
Wer in Dortmund einen Therapieplatz sucht, muss in der Regel monatelang warten. (Symbolbild) © unsplash
„Als würde man gegen eine Wand laufen“ – Dortmunder warten Monate auf Therapieplätze
Psychotherapie
In Dortmund gibt es mehr Psychotherapeuten als vorgesehen. Trotzdem warten Betroffene monatelang auf Therapieplätze - manche sogar über ein Jahr. Das hat erhebliche Folgen - für sie und ihr Umfeld.
Wer in Dortmund eine Psychotherapie machen muss, muss vorher lange Wartezeiten durchstehen - mit oft frustrierenden Suchen nach einem Platz. Eine Zumutung für Menschen, die krank sind und Hilfe suchen. Statistisch gesehen ist Dortmund dabei sogar mit Therapeuten und Therapeutinnen überversorgt.
„Schlicht weg zu lang“
Marco (49) hat in Dortmund seit 2015 bereits zweimal einen Therapieplatz gesucht - einmal mit Erfolg, einmal ohne, beide Male monatelang. „Am schlimmsten fand ich, dass man überhaupt keinen Therapeuten erreichen konnte, sondern direkt auf dem Anrufbeantworter gelandet ist“, erzählt er. „Und die Suche war auch schlichtweg zu lang. Man sucht ja als Betroffener nicht für in mehreren Monaten.“
Der Weg bis zu einem dauerhaften Therapieplatz verlangt einem psychisch kranken Menschen viel ab. Unangenehme, schwierige Fragen müssen oft schon vor der ersten Therapiesitzung beantwortet werden. Auch scheinbar einfache Dinge wie Anrufe können eine Hürde darstellen. „Meine jetzige Frau hat mir geholfen. Ich hätte gar nicht die Kraft gehabt, das Telefon in die Hand zu nehmen“, so Marco.
Dortmund ist statistisch überversorgt
Wie lang die durchschnittliche Wartezeit bei Psychotherapeuten und -therapeutinnen in Dortmund ist, weiß niemand. Hört man sich um, erscheinen Wartezeiten von sechs Monaten als die Regel - Wartezeiten von über einem Jahr kommen durchaus auch vor.
Das bringt Probleme mit sich. Denn psychische Erkrankungen verschwinden in vielen Fällen nicht von selbst, können sogar schlimmer werden. Betroffene können vermehrt Einschränkungen im Alltag erleben, häufiger bei der Arbeit ausfallen, manchen bleibt in der Folge nur die stationäre Behandlung in einer Klinik.
Für die Bedarfsplanung der Psychotherapie ist die Kassenärztliche Vereinigung zuständig. Gebunden ist sie dabei an eine Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses - der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens. Nach dieser Richtlinie sollte in Dortmund auf 5211 Einwohnende ein Psychotherapeut oder eine -therapeutin kommen. Tatsächlich ist das Verhältnis sogar besser. Die KVWL meldet eine statistische Überversorgung von 130 Prozent. Nur in der Realität sieht das anders aus.
„Viele nennen den Beruf als Ursache“
Klaudia (57) erleidet im Herbst 2019 eine Panikattacke während sie mit ihrem Auto unterwegs ist. Sie muss mitten in einem Tunnel anhalten. Bereits vorher gab es Anzeichen - nun will sie handeln. Doch auch Klaudia muss ein halbes Jahr nach einem Therapieplatz suchen. Am Ende hilft ihr nur ein Brief direkt an den Vorstand ihrer Krankenkasse.
„Man fühlt sich, als würde man gegen eine Wand laufen“, erzählt sie. „Dabei ist es ja schon eine Überwindung überhaupt zu sagen, dass man Hilfe braucht.“ Auch sie erzählt von der frustrierenden telefonischen Suche und von vielen Anrufbeantwortern. Nach dem Brief an die Krankenkasse bekommt sie schließlich einen Therapieplatz, ist seit dem Frühjahr 2022 therapiefrei und in einer Selbsthilfegruppe, die Marco leitet.
„Viele in der Selbsthilfegruppe nennen den Beruf als Ursache für ihre Ängste oder Depressionen“, sagt Klaudia. „Auch bei mir hat der Stress vor der Panikattacke immer weiter zugenommen. Wir wurden zum Beispiel auf der Arbeit von 43 auf 14 Personen reduziert.“
Etwa ein Viertel mehr Therapeuten
Der Bedarf an Psychotherapieplätzen ist in den vergangenen Jahren aus diesen und weiteren Gründen gestiegen: Weil Vorurteile abgebaut wurden und nun mehr Menschen Hilfe suchen. Weil Hausärzte und -ärztinnen psychische Erkrankungen häufiger erkennen. Und auch die Pandemie hat die Nachfrage nach Therapieplätzen steigen lassen, heißt es von der Psychotherapeutenkammer NRW.
Die Bedarfsplanung werde dem allerdings nicht gerecht. „103 Prozent sind eigentlich eine gewollte Fehlinformation“, sagt deren Präsident Gerd Höhner. Er sieht ein strukturelles Problem dahinter.
Die Richtlinie, anhand derer die Kassenärztlichen Vereinigungen den Bedarf planen, stammt aus dem Jahr 1999. Schon damals habe es eine tatsächliche Unterversorgung gegeben. Allerdings sei in den entsprechenden Verhandlungen der damalige Ist-Zustand als Ausgangspunkt für den Bedarf festgelegt worden - aus politischen Gründen und im Interesse der Krankenkassen und Ärzte. „Die Anpassungen, die es seit dem gab, sind so gering, dass wir mit dem Defizit weiterleben“, so Gerd Höhner.
Das Ruhrgebiet hatte wegen seiner Sozialstruktur lange einen Sonderstatus in dieser Planung. Dortmund fällt heute noch mit vielen anderen Ruhrgebietsstädten in eine andere Kategorie als beispielsweise Münster oder Paderborn. Für Gerd Höhner ist klar: „Es gibt in Dortmund und im ganzen Ruhrgebiet zu wenige Psychotherapeuten. Wenn es eine erträgliche Wartezeit von zwei Monaten sein soll, dann bräuchte man etwa ein Viertel mehr.“
Hoher volkswirtschaftlicher Schaden
Reinhild Temming ist Psychotherapeutin in Dortmund, hat sich spezialisiert auf Kinder und Jugendliche. Laut der Psychotherapeutenkammer ein Fachgebiet, bei dem die Versorgung besonders problematisch ist. Auch für sie gibt es in Dortmund zu wenige Psychotherapeuten und - therapeutinnen - nicht etwa zu viele.

Reinhild Temming betreibt ihre Praxis für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie am Ostenhellweg. © Holger Jacoby
„Betroffene Eltern scheitern oft daran, einen Platz für eine Therapie zu finden, dann werden Kinder in Mitleidenschaft gezogen“, sagt sie. „Die Menschen verstehen die Wartezeit oft als eine Botschaft, dass sie nicht so wichtig sind.“
Eine nicht behandelte psychische Erkrankung erzeuge auch hohen volkswirtschaftlichen Schaden, „zum Beispiel wenn Jugendliche dadurch in ihrer frühen Karriere beeinträchtigt werden“. Die Kritik der Psychotherapeutenkammer am System der Bedarfsfeststellung äußert auch sie.
Sie selbst versuche, durch Gruppentherapien mehr Menschen zu versorgen. Auch inhaltlich sei das in vielen Fällen sinnvoll, zum Beispiel bei Kindern, die bestimmte soziale Kompetenzen im Zuge der Pandemie nicht erlernt haben.
Anlaufstellen in Dortmund
Als Marco auf seiner erfolglosen Suche nach eine Therapieplatz war, habe er sich an das Krisenzentrum in Dortmund-Hörde gewandt, erzählt er. Die Einrichtung soll in akuten Fälle eine Art psychologische erste Hilfe leisten. Es richtet sich an Menschen in Krisensituationen, die traumatische Erlebnisse hinter sich haben, einen Verlust durchmachen oder über Selbsttötung nachdenken. Eine langfristige Therapie kann und soll es nicht ersetzen, aber es ist ein Anfang. Auch eine Selbsthilfegruppe, das betont Marco, ersetzt keine langfristige Therapie. „Darauf achten wir in Vorgesprächen auch.“
Grundlegend reformieren kann die Bedarfsplanung nur der Gemeinsame Bundesausschuss. „Ich würde mir wünschen, dass die KVWL ihren Einfluss dort mehr nutzen würde“, sagt Reinhild Temming. Daran, dass eine solche Reform zu erwarten ist, gibt es allerdings Zweifel. Ein Faktor: Die laut der Kammer benötigten Psychotherapieplätze würden die ohnehin schon belasteten Krankenkassen viel Geld kosten.
Psychotherapeutische Erstberatung
Wer in Dortmund eine erste Sprechstunde bei einem Therapeuten wahrnehmen möchte, kann sich online oder unter der Telefonnummer 116 117 an die Terminservicestelle der KVWL wenden. Diese vermittelt oft innerhalb weniger Wochen einen einzelnen Termin um festzustellen, ob ein Therapiebedarf besteht. Ebenfalls auf der Seite der KVWL findet sich eine Funktion zur Suche nach Psychotherapeuten in Dortmund. Die Suche nach einem langfristigen Therapieplatz müssen Betroffene jedoch außer in bestimmten Akutfällen selbst leisten.Geboren in Dortmund. Als Journalist gearbeitet in Köln, Hamburg und Brüssel - und jetzt wieder in Dortmund. Immer mit dem Ziel, Zusammenhänge verständlich zu machen, aus der Überzeugung heraus, dass die Welt nicht einfacher wird, wenn man sie einfacher darstellt.
