
Eine Reihe von Stolpersteinen in Dortmund. Sie erinnern an jüdische Dortmunderinnen und Dortmund, die in der NS-Zeit ermordet wurden. © Stephan Schütze (Archivbild)
Antisemitismus: Mehr Straftaten in Dortmund - das ist nicht das einzige Problem
Hasskriminalität
In Dortmund ist die Zahl antisemitischer Straftaten gestiegen. Ein Blick darauf, wer die Straftaten gegen Menschen jüdischen Glaubens begeht und was dagegen unternommen wird.
Der Bundesinnenministerium (BMI) hat zuletzt Anfang Mai schmerzhafte Fakten vermeldet. Die Zahl der Straftaten mit antisemitischem Hintergrund steigt in Deutschland um beinahe 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr, von 2351 auf 3027.
Wie groß ist das Problem in Dortmund?
„Ein Anstieg der antisemitischen Straftaten ist auch in Dortmund zu erkennen“, sagt Peter Bandermann, Sprecher der Polizei Dortmund. 22 Straftaten wurden 2021 verzeichnet. „Tatorte waren der öffentliche Raum, zum Beispiel Friedhöfe, und auch das Internet durch Posts in sozialen Netzwerken“, so Bandermann.
Mehr Fälle als in den Vorjahren - aber nicht der Höchststand
Das sind acht Fälle mehr als 2020 und mehr Taten als in den meisten zurückliegenden Jahren seit 2015. „Die Zahl liegt im Jahresvergleich jedoch deutlich unter dem Höchstwert im Jahr 2018“, sagt der Polizeisprecher. Vor vier Jahren gab es 34 antisemitische Straftaten.
In einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Landtag von März 2022 sind einige Vergehen mit Tatzeitpunkt protokolliert. Zwischen Mai und September sind dort „Volksverhetzung“ oder „Bedrohung“ mit Tatort Dortmund im Abstand weniger Tage verzeichnet.
In den kälteren Monaten nimmt die Frequenz ab. Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund sind 2021 in Dortmund nicht registriert worden.
„Straftaten bilden die Dimension des Problems ab“, sagt Micha Neumann von Adira, der Antidiskriminierungsberatung und Intervention bei Antisemitismus und Rassismus in Dortmund. „Aber darüber allein kann man es nicht erfassen. Denn wir wissen, dass das, was Betroffene erleben, häufig gar nicht angezeigt wird.“
Vieles bleibt unterhalb der Grenze der Strafbarkeit
Gruppenbezogene Feindlichkeit gegen Menschen jüdischen Glaubens äußere sich demnach nicht immer in strafbaren Handlungen. „Viele bewegt sich unterhalb der Grenze, es geht häufig um Andeutungen oder Witze“, sagt Micha Neumann.
Eine Meldestelle für solche Vorfälle mit dem Namen „Rias“ nimmt in NRW gerade ihre Arbeit auf.

Das Team der Beratungsstelle Adira (Micha Neumann, Anna Ben-Schlomo und Johanna Lauke, v.l.) dokumentiert antisemitische und rassistische Vorfälle. © Thomas Thiel
Dennoch: Antisemitismus hat häufig eine politische Dimension. Adira-Geschäftsführer Micha Neumann sieht eine „enthemmtere Form“ und verweist auf vier antisemitisch motivierte Morde im vergangenen Jahr.
Die meisten Taten kommen von rechts
Das Innenministerium unterteilt die Daten unterschiedliche Kategorien. Strafraten aus dem rechtsextremen Milieu nehmen mit rund 84 Prozent den bei Weitem höchsten Anteil ein.
Für Dortmund sagt Polizeisprecher Peter Bandermann: „Der größte Teil der angezeigten Delikte ist auf eine rechtsextremistische Motivation zurückzuführen.“ Die weiteren Kategorien spielten in Dortmund keine Rolle. Das gilt zumindest für die Zahl der gemeldeten Straftaten.
Für die Antidiskriminierungsberatung, die nicht zufällig ihren Sitz in Dortmund hat, verzeichnet Micha Neumann „beständig Vorfälle aus der Richtung von Rechten“. Dazu zähe etwa die massive Beschädigung von Stolpersteinen im Stadtteil Dorstfeld oder der anhaltende Gerichtsprozess über die Parole „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ bei einer Neonazi-Demo 2018.
Laut Polizeipräsident Gregor Lange könne sich die Szene darauf einstellen, dass die erfolgreiche „Soko Rechts“ ihre Arbeit „auf unbestimmte Zeit mit unverminderter Härte“ fortsetze.
„Die in den vergangenen Jahren erzielten Erfolge sind der Grund, unsere Strategie fortzusetzen. Auch die Erkenntnisse aus dem aktuellen Fall in Essen mit rechtsextremistischen und antisemitischen Einstellungen eines Jugendlichen zeigen, dass unsere Frühwarnsysteme funktionieren und wir alle sehr aufmerksam bleiben müssen.“
Corona-Proteste als Nährboden für Antisemitismus?
Den höchsten Anstieg von Straftaten ist deutschlandweit laut dem Bericht des BMI mit über 500 Prozent in der Kategorie „nicht zuzuordnen“ vermerkt. Hierzu heißt es: „Die deutlichen Fallzahlensteigerungen des Jahres 2021 sind insbesondere mit den Themenzusammenhängen COVID-19/Corona-Pandemie sowie Wahlen zu begründen. Hier ist häufig keine Zuordnung zu den klassischen Phänomenbereichen möglich.“

In Dorstfeld waren 2021 mehrere Stolpersteine beschädigt worden. © Archivbild
Antisemitismus aus dem Umfeld der sogenannten „Querdenker“ war auch in Dortmund ein konkretes Thema. Im Februar 2022 verbot die Polizei das Tragen von gelben Sternen mit der Aufschrift „ungeimpft“. Polizeipräsident Gregor Lange hatte das Tragen eines Judensterns durch Impfgegner beschrieben „als eine nicht hinnehmbare Symbolik, mit der die aktuellen Maßnahmen zum Infektionsschutz in der Pandemie mit den Gräueltaten der Nationalsozialisten gleichgesetzt werden“.
In den Kommunikationskanälen der Coronaschutz-Gegner fanden sich in den vergangenen Monaten immer wieder judenfeindliche Erzählungen und Vorurteile.
Diese Rolle spielt „religiöser“ und „ausländischer“ Antisemitismus
Ebenfalls hoch ist deutschlandweit der Anstieg in den Kategorien „ausländische Ideologie“ (217,50 Prozent) und „religiöse Ideologie“ (plus 83,87 Prozent). Dies wird häufig verkürzt als „muslimischer Antisemitismus“ zusammengefasst, hat aber häufig weniger eine religiöse als eine politische Dimension.
„Das Thema wird dann stärker, wenn es im Nahost-Konflikt zu einer Eskalation kommt“, sagt Micha Neumann von Adira. Protest gegen Israel werde von Gruppierungen angetrieben, die vom Verfassungsschutz als radikal eingestuft werden. Dazu zählen etwa Hamas und verbundene Organisationen oder die türkische Rechtsextreme von den Grauen Wölfen. Im Februar wurden auf einer Demo in Dortmund antiisraelische Parolen gerufen, der Staatsschutz schaltete sich ein.
Neumann stellt fest: „Hier lebende Menschen jüdischen Glaubens werden zu Stellvertretern erklärt. Das sehen wir vor allem bei Jüngeren.“
Bildungsarbeit mit jungen Musliminnen und Muslimen
In Dortmund gibt es seit einigen Jahren eine Sensibilisierung für die politische Bildungsarbeit mit muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. So gab schon 2018 über das Multikulturelle Forum verschiedene Projekte zum Abbau von Vorurteilen und zur Begegnung. Eingebunden war dabei ein Verein aus Berlin, der über viel Erfahrung bei diesem Thema verfügt.
Schulen seien in dieser Hinsicht sehr aufmerksam, berichtet Micha Neumann von Adira. Sie suchten häufig den Kontakt, wenn innerhalb einer Klasse Konflikte auftreten. „Wir müssen weiter über das Thema sprechen“, sagt er.
Es dominiert am Ende die erdrückende Erkenntnis: Antisemitismus bedroht die persönliche Unversehrtheit von Menschen und den gesellschaftlichen Frieden von vielen Seiten. Die Corona-Pandemie und der Dauerkrisenzustand verstärken dieses Problem (und viele andere) ganz offensichtlich. Wie begegnet Dortmund dieser Situation?
Strafverfolgung ist ein Baustein, beständige Bildungsarbeit ein weiterer. Die Polizei Dortmund hatte 2021 auf eine öffentliche Kampagne gesetzt, bei der auch Prominente der Stadt ihr Gesicht gegen Antisemitismus zeigten. Der BVB positioniert sich immer wieder klar beim dem Thema und fördert auch die Holocaust-Gedenkarbeit.
„Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem“, sagt Micha Neumann. „Es gibt verfestigte Ressentiments in der gesamten Gesellschaft. Bei Anhängern der AfD und in Teilen der muslimischen Community sind sie etwas stärker ausgeprägt, aber es gibt sie auch bei ganz normalen Menschen, die alle hier in Deutschland sozialisiert worden sind. Wir müssen deshalb weiter über das Thema sprechen.“
Seit 2010 Redakteur in Dortmund, davor im Sport- und Nachrichtengeschäft im gesamten Ruhrgebiet aktiv, Studienabschluss an der Ruhr-Universität Bochum. Ohne Ressortgrenzen immer auf der Suche nach den großen und kleinen Dingen, die Dortmund zu der Stadt machen, die sie ist.
