Schreibabys (Symbolbild) brüllen täglich mehrere Stunden lang - eine enorme Herausforderung für Eltern. Louisa und Lukas Klein mussten diese Erfahrung mit ihrer Tochter Antonia machen. Glücklicherweise bekamen sie in der Schreibaby-Ambulanz in Dortmund schnell Hilfe. © dpa/Klein
Schreibaby-Ambulanz Dortmund
Baby Antonia brüllte stundenlang: „Wir waren am Ende unserer Kraft“
Als Antonia sechs Wochen alt ist, sind ihre Eltern sicher: Es stimmt etwas nicht. Ihre Tochter schreit täglich stundenlang. Die Familie muss extrem belastende Monate überstehen, bevor sie Hilfe findet.
Nach vier Wochen zu Hause wissen Louisa und Lukas Klein nicht mehr weiter: Ihre neugeborene Tochter Antonia schreit und schreit und schreit. Jeden Tag. Stundenlang. „Sie hat aus Leibeskräften gebrüllt, wirklich richtig geschrien“, erinnert sich Lukas Klein, der mit seiner Familie in Nordkirchen lebt.
Antonia ist ein Schreibaby. Ihr Schreien geht weit über das normale Maß, das viele Eltern von Säuglingen kennen, hinaus. Sowohl in der Intensität als auch in der Dauer. Dass es dafür spezielle Hilfen und Aussicht auf Besserung gibt, erfahren die Kleins erst Monate später - als sie sich an eine Expertin in Dortmund wenden. Bis dahin lassen sie viel Kraft.
„Sie ließ sich überhaupt nicht beruhigen“
Anfang April 2021 kommen Antonia und ihre Zwillingsschwester Emilia zur Welt - nach zwei Wochen im Krankenhaus geht es für die vierköpfige Familie dann nach Hause. Bis dahin läuft alles gut, das Familienglück ist perfekt. Doch je mehr die Zwillinge von ihrer Umgebung mitbekommen, je mehr wird Louisa und Lukas Klein bewusst: Irgendetwas stimmt nicht.
„Im Vergleich mit ihrer Schwester ist schnell aufgefallen, dass Antonia viel weinerlicher war. Sie ließ sich überhaupt nicht beruhigen, hat auf Kuscheln nicht reagiert“, beschreibt der 28-Jährige. „Man hat gemerkt, sie ist müde - aber man konnte sie nicht weglegen, sie ist aber auch nicht auf dem Arm eingeschlafen.“
Täglich stundenlanges Schreien
Alles, was bei ihrer Schwester Emilia zur Beruhigung und als Einschlafhilfe klappt, bleibt bei Antonia erfolglos. Dafür schreit das kleine Mädchen. Über Stunden und laut. Jeden Tag aufs Neue, besonders abends. „Wir haben an uns gezweifelt, ob wir etwas falsch machen.“
Auf der Suche nach Hilfe führt der erste Weg zum Kinderarzt. Die erste Vermutung, da das kleine Mädchen auch schlecht trinkt: vielleicht eine Milch-Unverträglichkeit. Aber auch eine Umstellung dabei bringt nichts.
Vier Wochen nach der Entlassung aus der Klinik fährt Lukas Klein mit seiner Tochter zur Kinderklinik in Datteln. „Wir wussten einfach nicht mehr weiter, waren wirklich verzweifelt.“ Hier wird seine Tochter komplett durchgecheckt, körperlich ist aber alles in Ordnung.
Entscheidender Tipp: Schrei-Ambulanz
Wieder zuhause geht das Schreien unverändert weiter. „Sie hat über den Tag verteilt mehrere Stunden geschrien, abends auch Stunden am Stück“, so Lukas Klein. Entlastung gibt es für ihn und seine Frau quasi nicht. Die Großeltern wohnen zwar nebenan - „aber wir selbst kamen mit Antonia ja kaum zurecht, für andere war das quasi unmöglich. Ein so schreiendes Kind kann man anderen nicht zumuten.“
Die Belastung für die junge Familie ist extrem hoch, nach drei Monaten kommt der Gedanke auf: „Warum bekommen Menschen überhaupt Kinder?“, erinnert sich Lukas Klein. Nochmals fährt er in die Dattelner Kinderklinik - und bekommt endlich den entscheidenden Tipp: Es gebe „Schrei-Ambulanzen“ - vielleicht könne man ihm da helfen.
Beratung für Eltern von Schreibabys
Ein paar Internet-Recherchen weiter wählt Lukas Klein die Nummer der Schreibaby-Ambulanz des Kinderschutzzentrums Dortmund und landet bei Christine Kandler. Die Sozialpädagogin berät Eltern von sogenannten Schreibabys - für die es eine diagnostische Definition gibt: Sie schreien „über mehr als drei Wochen, an mehr als drei Tagen, mehr als drei Stunden am Tag“, so Kandler - um gleich zu ergänzen, dass die reine Definition nicht weiterhelfe.
Christine Kandler ist Sozialpädagogin. Im Kinderschutzzentrum Dortmund berät sie unter anderem Eltern von Schreibabys. © März/Kinderschutzzentrum
„Sobald das Schreien zu einer Belastung für die Eltern wird, brauchen sie Entlastung.“ Ihr Rat: Lieber einmal zu viel anrufen als einmal zu wenig.
Im ersten Gespräch mit Familie Klein fragt Christine Kandler wie zu Beginn jeder Beratung ganz offen: „Wie kann ich helfen? Was läuft zuhause ab? Wie erleben Sie das?“ Und erhält Antworten, die denen vieler anderer Betroffener ähneln.
Schwierigkeiten, erlebtes zu verarbeiten
Denn nicht immer, aber sehr oft steckt hinter dem exzessiven Schreien eine Regulationsstörung. „Oft sind es Kinder, die extrem neugierig sind, das eint die Erzählungen der Eltern. Sie gucken ständig herum, wollen alles mitbekommen, sind aber nicht in der Lage, das Erlebte gut zu verarbeiten.“
Die Kinder signalisieren ihren Eltern durch ihr Verhalten: Ich will noch mehr erleben, mehr entdecken. „Dabei läuft das Fass, in dem sich die Eindrücke sammeln, immer weiter voll“, erklärt die Sozialpädagogin bildlich. Irgendwann ist das Fass voll - und es läuft nicht langsam über, sondern ähnelt eher einem Springbrunnen, aus dem das Wasser herausschießt.
„Schreien ist für etwas gut“
Darin erkennt Lukas Klein auch seine Tochter Antonia wieder: „Antonia wollte immer alles erleben, sehen, verstehen - sie hat nie genug bekommen. Wir hatten immer das Gefühl, dass sie sehr unzufrieden war, sie immer noch mehr möchte.“ Daher wird das Schreien auch am Abend noch schlimmer: Immer mehr Eindrücke haben sich angesammelt - über das Schreien wird Druck abgebaut, so die Expertin.
Das ist eine wichtige Erkenntnis, die vielen Eltern hilft: „Das Schreien ist für etwas gut“, erklärt Kandler. „Für ein Kind ist Schreien eine ganz normale Kommunikationsmöglichkeit.“
„Eltern traumatisiert vom Schreien ihrer Kinder“
Aber eine, die Eltern durchaus belasten kann: „Natürlich macht Kinderschreien Stress - es ist in unseren Genen angelegt, dass wir aktiv werden, wenn ein Kind schreit. Wenn wir damit nicht erfolgreich sind, wird es belastend. Irgendwann sind Eltern traumatisiert vom Schreien ihrer Kinder.“
Ein wichtiger Schritt in ihren Beratungen ist es daher, die Erkenntnis reifen zu lassen: Das Schreien ist für etwas gut. Eltern müssen lernen, das auch auszuhalten. „Es war wieder zu viel, schrei es heraus, ich begleite dich dabei“, könne eine gute Grundhaltung sei.
Dieses Wissen hilft auch Lukas und Louisa Klein: „Mehr als ihr in diesen Situationen Nähe zu geben, kann man nicht machen. Einfach da sein. Ich habe mir dabei auch mal Kopfhörer aufgesetzt“, beschreibt der Familienvater die Phasen, in denen Antonia vor dem Einschlafen stundenlang auf seiner Brust liegend brüllte und er ihr beistand.
Das Maß an Reizen muss passen
In einem zweiten Beratungsschritt geht es dann aber auch darum, herauszufinden, was die Familie ändern kann, um es einem Schreibaby wie Antonia leichter zu machen. Zunächst lernen Eltern, auf kleine Zeichen zu achten, die ihr Kind gibt, wenn es genug Reize gesammelt hat. „Klassiker sind Schluckauf, geschlossene Fäustchen, ein glasiger Blick“, nennt Kandler Beispiele.
Und dann gilt es, den Tag so zu gestalten, dass das Maß an Reizen passt. Ein Schlüssel sei oft regelmäßiger Schlaf. Aber auch kleine Tipps für den Alltag helfen Familie Klein weiter.
Eine enger begrenzte Umgebung half Schreibaby Antonia dabei, besser zur Ruhe zu kommen. Das Bettchen verkleinerten ihre Eltern mit Kissen, der Maxicosi wurde mit Tüchern zugehängt. © Klein
Geht es im Maxicosi vor die Tür, wird die Babyschale mit einem Tuch abgehängt, damit Antonia nicht so viel von der Umgebung mitbekommt. Die Liegefläche im Kinderbett wird mit einem Stillkissen verkleinert, das Bett zusätzlich mit einem Kissen abgedunkelt.
Schreianfälle sind Vergangenheit
„Für uns war wirklich der wichtigste Tipp, Reize zu minimieren“, sagt Lukas Klein. Damit stellen sich schnell Erfolge ein, das Schreien wird weniger. „Mittlerweile hat Antonia gar keine Schreianfälle mehr. Sie lernt schnell, möchte vieles entdecken.“
Und kann das nun auch deutlich besser verarbeiten. „Mit jedem Entwicklungsschritt haben wir deutliche Verbesserungen bemerkt“, so der Familienvater im Rückblick.
Die Verzweiflung der ersten Monate ist verflogen. „Antonia geht jetzt ständig auf Entdeckungstour.“ Und dabei können ihre Eltern sie nun ganz entspannt begleiten.
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