftig der Regelsatz von 502 Euro im Monat. Annika schreibt, dieser sei „unter jede Lebensrealität kleingerechnet, so das ein Leben davon nicht gesund machbar ist. Nicht mal ansatzsweise.“

Sie schließt sich der Forderung vieler Sozialverbände an und wünscht sich einen Regelsatz von 725 Euro plus Übernahme der Stromkosten - regelmäßig angepasst an die Inflation. „Und nein, ich kenne auch niemanden der seine Arbeit hinwerfen würde, wenn der Regelsatz bei 725 Euro liegen würde. Denn arbeiten dürfen, hat auch etwas mit Selbstachtung, mit etwas schaffen und tun können zu tun“, schiebt sie nach.

Das Bürgergeld tritt am 1. Januar in Kraft. Die Bundesregierung informiert über die wesentlichen Änderungen auch online. Dort ist auch zu lesen, das Bürgergeld sei „eine große Sozialreform“ und „bürgernäher, unbürokratischer und zielgerichteter“.

Annika, die es ab Januar über die Grundsicherung beziehen wird, beschreibt das Bürgergeld hingegen so: „Es ist menschenverachtend und raubt jedem, der vom Staat abhängig ist sämtliche Würde.“

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