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Agathaschule schmiedete Bündnisse fürs Leben: 95-Jährige erzählt davon
Abriss der Agathaschule
Für Margarethe Feller ist Heiligabend ein besonderer Tag. Sie hat am 24. Dezember Geburtstag. Die 95-Jährige ist hellwach und plaudert über eine Schule, die ihren Lebensweg mitbestimmt hat.
Die Agathaschule in der Dorstener Altstadt ist ein geschichtsträchtiger Ort. Das Gebäude aus dem Jahr 1895 am Voßkamp wird in Kürze abgerissen. Es bleiben die Erinnerungen an eine Schule, die für Tausende Dorstener eine wesentliche Rolle in ihrem Leben gespielt hat. Margarethe Feller ist eine der Ehemaligen. Sie wird heute (24. Dezember) 95 Jahre alt.

Margarethe Feller wird an Heiligabend 95 Jahre alt. Die Dorstenerin erinnert sich gut und gerne an ihre Schulzeit an der Agathaschule. © privat
Trotz ihres fortgeschrittenen Alters sind die Erinnerungen an die Schulzeit in der Altstadt glasklar und stehen ihr noch lebhaft vor Augen: „Ich bin 1933 eingeschult worden. Rektor Maibaum begrüßte uns Kinder damals mit den Worten: „Ihr seid ein ganz besonderer Jahrgang, denn ihr seid im Jahr der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten eingeschult worden. Vergesst das nicht.“ Hat Margarethe Feller nicht.
Wenn sie sich an diesen Tag zurückerinnert, dann deshalb, weil sie darüber nachsinnt, was eine Sechsjährige wohl mit dem Begriff „Machtergreifung“ anfangen könne? „Natürlich nichts, das hat mir gar nichts gesagt“, erzählt sie heute. Und doch hat die Nazizeit ihre Schulzeit düster überschattet: „Eine Schulkameradin von mir war Jüdin. Eines Tages traf ich sie morgens nicht mehr auf dem Schulweg. Und am nächsten Tag auch nicht mehr. Ich habe dann in der Schule nachgefragt, aber keine Antwort erhalten“, sagt Margarethe Feller. Über das Schicksal von Erika Mandel weiß sie bis heute nichts. Ob sie ermordet worden ist, wie viele andere jüdische Kinder. Oder ob ihr mit ihrer Familie die Flucht gelang. „Das ist schon sehr traurig“, meint sie. „Ich habe den Verfolgungs- und Tötungswahn der Nationalsozialisten nie begriffen.“
Lehrerin hielt ihre schützende Hand über die Mädchen
Gleichzeitig erinnert sie sich aber auch, dass ihre Junglehrerin Fräulein Muhßhoff - „Sie hat großen Wert auf die Anrede Fräulein gelegt, weil Lehrerinnen damals nicht heiraten durften“ - stets ihre schützende Hand über die Kinder gehalten hat, um sie vor drakonischen Drills zu bewahren. Doch die von den Nazis hochgeschätzten Leibesertüchtigungen blieben den Kindern nicht erspart: „Wenn man danach schreiben oder rechnen musste, hatte man ganz zittrige Finger.“

Der Einschulungsjahrgang 1933 von Margarethe Feller 1990 bei einem Klassentreffen © privat
Ihre Schulzeit von 1933 bis 1937 hat die Dorstenerin aus sehr persönlichen Gründen in liebevoller Erinnerung: „Ich habe meine zwei besten Freundinnen, die mir lebenslang zur Seite standen, als Mitschülerinnen in der Agathaschule kennengelernt.“ Fast 90 Jahre ist das Trio zusammen durch Dick und Dünn gegangen, bis der Tod ihre Herzensfreundin Liesel Dittrich, geborene Hofstätter, mit über 90 Lebensjahren aus dem Leben riss. „Um sie weine ich heute noch“, so Margarethe Feller. Ein Trost ist ihr die Dritte im Bunde, Franzis Pliester, geborene Pohlmann. „Sie lebt noch.“
Die Agathaschule als Schmelztiegel für lebenslange Freundschaften unter Dorstenern dürfte auch jüngeren Jahrgängen durchaus geläufig sein. In Dorsten kennt man sich und lässt sich auch in späteren Lebensjahren nicht aus den Augen. Das kann der jetzigen Rektor Herbert Rentmeister nur bestätigen, der kürzlich mit zwei weiteren ehemaligen Lehrerinnen auf Anfrage der Dorstener Zeitung aus der Geschichte der Schule plauderte.
Ursula Perlstein war eine Mitschülerin
Eine weitere Dorstenerin, Josefine Meyer, pflegt ebenfalls unvergessliche Erinnerungen an ihre Schulzeit, die leider auch von der Nazizeit dunkel überschattet war. 1936 wurde Josefine Meyer (geb. Krebs), geboren im Jahr 1930, in der Agatha-Schule eingeschult. „Ein Ereignis hat mich über Jahre beschäftigt: Es war 1938, ich gehörte der 3. Klasse an, die in einer Baracke untergebracht war.“ Von ihnen hat auch Margarethe Feller erzählt, denn die Agathaschule brauchte wegen der Schülerzahlen mehr Raum und die Kinder wurden in zwei Holzbaracken auf dem Schulhof untergebracht: „Sie rochen fürchterlich“, so Feller.

Drei eingeschworene Freundinnen fürs Leben: die ehemaligen Agatha-Schülerinnen Margarethe Feller, Liesel Dittrich und Franzis Pliester (v.l.) © privat
In eben diesen Holzbaracken hat Josefine Meyer erlebt, wie ihre Lehrerin, Fräulein Ostermann, eines Morgens nach einem Klopfen an die Tür und nachdem sie vor die Tür getreten war, um mit den Besuchern zu reden, eine Klassenkameradin bei ihrer Rückkehr dazu aufforderte, „den Tornister zu packen und mit ihr den Klassenraum zu verlassen“: „Die Schülerin hieß Ursula Perlstein“, sagt Josefine Meyer. Die Lehrerin sei dann nach geraumer Zeit weinend zurückgekehrt, sagte aber nicht, warum sie weinte. „Wir haben auch nicht gefragt.“
Ursula Perlstein, Jahrgang 1930 wie Josefine Meyer, wurde mit ihren Eltern und ihrer drei Jahre jüngeren Schwester Ingeborg nach Auschwitz gebracht und dort ermordet: „Sie ist mir in Erinnerungen geblieben, auch wegen der Stolpersteine vor ihrem ehemaligen Familienwohnsitz in der Essener Straße“, sagt Josefine Meyer.
Es gibt auch sehr fröhliche Erinnerungen
Eine fröhliche Erinnerung an die Agatha-Schule verbindet die ehemalige Lehrerin Gaby Poll mit einer Anekdote aus der Schulzeit 1975/76: Eine Lehrerkollegin, die mit ihren Kindern gerne Theater gespielt hat, lud nach der großen Pause alle Klassen dazu ein, „nach oben in die Aula zu kommen“. Sie habe etwas mit den Kindern vorbereitet. Klassenweise, so Gaby Poll, seien 300 Kinder übers Treppenhaus in die Aula unterm Dach geführt worden. Dann hätten die kleinen Schauspieler die Bühne betreten, sich aufgestellt und auf ein Zeichen ihrer Klassenlehrerin „April, April!“ gerufen. „Verbeugung, Abgang - bei einigen Zuschauern fiel der Groschen schnell, bei anderen später. Am Ende gab es großen Applaus und kräftiges Lachen.“
Seit 20 Jahren als Lokalredakteurin in Dorsten tätig. Immer ein offenes Ohr für die Menschen in dieser Stadt, die nicht meine Geburtsstadt ist. Das ist Essen. Ehefrau, dreifache Mutter, zweifache Oma. Konfliktfähig und meinungsfreudig. Wichtige Kriterien für meine Arbeit als Lokalreporterin. Das kommt nicht immer gut an. Muss es auch nicht. Die Leser und ihre Anliegen sind mir wichtig.
