Auch für Chefarzt und Psychiater Dr. Thomas Finkbeiner war das Nachempfinden einer Depression per Virtual-Reality-Brille eine neue Erfahrung,

Auch für Chefarzt und Psychiater Dr. Thomas Finkbeiner war das Nachempfinden einer Depression per Virtual-Reality-Brille eine neue und eindrucksvolle Erfahrung. © Schaper

Depression: „Man überlegt sich zweimal, ob man aus dem Bett aussteigt“

rnMit Virtual-Reality-Brille

Wie fühlt sich eine Depression an? Die Leere und die Last? Nichtbetroffene konnten jetzt im Knappschaftskrankenhaus Lütgendortmund in den dunklen Tunnel eintauchen – und waren beeindruckt.

Dortmund

, 21.06.2022, 11:55 Uhr / Lesedauer: 3 min

Es ist ein Blick durchs Schlüsselloch. Ein Blick in eine dunkle Gefühlswelt. Das Anfangsszenario ist ein virtuelles, unaufgeräumtes Zimmer mit gedämpftem Licht. Draußen regnet es. Dann kommt die Frauenstimme im Kopf mit düsteren Botschaften, ein negatives Wort reiht sich an das nächste: Ich müsste eigentlich aufstehen und zur Arbeit. Doch ich bin so müde. Alles ist hoffnungslos. Trostlos. Ausweglos.

Der Partner fordert aus dem Off, endlich aufzustehen, und macht Vorwürfe. Doch die innere Stimme redet unaufhörlich: Ich kann nicht. Alles ist sinnlos.

Dann wird das Zimmer dunkel. Die Wände schieben sich zusammen zu einem schwarzen Tunnel, und die Stimme im Kopf macht weiter: Ich bin so traurig, das ist unerträglich. Aus diesem schwarzen Loch komme ich nicht mehr heraus. Ich bin ein Versager. Ich halte das nicht mehr aus, diese Leere, diese erdrückende Last.

Schwere Bleiweste vermittelt erdrückende Last

Die zehn Kilogramm schwere Bleiweste, die die Besucher des Knappschaftskrankenhauses neben einer Virtual-Reality-Brille angelegt haben, lässt sie die Last körperlich spüren. Emotional belastend sind die gesprochenen negativen Gedanken aus dem schwarzen Tunnel. Sie dringen über Kopfhörer und das dunkle Bild aus der VR-Brille in den eigenen Kopf.

Menschen, die am Samstag (18.6.) am Krankenhaus Lütgendortmund das Angebot der Robert-Enke-Stiftung wahrgenommen haben, per virtueller Realität zu erfahren, wie sich typische Symptome einer depressiven Erkrankung anfühlen, waren beeindruckt.

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„Die Weste hat körperlich an einem gezerrt. Man überlegt sich zweimal, ob man aus dem Bett aussteigt“, berichtet eine Teilnehmerin bei der anschließenden Reflexion des Erlebten.

Für die Volkskrankheit sensibilisieren

Mit der besonderen Aktion wollte die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Knappschaftskrankenhaus Lütgendortmund gemeinsam mit der Robert-Enke-Stiftung das Verständnis für depressiv erkrankte Menschen wecken und Nichtbetroffene für die Erkrankung sensibilisieren. Der Nationaltorhüter Robert Enke hat sich 2009 das Leben genommen.

Die Erfahrung mit der VR-Brille ist eingebettet in eine Einführungsrunde mit Informationen über die Volkskrankheit Depression sowie die Stiftung und in eine Nachbetrachtung mit psychologischer Begleitung.

Die 10-minütige Virtual-Reality-Erfahrung nähert sich zwar nur einer Depression an und kann sie nicht kopieren, doch sie zeigt die Facetten der Gefühls- und Gedankenwelt depressiv erkrankter Menschen. „Sie orientiert sich an den Erfahrungsberichten von Erkrankten und an der Expertise von Psychiatern und Psychologen“, erläutert Gianluca Maione, Leiter des Projekts mit dem Namen „Impression Depression“.

Zwei Szenarien zur Auswahl

Dr. Thomas Finkbeiner, Chefarzt an der Klinik für Psychiatrie/Psychotherapie am Klinikum Westfalen in Lütgendortmund, hatte erstmals eine VR-Brille auf „und war beeindruckt, wie gut das gemacht ist. Man kann damit sehr eindrücklich erleben, wie es einem Menschen mit Depression geht, mit der Hoffnungs- und der Antriebslosigkeit.“

Die Teilnehmer konnten zwischen zwei Szenarien wählen: Depression im Leistungssport und einer Alltagssituation mit der Depression. Die weitaus meisten entschieden sich für Letzteres. Zudem konnten sie bei den beiden Szenarien auch zwischen männlich und weiblich wählen.

Er halte es für wichtig, so Dr. Finkbeiner, dass es in der Bevölkerung ein gewisses Allgemeinwissen über die Depression gibt, an der jährlich 4,5 bis 5,3 Millionen Menschen in Deutschland erkranken. 10.000 nehmen sich jährlich das Leben. „Das sind deutlich mehr als Verkehrstote“, sagt Finkbeiner.

Mehr Suizide als Verkehrstote

Um Verkehrstote zu verhindern, würden neben weiteren Maßnahmen ausgeklügelte Assistenzsysteme entwickelt, sagt der Chefarzt: „Und je mehr wir über Depressionen wissen, umso mehr werden die Suizidzahlen sinken.“

Bei Depression handele es sich um eine schwere Erkrankung, „die aber eine gute Prognose in der Behandlung hat“, betont der Psychiater. Doch unbehandelt könne sie chronisch werden und in einem Suizid enden.

Wissen als Vorbeugung gegen schwierigen Verlauf

Die Erfahrung mit der VR-Brille lohne sich, so Dr. Finkbeiner, für alle Menschen, die in der Psychiatrie tätig seien, und für Menschen, die mehr über die Erkrankung wissen wollten, etwa weil man Betroffene in der Familie, im Freundeskreis oder im Job habe. Die Symptome zu erkennen, sei eine Prophylaxe gegen schwierige Verläufe.

Das Erleben der depressiven Grundstimmung mit der VR-Brille dauert nur zehn Minuten, eine Depression dagegen 24 Stunden, sieben Tage in der Woche. Die Teilnehmer wurden am Ende mithilfe einer virtuellen Galerie und Bildern glücklicher Menschen aus dem dunklen Schlüsselloch geholt.

WHO-5-Screeningtest zum Wohlbefinden

  • Machen Sie einen Selbsttest.
  • Der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte Fünf-Fragen-Test ist ein Screeningtest zur Erfassung einer möglichen Depression unter https://robert-enke-stiftung.de/depression-hilfe/selbsttest.
  • Er ist schnell beantwortbar und kann den Verdacht auf das Vorliegen einer Depression erhärten. Er ersetzt allerdings keine umfassende fachärztliche Diagnostik