Kontroverse zu „Systemsprengern“ in Dorsten „Drahtseilakt für Politik und Gemeinden“

Kontroverse zu „Systemsprengern“ in Dorsten: „Ein Drahtseilakt“
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Eine obdachlose Person in Dorsten sowie ein Mann auf der Hardt, der seit mehr als drei Jahren seine Ex-Nachbarn belästigt und bedroht, sorgten in den vergangenen Wochen für Diskussionen. Bürgermeister Tobias Stockhoff sprach das Thema „Systemsprenger“ im Rat an: „Menschen, die das soziale System der Bundesrepublik Deutschland an der einen oder anderen Stelle auch überfordern. Menschen, die sich erkennbar in Not befinden, aber sich nicht helfen lassen wollen.“

Die Erste Beigeordnete Nina Laubenthal erläuterte die Möglichkeiten, Menschen „gegen ihren Willen freiheitsentziehend unterzubringen und zu behandeln“: Die Einweisung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch liege in Zuständigkeit des rechtlichen Betreuers der betroffenen Personen. „Erforderlich ist dafür ein Gerichtsbeschluss.“ Eine solche Einweisung dürfe nur zum Wohl des Betroffenen erfolgen oder zur Abwehr einer Eigengefährdung. „Das scheidet also als Instrument zum Schutz der Bevölkerung aus.“

„Nur in Akut-Situationen“

Zudem gebe es die Einweisung nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz (PSychKG). Dafür seien das Ordnungsamt und der Sozialpsychiatrische Dienst des Kreises zuständig: „Auch hier ist der Beschluss eines Gerichts erforderlich.“ Die Einweisung dürfe zum Schutz vor Eigen- und Fremdgefährdung erfolgen, „aber nur und ausschließlich in Akut-Situationen“. Bei einer Dauergefahr wie bei den Vorfällen auf der Hardt „reicht das nicht aus“, so Laubenthal.

Die forensische Einweisung beziehungsweise der Maßregelvollzug liege in der Zuständigkeit der Strafverfolgung und der Gerichte und diene dem Schutz der Bevölkerung. „Das greift allerdings nur dann, wenn erhebliche Straftaten vorliegen in Verbindung mit einer Schuldunfähigkeit beziehungsweise psychischen Erkrankung.“

Therapieplätze fehlen

Laubenthal: „Um den dauerhaften Schutz der Bevölkerung sicherzustellen, bräuchten wir bei Menschen, die nicht in den Maßregelvollzug kommen, aber trotzdem Verhaltensauffälligkeiten haben, Behandlungsmöglichkeiten, die auf einen Erfolg abzielen und dafür fehlen uns im Moment einfach die Therapieplätze in Deutschland.“ Nicht nur in Dorsten, sondern insgesamt stelle man fest, dass die Patientenzahlen steigen, so Laubenthal.

Oft würden Menschen bei Einweisungen in Kliniken auf Medikamente eingestellt, bekämen Medikamente „auf Depot“, würden dann entlassen, weil sich aufgrund der Medikamente das Verhalten positiv ändere, so Laubenthal: „Und wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt, verfallen diese Personen wieder in alte Verhaltensmuster.“

Hilferuf an Laumann

Im Zusammenhang mit einem Mann, der als „Schreier“ in Dorsten bekannt wurde, habe die Stadt 2022 einen Brief, „einen Hilferuf“, an Minister Karl-Josef Laumann geschickt. Das Ministerium habe geantwortet, dass eine abteilungsübergreifende Arbeitsgruppe für den Umgang mit diesem Personenkreis eingerichtet wurde. Und dass lange Listen mit Hilfsangeboten existierten, die aber auf freiwilliger Mitwirkung basierten. „Und es gab letztendlich auch ein Eingeständnis, dass das Land auch keine Lösung weiß.“

Die Angebote würden an ihre Grenzen stoßen, so die Antwort des Ministeriums. „Betroffene sind in diesen Fällen schlichtweg nicht ausreichend durch unsere Hilfesysteme aufzufangen. Es ist mir bewusst, dass diese Nichtbehandlungsfälle neben ihren persönlichen Schicksalen einiges von ihrem Umfeld abverlangen. Das kontinuierliche Spannungsfeld zwischen Eigen- und Fremdgefährdung und dem Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen stellt einen Drahtseilakt für die Politik, aber auch die Gemeinden dar.“

Neues Schreiben

Anfang des Jahres habe sich die Stadt erneut aufgrund der bekannten Vorfälle an Laumann gewandt und nach Zwischenergebnissen aus der Arbeitsgruppe gefragt. Eine Antwort stehe noch aus, so Laubenthal. Die Stadt habe zudem Kontakt zum Leiter der LWL-Klinik in Herten aufgenommen - im Februar wolle man mit ihm über mögliche Behandlungsoptionen für „Systemsprenger“ sprechen.

Stockhoff betonte, dass Ordnungsamt und Sozialamt intensiv mit Amtsgericht, Polizei und Kreis Recklinghausen zusammenarbeiteten. Man versuche, den Rechtsrahmen auszuschöpfen. Mit manchen Menschen hätten die Mitarbeiter mehrfach wöchentlich zu tun. „Den Kolleginnen und Kollegen im Sozial- und Ordnungsamt sind diese Menschen nicht egal.“ Er danke ihnen für ihre Empathie.

„Ein dringendes Thema“

Friedhelm Fragemann (SPD) folgerte, dass der Gesetzgeber tätig werden müsste. Die Möglichkeiten des Zugriffs müssten verbessert werden. Wenn der Staat sich für hilflos erkläre, stärke dies die radikalen Kräfte. Der Ermessensspielraum sei aufgrund von Urteilen immer kleiner geworden, entgegnete Stockhoff, der aber die Politiker aller Parteien ermutigte, das Thema in Bund und Land anzusprechen. „Weil es ein dringendes Thema ist.“ Man brauche definitiv mehr Hilfsangebote

Stockhoff erinnerte wie auch Bernd Schwane (CDU) an die Zeit des Nationalsozialismus: Damals seien Menschen ohne Gerichtsverfahren einkassiert worden, so Schwane. „Dann waren die weg, manche auch für ewig.“ Grundrechte seien nur „sehr schwer auszuhebeln und das sollte auch so sein“, so Schwane.

Thorsten Huxel (Grüne): „Natürlich ist es richtig, dass man die Mehrheit schützen muss.“ Gleichzeitig rede man aber über Menschen, die als Störfaktor wahrgenommen werden und adäquate Hilfe erfahren müssten, was offenbar nicht richtig funktioniere.

Er sehe ein systemisches Problem bei der Behandlung der Betroffenen: „Die wären wahrscheinlich auch froh, wenn sie nicht schreiend oder mit der Axt durch Wohnviertel laufen ‚müssten‘.“

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