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Trauer-Experten: „Die Familien haben dem Tod ins Auge geblickt“
Ukraine-Krieg
Viele Flüchtlinge aus der Ukraine kommen gerade auch im Kreis Unna an. Eine Trauerberaterin aus Schwerte und ein Lüner Psychotherapeut erklären, wie man den Familien helfen kann.
Sie haben Tote gesehen oder im Luftschutzkeller um ihr Leben gebangt. Viele haben sich von ihren Vätern, Ehemännern oder Eltern verabschieden müssen. Geflüchtete aus der Ukraine sind zum Teil schwer traumatisiert. Vor allem Familien mit Kindern sind vom Krieg betroffen.
Viele Flüchtlinge kommen auch im Kreis Unna an. Ein Bus-Konvoi, zu dem auch das Schwerter Reiseunternehmen Quecke gehört, hat am Sonntag (6.3.) Menschen von der polnisch-ukrainischen Grenze in die Ruhrstadt gebracht. Hier sollen sie Sicherheit finden. Doch auch die psychische Begleitung ist wichtig.

Anfangs ist es wichtig, seine Gedanken überhaupt unter Kontrolle zu bekommen. Nur so kann man handlungsfähig bleiben, glaubt Dr. Christian Lüdke. © picture alliance/dpa/AP
Die Schwerter Trauer- und Traumaberaterin Walburga Schnock-Störmer (57) arbeitet für den Verein „Leuchtturm e.V.“, ein Beratungszentrum für trauernde Kinder, Jugendliche und Familien. Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke aus Lünen ist spezialisiert auf die Bewältigung von Traumata. Beide haben mit uns darüber gesprochen, wie man den Familien helfen kann.
In welcher seelischen Verfassung befinden sich die Familien?
Walburga Schnock-Störmer: „Alle stehen unter heftiger Stressbelastung. Der Krieg macht schon uns ohnmächtig und löst Verlustängste und Stress aus. Umso mehr die Menschen, die Gewalt, Lärm und den sinnlosen Krieg vor Ort erleben. Ein Ausnahmezustand. Das Vertrauen ins Leben ist zutiefst erschüttert.
Kinder und Erwachsene mitten im Krieg haben den Tod vor Augen. Sie erleben, wie Menschen sterben, wie Häuser explodieren. Sie erleben Hass und Gewalt. Hinzu kommt die Panik, Angehörige zu verlieren, auseinandergerissen zu werden.“
Christian Lüdke: „Die Menschen tun mir unfassbar leid. Sie haben dem Tod ins Auge geblickt. Das muss ein Trauma nach sich ziehen. Das Schlimme: Die bedrohliche Situation ist nicht vorbei, wie bei einem Unfall oder einem Attentat. Sondern sie geht ja für deren Angehörige weiter. Frauen haben ihre Männer, Söhne oder Brüder zurückgelassen. Das ist eine besondere Herausforderung für alle, die helfen wollen. Eine Heilung ist in dieser Phase kaum möglich.“

Menschen werden durch einen Bahnhof in Lviv in der Ukraine evakuiert. Viele Familien wurden bei der Flucht auseinandergerissen. © picture alliance/dpa/ZUMA Press Wire
Welche Sicherheit kann man den Menschen überhaupt geben?
Walburga Schnock-Störmer: „Wenn die eigene Existenz bedroht wird, wohnt in uns der Fluchtinstinkt. Er sichert Überleben und ist ein guter Schutz für die Seele. Zunächst ist es wichtig, Menschen zu finden, die lächeln, die mir Sicherheit schenken, ohne mich mit Nähe zu überschütten. Es ist wichtig, in einem Umfeld zu sein, in dem mich keine Bombe töten kann, wo es genug zu essen und zu trinken gibt, eine warme Decke. Das ist ein wertvoller Rettungsanker.“
Christian Lüdke: „Wichtig ist es, die Menschen erst einmal zu stabilisieren und ihnen das Gefühl zu geben: Ich bin in Sicherheit. Doch das Trauma, das sie erlebt haben, ist nicht in der Ukraine geblieben. Es ist im Nervensystem gespeichert. Deshalb muss man die Menschen auch mental stärken.“
Wie kann so eine mentale Stärkung aussehen?
Christian Lüdke: „Zunächst ist es für die Menschen wichtig, ihre Gedanken und Gefühle wieder zu kontrollieren. Die Gedanken an schreckliche Erlebnisse kommen und gehen. Ein Wechsel aus Anspannung und Erholung wäre wichtig: In einer bestimmten Zeitspanne kümmert man sich, in einer anderen sucht man Zerstreuung.
Dafür ist es auch wichtig, dass Flüchtlinge aus der Ukraine sich untereinander vernetzen können. Das kann mental ungemein stärken. Und wenn sie untereinander Informationen aus gesicherten Quellen austauschen können, gibt auch das Sicherheit.
Walburga Schnock-Störmer: Das unterstütze ich sehr! Die Frauen brauchen dringend Vernetzung, denn Solidarität schenkt Lebensmut. Sich austauschen können miteinander, in ihrer Sprache vertraut miteinander reden können und ihre Sorgen teilen – das schafft Sicherheit. Die Gemeinschaft mit Menschen aus der Heimat stabilisiert und beruhigt die aufgewühlten Seelen. Und verlässliche Informationen helfen gegen die Phantasien, die oft viel schlimmer sind als die Realität. Das gilt auch für die Kinder.

Jugendliche spielen Fußball in der Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Beide Experten sagen: Kinder müssen spielen, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild
Was können Helfer in den Städten, in denen Geflüchtete ankommen, konkret tun?
Walburga Schnock-Störmer: „Wie ein Menschen Erlebnisse in sein Leben integriert, ist psychologisch individuell sehr verschieden. Sichere Begegnungsorte schaffen, in denen sich die Familien miteinander treffen können, ist ein Segen. Die Zusicherung, dass Politikerinnen und Politiker sowie die Helfenden alles in ihrer Macht Stehende tun, um sich für den Frieden einzusetzen, beruhigt ungemein.“
Christian Lüdke: „Man sollte die Menschen nicht unterbringen im Sinne von „wegpacken“, sondern aktiv in Tätigkeiten einbinden – und ihnen gleichzeitig Zeit zur Entspannung schenken. Nur wenn man innere Ruhe findet, kann man handlungsfähig bleiben.“

„Spielen, spielen, spielen“: Beide Experten betonen, wie wichtig das Spiel für traumatisierte und trauernde Kinder ist. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild
Welche Hilfe ist besonders für die Kinder wichtig?
Walburga Schnock-Störmer: „Auch Kinder brauchen Antworten auf ihre Fragen – und den Kontakt untereinander. Betreuungsangebote helfen dabei, dass sie sich wohlfühlen, Spielgefährten finden und im Spiel Entlastung finden können.
Kinder sind großartig; sie können miteinander kommunizieren, ohne zu reden. Das Spiel schafft eine schnelle Nähe. So lassen sich auch Erlebnisse verarbeiten – indem Kinder sie durchspielen und damit auch ein Stück bewältigen.“
Christian Lüdke: „Trauerarbeit bei Kindern ist extrem kompliziert. Spielen ist die Währung der Kinder. Ich habe Bilder gesehen aus den U-Bahn-Schächten von Kiew, wo die Kinder spielen. Das sollten sie hier auch: spielen, spielen, spielen. Und Bilder malen. In Bildern können Kinder ihre Trauer gut verarbeiten, weil sie darin selbst Lösungsfantasien entwickeln. Das habe ich schon oft bei traumatisierten Kindern erlebt. Die Bilder, die sie malen, verändern sich mit der Zeit.“
Das sind unsere Experten:
- Walburga Schnock-Störmer aus Schwerte (57) ist Diplom-Religionspädagogin, systemischer Coach und Trauerberaterin beim BVT, dem Bundesverband für Trauerbegleitung e.V.
- Ihre Fachgebiete sind u.a. Heilpädagogische Spieltherapie, Gestalttherapie KIKT Köln, Krisenintervention und Traumaberatung. Beim Schwerter Beratungszentrum „Leuchtturm e.V.“ kümmert sie sich um trauernde Kinder, Jugendliche und Familien.
- Dr. Christian Lüdke aus Lünen (61) ist approbierter Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut und Klinischer Hypnotherapeut. Lüdke unterstützt Kinder, Jugendliche, Familien und Paare.
- TV-Zuschauerinnen und Zuschauer, aber auch unsere Leserinnen und Leser schätzen seit vielen Jahren seine kompetenten Tipps rund um das Thema Familie und Kinder. Er ist selbst zweifacher Vater und erfolgreicher Autor u.a. der Kinderbücher zu Stella & Tom.
Begegnungen mit interessanten Menschen und ganz nah dran sein an spannenden Geschichten: Das macht für mich Lokaljournalismus aus.
