Wie Flüchtling Saraj Qulizada zu einem Vorbild für Integration wurde

Wie Flüchtling Saraj Qulizada zu einem Vorbild für Integration wurde

rnAfghane (19) arbeitet an Zukunft in Castrop-Rauxel

Seine Reise in ein neues Leben begann mit einem Marsch: Im Jahr 2015 verließ Saraj Qulizada im Alter von 16 Jahren den Iran. Heute, in Castrop-Rauxel, ist er noch nicht am Ziel. Aber er ist einer der am besten integrierten Flüchtlinge der Stadt. Wie er dazu wurde, was ihn auszeichnet - und was andere junge Menschen von ihm lernen können.

Castrop-Rauxel

, 13.03.2018, 06:55 Uhr / Lesedauer: 5 min

Wir treffen Saraj Qulizada, den heute 19-jährigen Afghanen, im Berufskolleg. Dort, wo für ihn das Zentrum der Integration in die für ihn neue deutsche Gesellschaft liegt. Zwei Jahre ging er dort zur Schule, lernte Deutsch, Lesen und Schreiben. Inzwischen geht er zur Berufsschule in Gelsenkirchen, während er seit einem halben Jahr eine Bodenleger-Lehre bei einem Raumausstatter in Lünen-Brambauer absolviert und in seiner Freizeit ehrenamtlich fürs THW in Castrop-Rauxel arbeitet.

Saraj Qulizada ist offen, freundlich im Gespräch, versteht Deutsch und beherrscht die Sprache mündlich gut. "Er kann schon viel und lernt schnell dazu", sagt eine seiner stärksten Förderinnen, Lehrerin Nathalie Franitza-Linek. "Er ist sehr bemüht, motiviert, zuvorkommend. Er ist höflich, engagiert. Wir sind total von ihm begeistert", sagt sein Chef, Handwerksmeister Thomas Bremer. "Saraj ist ein unheimlich höflicher Mensch", sagt Anne Steinbock vom THW. "Er ist sehr aufmerksam, wissbegierig, sehr ordentlich." Ein junger Mann wie ein Muster.

Geboren in Kunduz - aber schon als Kind musste er flüchten

In Kunduz wurde Saraj Qulizada zuerst groß - ein Ort, den man in Deutschland nur kennt, weil die Bundeswehr dort 2003 das Feldlager Kundus aufbaute und dort stationiert war, als etwa eine Viertelmilliarde Euro in die (vermeintliche) Sicherheit im Norden Afghanistans investiert wurde. Er wuchs auf im Iran. Die Familie flüchtete nach Kerman, einer Stadt im Süden des Landes, etwa so groß wie Dortmund, etwa 400 Kilometer von der afghanischen Westgrenze entfernt. Neues Land, neues Leben in Frieden und Glück? Weit gefehlt.

Als Afghane, erzählt Saraj Qulizada, war man in der Provinz Kerman nicht allzu gern gesehen. Er lernte dort als Kind zwar Persisch, also das im Iran gesprochene Farsi, auch Schreiben und Lesen, und die Sprache Dari, ebenfalls eine Unterart des Persischen, kannte Saraj aus der Heimat. Aber Schüler durfte er nur in den Grundjahren sein. Die Schulen sind vor allem den iranischen Persern vorbehalten.

"Wir haben dort keine Rechte. Radfahren zum Beispiel ist verboten, eine richtige Wohnung zu haben ist auch nicht erlaubt. Man lebt dort schwarz und die Polizei holt sich die Leute, erpresst junge Männer aus dem Ausland. Zum Teil will man sie in den Kampf nach Syrien schicken. Sie sagen: Ihr dürft nur im Iran bleiben und bekommt eine Aufenthaltsgenehmigung für euch und eure Familien, wenn ihr nach Syrien geht."

Im Fernsehen soll Werbung laufen für den Krieg in Syrien

Die Lehrer am Berufskolleg, die die Internationalen Klassen betreuen, hören das öfter von Schülern aus der Region, sagt Nathalie Franitza-Linek. Saraj ist einer ihrer Schützlinge, die sie seit einigen Jahren begleitet. "Ich hab das dann mal selbst recherchiert, nachgelesen, auch mit Rechtsanwälten darüber gesprochen", erzählt sie - "es scheint wohl zu stimmen". Im Fernsehen liefen nach Erzählungen eines anderen Schülers aus dem Iran Werbespots, in denen vermittelt werde, dass eine Unterstützung der syrischen Armee gut für das eigene Land sei. 

Saraj arbeitete schon als Kind, damit die Familie genug zum Leben hatte in diesem Land, für ihn eine der Drangsalierungen: Er wollte immer Schreiner werden; seit er neun Jahre alt war, arbeitete er als Möbelbauer und auf einem Bauernhof, zeitweise in zwei Jobs. "Es gab Tage, an denen ich 20 Stunden arbeitete", erzählte Saraj mal seiner Lehrerin. Als Kind. "Ich war so müde..."

Er hielt dieses Leben aus. Ein Leben, das ihn stählte, das ihn vieles lehrte, als er als Tischler, Möbelbauer, Fliesenleger arbeitete - aber das ihn auch fertig machte. Bis er sich 2015 entschied, abzuhauen. Im Alter von 16 Jahren. Er wollte nach Europa, nach Schweden.

Zu Fuß, per Boot über die Balkanroute - zu einem bayrischen Grenzpolizisten

Saraj Qulizada verließ die ungeliebte zweite Heimat Iran. Erst sehr viel zu Fuß in Richtung Türkei, dann von der Türkei mit einem Boot nach Griechenland. Bahn. Bus. Fußmarsch. Saraj nahm die Balkanroute, und als er im Sommer 2015 an die deutsche Grenze kam und sagte, er wolle nach Schweden, da sagte ihm die bayerische Polizei: "Das geht nicht. Du musst hier bleiben." Mit dem Zug ging es noch am selben Tag von München aus zum Flughafen Düsseldorf.

Geld hatte er da keines mehr. Die Polizei schickte ihn in ein Flüchtlingscamp, dann in eine Jugend-Wohngruppe des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe an der Lunastraße in Castrop-Rauxel. Ende 2016 zog er in eine Trainings-WG des LWL zur Verselbstständigung um. Heute wohnt er in Obercastrop mit nur noch einem Mitbewohner in einer kleinen WG, einem anderen Afghanen in einem Haus mit zwei Flüchtlings-WGs. 

Ab November 2015 besuchte er das Berufskolleg. "Er war einer der ersten Flüchtlings-Schüler bei uns", sagt Nathalie Franitza-Linek. Im Mai 2017 schaffte Saraj den Hauptschulabschluss nach Klasse 9. "Schriftlich", sagt seine Lehrerin Franitza-Linek, "zeigt er noch große Schwierigkeiten, im Unterricht selbst kommt er aber gut mit." So konnte Saraj Qulizada im August seine Ausbildung zum Bodenleger bei Bremer in Brambauer aufnehmen. Er wollte lieber Schreiner werden, doch als solcher fand er keine Lehrstelle.

Thomas Bremer, Betriebsleiter bei der Bremer GmbH und Chef von Saraj Qulizada, ist kaum zu halten vor Begeisterung, wenn er über seinen Schützling spricht. "Saraj arbeitet viel mit den Augen, das heißt, er erarbeitet sich Dinge, indem er sich etwas von unseren Gesellen abschaut", erzählt er. Und, und das zeichnet den jungen Mann wohl besonders aus: "Wenn ein Besen in der Ecke steht, dann lässt er ihn nicht stehen, sondern nimmt ihn in die Hand."

Da unterscheide er sich von anderen jungen Männern in seinem Alter. Man könne nicht alle über einen Kamm scheren, sagt er. Aber: "Ich weiß nicht, wie viele Jahre es her ist, dass ich so einen Auszubildenden wie Saraj erlebt habe."

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Saraj Qulizada ist Afghane. Und junge Afghanen wurden im Laufe des Jahres 2017 in größerem Maße in ihre Herkunftsländer zurückgebracht. Abgeschoben. "Stichwort sichere Herkunftsländer", sagt Lehrerin Franitza-Linek. Sie zählt auf: "Afghanen, Gunieer, Tadschiken... Die meisten Schüler aus diesen Ländern sollen abgeschoben werden. Ihre Klagen laufen. Im vergangenen Jahr hat uns in den Klassen an unserer Schule regelrecht eine Abschiebewelle überrollt bei Schülern aus diesen Herkunftsländern."

So lange er Erfolg hat, kann er die Lehre weiter machen

Saraj droht das aktuell nicht: Er hat eine Ausbildungsstelle. So lange er dort Erfolg hat, kann er die Lehre abschließen. So lange wird er geduldet. Und danach vielleicht sogar länger bleiben. Erst wenn man sechs Jahre hier sei, könne man die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, sagt Lehrerin Nathalie Franitza-Linek. Wenn der Weg geradeaus geht. Saraj Qulizadas Chef Thomas Bremer kennt das: Ein Ghanaer, der ebenfalls in seinem Unternehmen eine Ausbildung macht, habe gerade große Probleme, die (schulische) Leistung zu bringen, die gefordert ist.

PVC, Teppich, Estrich: Fachbegriffe für Bodenleger, mit denen Ausländer große Probleme haben. Der Lehrlingskollege aus Ghana hat vier Kinder und seine Frau hier - schafft er es nicht, droht die Abschiebung. Und Saraj? Bremer sieht noch andere Gefahren: "Er ist zwar super betreut, aber man muss aufpassen, dass nicht andere aus seiner Altersgruppe so auf ihn zugreifen, dass er abgleitet", sagt er. "Die jungen Leute haben wenig Geld - da ist die Versuchung, sich zum Beispiel mit Drogenverkauf oder ähnlichem einen schnellen Euro dazuzuverdienen, groß. Deswegen schaffen es nicht alle jungen Flüchtlinge."

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Für Saraj Qulizada spricht sein weiteres Engagement: Als seine Lehrerin ihn mit einigen anderen ihrer Schüler mitnahm zu einem der Internationalen Kochabende von Ruziye Malkus, der großen türkischstämmigen Integrations-Vorkämpferin von Schwerin, die in der Lehrküche des Berufskollegs stattfinden, da kam man ins Gespräch.

Anne Steinbock vom THW war damals auch dabei und schnappte im Gespräch mit Sarajs Lehrerin auf, dass er zur Feuerwehr wolle. Sie lud ihn zum Technischen Hilfswerk ein. Er kam mit seiner Lehrerin, man besprach sich - und schon war er dabei. Er durchlief die Grundausbildung, half ganz intensiv beim Umzug des THW mit. Alle 14 Tage kommt er zum Dienst. 

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Anne Steinbock, die beim THW im Vorstand mitarbeitet und als "Mutter der Kompanie" gilt, singt ein Loblieb auf den jungen Mann, den ersten Flüchtling in den Reihen der Hilfsorganisation in Castrop-Rauxel: "Saraj ist ein unheimlich höflicher Mensch. Er ist sehr aufmerksam, wissbegierig, sehr ordentlich in der Unterhaltung seiner Kleidung im Spind. Er passt sich beim Essen unheimlich an; wenn es Schweinefleisch gibt, dann sagt er: Dann esse ich eben Nudeln und Kartoffeln. Trage ich eine schwere Kiste und er sieht das, kommt Saraj und sagt: 'Darf ich helfen?' Er sieht Arbeit und ist unheimlich gut in eigener körperlicher Arbeit. Da hilft ihm seine Erfahrung aus der Heimat, wo er schon als Kind Küchen gebaut hat."

"Er zeigt, wie der Weg eines Geflüchteten in Deutschland weiter gehen kann", sagt Lehrerin Nathalie Franitza-Linek. Wenn sie sich mühen; wenn sie nicht auf die schiefe Bahn geraten; wenn sie aufmerksam sind und Glück haben, auf die richtigen Leute zu treffen. Es gibt viele Menschen, die helfen wollen und können. Wie Anne Steinbock, wie Thomas Bremer, wie Nathalie Franitza-Linek, die als Lehrerin ihren Beruf inzwischen viel weiter fasst und oft keine regulären Arbeitszeiten kennt. Sie sind Sarajs großes Glück. Geschafft hat selbst er es aber noch nicht. Aber ein Vorbild - das ist er heute schon.

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