Es ist ein Refugium, zumindest beim Blick in Richtung Norden und Osten. Zwei alleinstehende alte Häuser in Fachwerkbauweise, 300 Meter tiefe Gärten, daneben Felder, einen Steinwurf entfernt Wald. Rehe blicken gerne mal über den Gartenzaun. Bussarde kreisen über dem abgeernteten Feld. Ein Turmfalke nistet im Ausleger eines Hochspannungsmasten.
Das ist pure Naherholung – bei Spaziergängen durch die Landschaft oder im Sommer auf dem Balkon. Könnte man meinen. Aber die Kehrseite liegt im Süden und Westen der Grundstücke: Vor der Haustür, hinter der nur 50 Meter entfernten Lärmschutzwand, dröhnt Verkehr. 100.000 Fahrzeuge rauschen hier vorbei, davon mehr als 20.000 Lastwagen. Nicht etwa im Monat oder in der Woche. Jeden Tag.
Mengeder Heide, an der Stadtgrenze zu Castrop-Rauxel, direkt neben der Autobahn 2: die Amselstraße, eine Sackgasse. Sie endet an der Parallelfahrbahn im Autobahnkreuz Dortmund-Nordwest, die von der A2 auf die A45 führt.
Andrea und Heinz Seifert leben mit ihren erwachsenen Kindern und einer Mieterin in einem der beiden Häuser. Im Jahr 2000 zog die Familie hier her, renovierte den vorderen Teil, baute zum Garten hin an. Heinz Seifert war in diesem Haus aufgewachsen. Sein Opa kaufte es 1927/28. Da gab es die A2 noch nicht. Der 131 Kilometer lange Abschnitt zwischen Recklinghausen-Süd und Herford wurde erst 1938 eröffnet.

Verlängerung schon 1974 geplant
Der Eigentümer erinnert sich noch an 1974. „Da wurde das Autobahnkreuz eröffnet“, erzählt der heute 58-Jährige. Während der Bauzeit seien sie mit dem Fahrrad auf der noch nicht freigegebenen Sauerlandlinie gefahren. Zu der Zeit war das Autobahnkreuz Dortmund-Nordwest noch ein halbes Kleeblatt. „Dort lagen noch viele Jahre die Brückenteile für den Weiterbau nach Waltrop“, erzählt Heinz Seifert.
Denn ursprünglich sollte die A45 schon Mitte der 1970er-Jahre verlängert werden. Und damals gab es für das nördliche Ruhrgebiet noch eine ganz andere Verkehrsplanung. Der „Lippeschnellweg“ sollte vom Niederrhein über Dorsten, Waltrop, Lünen und Hamm nach Beckum führen – mit einem Anschluss an die A45 in Waltrop.
Es kam anders. Die Idee der Weiterführung indes blieb – als Bundesstraße B474n mit Anschluss an die B235 nordöstlich von Datteln. Für den Abschnitt bis Waltrop-Oberwiese ist auch aktuell der vierstreifige autobahnähnliche Ausbau als Kraftfahrstraße geblieben.

Die Verkehrsprognose für die B474n rechnet mit mindestens 30.000 Fahrzeugen täglich. Sie rauschen dann in rund 250 Metern an Seiferts Terrasse und Garten vorbei. „Diese Straße ist so überflüssig wie ein Kropf“, sagt Andrea Seifert. „Man löst das Problem nicht, indem man immer neue Straßen baut.“ Das Paar zweifelt daran, dass die B474n „irgendwelche Staus auflösen wird“.
„Schon heute kann man vor unserer Haustür wegen der Verkehrsmassen kaum noch sein eigenes Wort verstehen“, erklärt die 55-Jährige. Womit sie Recht hat: Beim Ortstermin mit unserer Redaktion ist eine Verständigung dort nur durch Rufen möglich.
Das Lärmkataster des Landesumweltministeriums weist für den Bereich vor den beiden Häusern an der Amselstraße und zur Parallelfahrbahn auf die A45 eine Belastung von 70 bis 75 Dezibel im Tagesmittel aus. In den Gärten sind es bis zur rund 500 Meter entfernten Siegenstraße hin noch 65 bis 70 Dezibel.
„Lärm macht krank“
Beim Bau 1938 war die A2 vierstreifig. Heute sind es im Kreuz zehn Fahrspuren. Mit jedem Ausbau kam die Autobahn Seiferts Haus näher. „Die SUVs mit ihren breiten Reifen – wenn die Fahrbahn nass ist oder der Wind schlecht steht, hört man nicht mehr, was an der Gegensprechanlage gesagt wird“, erzählt Andrea Seifert. „Der Lärm macht jetzt schon krank.“ Tinnitus. Bluthochdruck.
Und es ist nicht nur die Furcht vor noch mehr Lärm, warum die Familie den Neubau der B474n ablehnt. „Noch wohnen wir hier im Grünen“, sagt die 55-Jährige. „Beim Bau der Bundesstraße würde ein intaktes Wald-, Landwirtschafts- und für uns in der Mengeder Heide auch ein Naherholungsgebiet verloren gehen.“
Sie meinen die Ickersche Heide, den Wald hinter dem Kulturzentrum Agora. Eineinhalb Quadratkilometer ist der Forst im Städtedreieck von Castrop-Rauxel, Dortmund und Waltrop groß. Die Trasse würde eine breite Schneise durch die Natur ziehen. Laut einem Gutachten aus dem Jahr 2021 wird die B474n für die Ortsumgehung Waltrop 42 Hektar Fläche verbrauchen.

13 Hektar Wald müssten weichen. Lebensräume würden verloren gehen. „Wir sehen hier Rehe, Füchse, Marder und Feldhasen“, erklärt Andrea Seifert. „Da brauchen wir keine Haustiere.“
Schon seit 2008 suchen sie Möglichkeiten, sich gegen die Bundesstraße 474n zu wehren. Das Paar will Kontakt zu den Mengeder Ortspolitikern aufnehmen. „Ob die Dortmunder Politik allerdings etwas bewegen kann, weiß ich nicht“, sagt Heinz Seifert. „Die Trasse führt ja nur ein ganz kurzes Stück über Dortmunder Stadtgebiet.“
Seiferts wollen die Nachbarn „mit ins Boot holen“, um gemeinsam etwas gegen den Neubau zu unternehmen. „Viele wissen wahrscheinlich noch gar nicht, was da gebaut wird und was auf sie zukommt“, sagt der Eigentümer. Letztlich bliebe womöglich nur eine Klage gegen die B474n.
Denn den alten Familienbesitz zu veräußern und fortzuziehen, sei keine gute Option. „Das Haus ist durch die Autobahn und die Neubaupläne ja nichts mehr wert“, betont Andrea Seifert. Allein der Gedanke fällt ihr sichtbar schwer. „Auch ich bin hier seit 20 Jahren verwurzelt. Wir würden nur mit Tränen in den Augen verkaufen.“
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