Bettler wurde Hartz IV gekürzt - Sozialfonds springt ein

Michael Hansens Geschichte

Das Dortmunder Jobcenter kürzt Michael Hansen (50) seine Hartz-IV-Bezüge, weil er - wenn das Geld zum Monatsende knapp wird - vor einem Modehaus in der Dortmunder Fußgängerzone bettelt. Die Recherchen dieser Redaktion schlugen bundesweit hohe Wellen. Michael Hansens Geschichte wurde zigfach aufgegriffen. Bislang rückt das Jobcenter nicht von seiner Einschätzung ab. Dennoch gibt es nun Hilfe für den 50-Jährigen und seine Frau.

von Tobias Grossekemper, Benedikt Reichel

DORTMUND

, 25.11.2017, 05:01 Uhr / Lesedauer: 4 min
Michael Hansen bettelt in der Dortmunder Innenstadt. Dass ihm deswegen Hartz IV gekürzt wurde, hat bundesweit für Aufsehen gesorgt.

Michael Hansen bettelt in der Dortmunder Innenstadt. Dass ihm deswegen Hartz IV gekürzt wurde, hat bundesweit für Aufsehen gesorgt. © Foto: Tobias Großekemper

Die Plattform Sanktionsfrei.de hat Michael Hansen die vom Jobcenter Dortmund verhängte Kürzung ausgeglichen. Die Plattform versteht sich in erster Linie als digitale Beratungsstelle für Hartz-IV-Empfänger sowie als Rechtshilfe- und Sozialfonds. Durch diesen sollen Sanktionen verhindert oder ihnen widersprochen werden. In bestimmten Fällen, wenn Sanktionen bereits verhängt wurden, können diese über einen begrenzten Zeitraum ausgeglichen werden. Auf Facebook und Twitter hat Sanktionsfrei.de erklärt, Michael Hansen zu unterstützen. „Und nein, das können wir leider nicht immer machen - außer, ihr werdet alle Hartzbreaker“, schreiben die Autoren. Als Hartzbreaker bezeichnen die Plattform ihre Unterstützer, die den Solidartopf mit monatlichen (Klein)Spenden unterstützen.

Kurz und knapp: Die Geschichte

Vor einer Woche hatte Tobias Grossekemper für diese Redaktion die Geschichte von Michael Hansen aufgeschrieben. Der 50-Jährige bezieht seit 2005 mit kleinen Unterbrechungen Hartz IV - 760 Euro für sich und seine Frau, plus die Miete für eine 60 Quadratmeter-Wohnung in der Dortmunder Nordstadt. Damit kommt Hansen nicht hin. Immer wieder wird zur Monatsmitte das Geld knapp. Und dann setzt er sich das Schaufenster eines Modehauses, seinen kleinen Hund neben sich, und hält die Hand auf. Mitte dieses Jahres ist das Jobcenter Dortmund auf Hansen aufmerksam geworden - weil eine Mitarbeiterin ihn beim Betteln sah. Hansen sollte darlegen, wie viel er damit „verdiene“. Für das Jobcenter ist Betteln nichts anderes als ein Beruf oder eine Selbstständigkeit. Die Spenden stellen laut Behörde ein Einkommen in „einer Größenordnung dar, die leistungsrechtlich nicht unberücksichtigt bleiben darf“.

Jetzt lesen

Erst wurden die Bezüge des Ehepaar Hansen um 300 Euro gekürzt. Die Grundlage: ein durchschnittlicher Tagesverdienst von 10 Euro. „Im Jobcenter ging man also davon aus, dass Hansen 30 Tage im Monat, ohne freien Tag, auch sonntags um Spenden von Fußgängern bittet“, analysiert die Süddeutsche Zeitung, die den Bericht unserer Redaktion aufgriff. Rechtsanwältin Juliane Meuter legte für Hansen beim Jobcenter Widerspruch ein und führte aus, dass der 50-Jährige maximal einen halben Monat betteln würde und im Schnitt höchstens 6 Euro pro Tag mache. Das Jobcenter berechnete daraufhin 120 Euro an Einnahmen. Abzüglich eines Spendenfreibetrags von 30 Euro wurde den Hansens der Hartz-IV-Satz um 90 Euro gekürzt - verbunden mit der Auflage, ein Einnahmenbuch detailliert zu führen.

Bundesweites Aufsehen - Die Presseschau

Der Fall sorgte bundesweit für Aufsehen. Das Foto von Michael Hansen in der Dortmunder Fußgängerzone ging durch die Republik. Nahezu täglich ging seit dem Bericht ein Kamerateam vor Michael Hansen in Stellung. Und es gab viel Kritik am Handeln des Jobcenters. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin, Ulrich Schneider, sagte der Süddeutschen Zeitung: „Was Herrn Hansen passiert ist, ist reine Schikane. Hier geht ein Sachbearbeiter völlig unverhältnismäßig vor und lässt jede Form von Feingefühl vermissen.“ Ähnlich äußerte sich der in Dortmund geborene Armutsforscher Professor Christoph Butterwegge im Gespräch mit den Ruhr Nachrichten. Zudem entbrannte ein Streit darüber, ob sich das Dortmunder Jobcenter überhaupt juristisch korrekt verhalte. Der Wuppertaler Sozialrechtsexperte Harald Thomé nennt das Vorgehen in der taz „rechtswidrig“. Der entsprechende Paragraf 11a, Absatz 5 im Sozialgesetzbuch II lautet:

Nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind „Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, soweit

  • 1. ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre oder
  • 2. sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.“

Die Frage ist also: „Sind 120 Euro Spendengelder im Monat eine ‚günstige Beeinflussung‘ der Lage von Hartz-IV-Empfängern, sodass die Sozialleistungen daneben ‚nicht gerechtfertigt“ ist? Oder müsste man hier nicht eher den ersten Satz heranziehen, nach dem eine Anrechnung ‚grob unbillig‘ wäre“, schreibt die taz unter der Überschrift „Hauptsache Schikane“. Dort verweist der Sozialrechtsexperte Thomé auch darauf, „dass zum Beispiel der Erlös aus dem Sammeln von Pfandflaschen nicht auf Hartz-IV-Leistungen angerechnet“ werde.

Erwerbstätigkeit mit höherem Freibetrag

Für Spiegel-Autorin Heike Klovert wirft der Fall die Frage auf, „wie penibel der Staat mit seinen Steuergeldern umgehen muss und wo die Grenze zwischen einem würdigen und unwürdigen Alltag von Menschen verläuft“. Besonderen Fokus legt sie auf ein Schreiben vom Jobcenter, in dem dieses Michael Hansen aufforderte, „sich bei der Gewerbemeldestelle zu erkundigen, ob er eine meldepflichtige Tätigkeit ausführe - und gegebenenfalls ein Gewerbe oder eine freiberufliche Tätigkeit“ anzumelden. Ist das Betteln dann eine Erwerbstätigkeit, „für die in der Regel ein Freibetrag von 100 Euro gilt?“

Der Donaukurier schreibt in einem Blogeintrag zynisch, dies sei „praktisch der Ritterschlag vom Jobcenter: Man wird zum Profi-Bettler ernannt. Dann ist man nicht mehr nur Hartz-IV-Pechvogel, sondern Geschäftsmann. Da fehlt eigentlich nur noch, dass das Jobcenter verlangt, der Mann solle jedem Spender eine Quittung ausstellen.“ Und unter der Überschrift „Aus den bürokratischen Eingeweiden des Hartz IV-Systems“ fragt der Blog Aktuelle Sozialpolitik: „Betteln als Beruf oder Selbstständigkeit? Gibt es da auch Ausbildungsgänge?“

In der Praxis sei es ohnehin schwierig, Einnahmen aus der Bettelei zu überprüfen, sagte Sozialrechtlerin Minou Banafsche von der Universität Kassel dem Spiegel. „Die Jobcenter haben zwar das Recht dazu, und die Betroffenen haben grundsätzlich auch eine Mitwirkungspflicht, aber die konkreten Einnahmen lassen sich im Einzelfall de facto wohl kaum korrekt nachweisen.“

Wie geht es weiter?

Noch ist unklar, wie das Jobcenter nach der Welle der Aufmerksamkeit mit dem Fall umgeht. Hart bleiben oder nachgebe? Ist der Öffentliche Druck schon so groß, wie 2009 in Göttingen, als ein ähnlicher Fall das niedersächsische Sozialministerium auf den Plan rief und die Stadt schließlich zurückruderte? Die Plattform Sanktionsfrei.de freut sich zumindest, dass es endlich mal wieder „Medienrummel wegen Hartz IV“ gibt - „das kommt echt viel zu selten vor“. Die „Ersatzleistung“ für Michael Hansen stößt in den Reaktionen auf Facebook auf viel Zustimmung. Doch nicht wenige fragen sich, warum das Jobcenter dieses Geld nicht auch als zusätzliches Einkommen werten sollte. Sanktionsfrei.de schreibt dazu: „Wir leisten die Zahlung unter Angabe des Tafelparagrafen. Der Tafelparagraf berechtigt Organisationen der freien Wohlfahrtspflege zu Auszahlungen nach §11a SGB II. Sie grenzt sich auf der einen Seite von öffentlich-rechtlichen Leistungen ab und auf der anderen von gewerblichen, auf Gewinnerzielung ausgerichteten Angeboten. Als gemeinnütziger Verein zählt Sanktionsfrei zu den Organisationen der freien Wohlfahrtspflege.“

Dortmund am Abend

Täglich um 18:30 Uhr berichten unsere Redakteure für Sie im Newsletter Über die wichtigsten Ereignisse des Tages.

Lesen Sie jetzt