„Kinder werden nicht als Mörder oder Totschläger geboren“ Kriminologe zu Gewalt durch Minderjährige

„Kinder werden nicht als Mörder oder Totschläger geboren“
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Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel wurde zuerst am 7.4.2024 als Reaktion auf den Fall vom 4.4. veröffentlicht, in dem ein 13-Jähriger einen Obdachlosen getötet hat. Angesichts des aktuellen Falls eines anderen 13-Jährigen, der am 19.5. einen 15-Jährigen lebensgefährlich verletzte, haben wir ihn erneut veröffentlicht.

Ein 13-Jähriger hat am Donnerstagabend (4.4.) einen Obdachlosen am Dortmunder Hafen mit mehreren Messerstichen getötet. Vor der Tat soll es eine verbale Auseinandersetzung zwischen dem Jungen und dem Opfer gegeben haben. Der Fall wird weit über Dortmunds Stadtgrenzen hinaus emotional diskutiert. Wenn Kinder und Jugendliche töten, erschüttert das die Gesellschaft in der Regel in anderem Maße als bei erwachsenen Tätern.

Aber warum töten Kinder? Und wie sinnvoll ist es, dass dem 13-jährigen Täter aus Dortmund keine juristische Strafe droht? Über diese und andere Fragen haben wir mit dem Kriminologen Christian Pfeiffer gesprochen. Der ehemalige Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen forscht unter anderem zu Gewaltdelikten von Kindern und Jugendlichen.

„Eine Gruppendynamik ist mit Blick aus der Ferne auf die Informationslage bei dieser Tat wohl erst einmal auszuschließen“, sagt Pfeiffer: „Es sieht nicht so aus, als sei der 13-Jährige aus einer aggressiven Gruppe heraus aufgestachelt worden.“ Die Staatsanwaltschaft hatte am Freitag mitgeteilt, dass sie die Möglichkeit einer Anstiftung durch zwei strafmündige Jugendliche prüfe, aber aktuell keine Anhaltspunkte dafür sehe. Insgesamt waren der 13-Jährige, ein weiteres strafunmündiges Kind und ein 14- und 15-Jähriger vor Ort.

„Jemand, der so zusticht, ist völlig enthemmt“

Dass der 13-Jährige mehrmals zustach, ist für Pfeiffer ein Hinweis auf extreme Hass- und Wutgefühle, die auch Kinder in diesem Alter entwickeln können. „Jemand, der so zusticht, ist völlig enthemmt. Der ist von Emotionen gesteuert und hat die Kontrolle über sich verloren“, sagt der Kriminologe. „Es ist eine Tötungsabsicht und eine Empathielosigkeit gegenüber dem Opfer zu spüren.“

Die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass jemand, der ein Messer dabei habe, es in einer Auseinandersetzung auch einsetze, sagt Christian Pfeiffer. Wenige Tage vor der Tat hatte Polizeipräsident Gregor Lange bei der Vorstellung der Dortmunder Kriminalstatistik für das Jahr 2023 festgestellt: „Das Messer wird gerne mitgetragen von jungen Menschen.“ Gewalttaten durch Kinder und Jugendliche mit und ohne Messer haben in Dortmund im vergangenen Jahr zugenommen. An den rund 2.500 Tatverdächtigen bei Gewalttaten im Jahr 2023 haben Kinder und Jugendliche einen Anteil von 21,6 Prozent.

In ganz Deutschland sei ein Anstieg bei Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen, sagt Christian Pfeiffer. Faktoren seien dabei wohl auch Isolation und Frust während der Corona-Pandemie. Beim Fall aus Dortmund stelle sich dem Kriminologen die Frage, wie diese Aggressivität entstanden und wie die Grundverfassung eines 13-Jährigen sei, der so schnell in Hass und Wut gerate.

Eine wichtige Frage dabei sei, wie der Junge aufgewachsen ist, sagt Christian Pfeiffer. Die Forschung mache drei Hauptfaktoren für solche Tötungsdelikte durch Kinder und Jugendliche in Deutschland aus, deren Zahl insgesamt gering sei. „Nur wenige werden zum Glück vollendet, es dominieren klar die versuchten Tötungen“, betont der Kriminologe.

Zentral ist das Umfeld

„Zentral für solche Gewalttaten ist das familiäre Umfeld. Das ist bei Kindern der Faktor Nummer 1“, sagt Pfeiffer. „Welche Startvoraussetzungen hatte der Junge? Kinder werden nicht als Mörder oder Totschläger geboren, sondern dazu gemacht.“

In einem Haushalt, in dem Kinder vernachlässigt und unter Gewalt aufwachsen, werde oftmals auch Gewaltnachwuchs produziert. „Die Rahmenbedingungen sind entscheidend. Viele jugendliche Gewalttäter sind Opfer von ,viel Hiebe und wenig Liebe‘ der eigenen Eltern.“

Am Donnerstagabend (4.4.) versuchten Rettungskräfte am Hafen noch, den Obdachlosen zu reanimieren. Seine Verletzungen waren aber zu schwerwiegend. Die Feuerwehr durchsuchte das Hafenbecken nach der Tatwaffe.
Am Donnerstagabend (4.4.) versuchten Rettungskräfte am Hafen noch, den Obdachlosen zu reanimieren. Seine Verletzungen waren aber zu schwerwiegend. Die Feuerwehr durchsuchte das Hafenbecken nach der Tatwaffe. © Philipp Pohl

Ein zweiter Faktor, der eine solche Tat möglicherweise erklären kann, sei die Frage nach dem Milieu, in dem der Junge sozialisiert sei, sagt Pfeiffer. „Gibt es dort eine Bandenbildung?“ Diese Bezugspunkte zu Gleichaltrigen würden eine gewaltige Rolle spielen. „Wenn in diesem Kreis eine aggressiv aufgeladene Stimmung herrscht und Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele im Alltag gelebt wird, entsteht schrittweise eine wachsende Brutalisierung.“

Medienkonsum kann enthemmen

Als dritten Faktor nennt Christian Pfeiffer dann den Medienkonsum von Jugendlichen. „Je brutaler die konsumierten Medien sind, umso stärker enthemmt das. Ein Emphatieverlust gegenüber anderen kann die Folge sein.“ Der Kriminologe betont aber, dass diese Faktor hinzukäme, isoliert aber nicht ausreiche. Die Hauptfaktoren seien das familiäre und soziale Umfeld. „Niemand wird nur wegen eines brutalen Computerspiels zum Mörder.“

Aber was geschieht nun mit dem 13-Jährigen? Die Staatsanwaltschaft hat betont, dass die Verantwortung beim Dortmunder Jugendamt liegt, da die Tat aufgrund seiner Strafunmündigkeit keine juristischen Folgen haben kann.

Das müsse nun prüfen, welche Maßnahmen es anwende, sagt Christian Pfeiffer. Es werde sich ganz genau das familiäre Umfeld anschauen und dann entscheiden, ob man das Kind aus der Familie nehmen sollte. Wie das Jugendamt in diesem Fall verfahren wird, ist bislang noch nicht bekannt. Pfeiffer ist sich aber sicher: „Der Junge kriegt Konsequenzen zu spüren. Er wird damit leben müssen, dass ihm andere mit Angst und Misstrauen begegnen.“ Das beginne schon in der Schulklasse. „Wer möchte noch neben ihm sitzen oder zum Geburtstag einladen wollen?“, fragt Pfeiffer.

„Es gibt für das Jugendamt gute Gründe dafür, ihn aus dem sozialen Umfeld erst einmal herauszunehmen.“

Gefängnis als Multiplikator

So sei denkbar, dass der 13-Jährige in einer speziellen Einrichtung für Kinder und Jugendliche eingewiesen werde, die dort wegen ihrer schweren Gewalttaten leben. Für das Jugendamt gehe es um die zentrale Frage: „Wie verhindert man, dass der Junge noch einmal derart massiv ausrastet?“ Das sei schwierig, aber er habe in Niedersachsen selbst eine solche Einrichtung kennengelernt, „die es tatsächlich immer wieder schafft“, sagt Pfeiffer, der von 2000 bis 2003 niedersächsischer Justizminister für die SPD war.

„Die Chancen, solche Kinder und Jugendlichen wieder auf Kurs zu bringen, bestehen tatsächlich.“ Entscheidend dabei sei das Alter: „Je jünger, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit. Wenn sich Aggressivität und Brutalität verfestigt haben, ist es schwieriger, sie herauszubekommen.“

Auch wenn es dem Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen widersprechen mag, dass der 13-Jährige strafrechtlich nicht zu belangen ist, sagt der Kriminologe, dass sich für den Jungen dadurch Möglichkeiten bieten: „Seine Chancen wären in einer psychologischen Einrichtung besser, als wenn er die Tat als 14-Jähriger begangen hätte und dann ins Gefängnis gehen müsste. Dort ist es sehr viel schwieriger, aus der Aggressivität hinauszufinden.“

Zwar sei der Jugendstrafvollzug bemüht, 14- und 15-Jährige vor der Brutalität der Älteren zu schützen. Aber ihr Risiko Opfer sexueller und körperlicher Gewalt zu werden, sei relativ hoch, sagt Pfeiffer: „Wenn aber das geschieht, erhöht sich die Rückfallgefahr deutlich.“

Strafunmündigkeit

Pfeiffer sagt auch deshalb: „Zum Glück haben wir in Deutschland so eine vernünftige Regelung zur Strafmündigkeit. Länder wie die USA oder Großbritannien, in denen man schon als Kind ins Gefängnis kommen kann, haben für diese Altersgruppe viel höhere Raten schwerer Gewalt.“ In England, Wales und Nordirland sind Kinder schon ab zehn Jahren strafmündig, in manchen Bundesstaaten der USA sogar schon ab sechs Jahren.

In Deutschland gelten Kinder unter 14 Jahren pauschal als „schuldunfähig“. Das Gesetz geht erst ab diesem Alter davon aus, dass jemand die Fähigkeit haben kann „einzusehen, dass er ein Unrecht, eine strafbare Handlung begangen hat“, so die Bundeszentrale für politische Bildung (BPB). Strafrechtliche Konsequenzen drohen Kindern deshalb nicht.

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