Dorstener fühlen sich an vielen Orten unsicher

„Angsträume“ in Dorsten

Öffentliche Orte, an denen sich Menschen unwohl fühlen: Die sogenannten Angsträume sind laut Landesregierung ein zunehmendes Problem. Die Unterführung am Dorstener Bahnhof zum Beispiel ist so ein Bereich, den viele Dorstener am liebsten meiden. Ein Kriminologe und ein Angstforscher relativieren das.

Dorsten

, 08.03.2018, 17:05 Uhr / Lesedauer: 3 min
Die Unterführung am Bahnhof ist für viele Dorstener ein sogenannter „Angstraum“.

Die Unterführung am Bahnhof ist für viele Dorstener ein sogenannter „Angstraum“. © Foto: Stefan Diebäcker

„Wirklich kritisch“ findet Anna Lensing den Tunnel am Dorstener Bahnhof. Deniz Anar bezeichnet ihn als „sehr gruselig“. Jenny Schneider geht dort abends „lieber andersrum, auch wenn das ein Umweg ist“. Melanie Wilbuer hält sich hingegen ungern am Handwerkshof in Wulfen-Barkenberg auf. „Vor allem abends fühle ich mich da alleine nicht wohl. Ich könnte da zur Sparkasse, halte aber lieber woanders.“

Facebook-Umfrage

Für NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) ist die Sache klar: „Angsträume in unseren Städten beeinträchtigen das Sicherheitsgefühl der Menschen besonders stark.“ In Dorsten scheint es laut einer Facebook-Umfrage unserer Redaktion viele Orte zu geben, an denen sich Menschen mindestens unwohl fühlen: der kleine Park und der Parkplatz im Lippetal zum Beispiel, die Reiherstraße in Richtung Geschwister-Scholl-Schule, auch der Kanalweg hinter den Mercaden.

Viele Angsträume betreten

Udo Diederich hat viele Angsträume betreten. Dienstlich. Diederich war 41 Jahre lang Polizist, erst bei der Landes-, später viele Jahre bei der Bundespolizei. Vor zwei Jahren, mittlerweile im Ruhestand, kam ihm die Idee, eine App zu entwickeln, mit denen Nutzer Angsträume melden können. Der Ex-Polizist möchte damit den öffentlichen Raum sicherer machen. Diederich sagt: „Jeder Mensch bemerkt doch die fehlende Präsenz von Polizeibeamten auf den Straßen.“Diederich und der NRW-Innenminister sind sich offenkundig einig. Es gibt aber auch Dorstener, die halten die Debatte in ihrer Heimatstadt für unsinnig: „Passieren kann doch überall etwas“, glaubt etwa Nadine Mattes.

Polizeigesetz kennt keine Angsträume

„Die Definition von Angstraum sollte – wenn man sie überhaupt braucht – auf der Kriminalstatistik beruhen und nicht auf subjektiven Gefühlen“, sagt der Angstforscher und Psychiater Borwin Bandelow. Ansonsten könnten diese Aussagen Nachteile für bestimmte Menschen bringen. Zum Beispiel für Händler, deren Straße kurzerhand zum Angstraum erklärt werde. Das Polizeigesetz kennt keine Angsträume, auch dort will man Stigmatisierung vermeiden.

Ein komplexes Thema

Die Behörden kennen aber sogenannte „kriminogene Orte“, man könnte auch vereinfacht „Brennpunkte“ sagen.ei der Sicherheitskonferenz von Recklinghausens Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen mit den Bürgermeistern von Dorsten, Bottrop, Gladbeck, Marl und Haltern ging es vor einem Monat nicht um Angsträume. „Das ist ein komplexes Thema, das subjektiv immer unterschiedlich wahrgenommen wird, von Männern anders als von Frauen, von jungen Leuten anders als von älteren“, sagt Polizeisprecher Andreas Wilming-Weber. „Das Empfinden der Bevölkerung ist für uns sehr wichtig, wir nehmen ihre Sorgen und Ängste sehr ernst. Die Bezirksbeamten vor Ort sind die ersten Ansprechpartner, um mit den Bürgern in Dialog zu treten.“

Ein schwieriges Unterfangen

Das Verzwickte: „Angsträume sind oft Orte, an denen nicht unbedingt viele Straftaten stattfinden“, sagt der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes. Umgekehrt gebe es auch Kriminalitätsschwerpunkte, die keine Angsträume sind. Deshalb ist es so schwierig, Angsträume zu bestimmen. Sie basieren auf subjektivem Empfinden. Angst löst binnen einer Millisekunde eine Kettenreaktion im menschlichen Körper aus: Blut wird in die Arme gepumpt, damit man besser kämpfen kann. Blut schießt in die Beine, damit man schneller flüchten kann. Jeder hat woanders Angst, mancher im Dunkeln, mancher fürchtet Jugendgruppen, wieder andere das einsame Abteil in der Bahn. Frauen haben andere Ängste als Männer.

„Etwas Irrationales“

Geht es nach Udo Diederich, sollen die Nutzer seiner App in solchen Momenten per Knopfdruck auf dem Smartphone einen Angstraum melden können. Standort-Daten, Uhrzeit, auf Wunsch später auch weitere Infos sollen so analysiert und den Kommunen zur Verfügung gestellt werden. Diederichs Idee: Melden viele Menschen dieselben Daten, müsse man sich den Ort anschauen, vielleicht auch zu einer bestimmten Uhrzeit. Daraus könnte man Landkarten der örtlichen Angsträume machen. „Angst vor Kriminalität ist etwas Irrationales“, sagt Thomas Feltes. „Menschen fühlen sich in ihrer eigenen Wohnung am sichersten, obwohl das der unsicherste Ort ist.“

Familiäre Gewalt

In den eigenen vier Wänden werde man viel häufiger Opfer als auf Straßen, Wegen und Plätzen. Drei von vier Körperverletzungen seien auf familiäre Gewalt zurückzuführen. Auch sexueller Missbrauch finde häufig innerhalb der Familie statt. Und rund 9000 Menschen sterben jedes Jahr bei Haushaltsunfällen – dreimal mehr als im Straßenverkehr. Udo Diederich will weiter für seine Angstraum-App kämpfen. Er hält sie keineswegs für populistisch, sondern für hilfreich. Derzeit befinde sie sich noch in der Testphase. Angstforscher Borwin Bandelow sagt: „Integration und eine Null-Toleranz-Politik zum Beispiel gegenüber Jugendbanden und Straftätern sind die besten Möglichkeiten, Angsträume zu beseitigen oder gar nicht erst entstehen zu lassen.“

Und Kriminologe Thomas Feltes meint, um Angsträume zu beseitigen, gebe es gute Erfahrungen mit der kommunalen Kriminalprävention. Dabei setzen sich beispielsweise Akteure der Stadt, Polizei und der Händlerschaft zusammen, lokalisieren Angsträume und vereinbaren Lösungen. „Oft sind es ganz banale Dinge, wie eine bessere Beleuchtung, die Angsträume beseitigen“, sagt Feltes.

SPD-Antrag zurückgestellt

So banal ist das manchmal aber nicht, wie die Diskussion kürzlich im Bauausschuss zeigte. Der SPD-Antrag, die Beleuchtung an der Lembecker Straße in Rhade zu verbessern, wurde zurückgestellt. Der Bereich zwischen Mühle und Stuvenberg wurde auch in unserer Facebook-Umfrage als Angstraum benannt. Was die CDU davon hält, machte ihr Sprecher Dr. Thomas Grund deutlich: „Als Hardter hätte ich auf der Fährstraße auch gerne eine solche Beleuchtung. Was hätte das also für Auswirkungen für vergleichbare Stellen im Stadtgebiet?“ Stadtbaurat Holger Lohse will sich nun um Fördermittel bemühen.