Vitali (51) und Igor (39) lebten in Charkiw. Kurz vor Kriegsbeginn flogen sie in den Urlaub nach Ägypten. Nun sind sie in Waltrop am Stadtrand von Castrop-Rauxel untergekommen und zeigen die Verwüstung ihrer Heimat. © Tobias Weckenbrock

Ukraine-Krise

Igor und Vitali im Ruhrgebiet gestrandet: Ukrainer suchen verzweifelt nach Ausweg

Jetzt sitzen sie in der Frühlingssonne von Ickern-End, statt daheim im teils ausgebombten Charkiw. Für Igor und Vitali ging kein Flug zurück, nicht in die Ukraine, nicht nach Russland. Und jetzt?

Ickern-End

, 09.03.2022 / Lesedauer: 5 min

Vermutlich trügen sie nun eine Kalashnikov und würden gegen russische Invasoren kämpfen. Oder sie könnten sich um ihre Familien kümmern, vor allem um ihre Eltern, die Hilfe brauchen. Doch sie und zwei Frauen, die sie im Urlaub auf der Suche nach einem Ausweg kennenlernten, sind in Ickern-End, untergekommen bei Petra Susteck und Sabine Brunsched.

Sie wohnen direkt auf der Stadtgrenze zwischen Waltrop und Castrop-Rauxel und öffneten ihr Herz und die Türe zu ihrer Doppelhaushälfte im Grünen.

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Igor (39) spricht gut Englisch. Er arbeitete in einem Büro-Hochhaus in der nordost-ukrainischen Großstadt Charkiw. Jetzt öffnet er die Foto-App auf seinem Smartphone und zeigt das verwüstete Gebäude: die Fensterscheiben gesplittert. Opfer des russischen Angriffs, der sich in Charkiw so zerstörerisch auswirkt wie fast nirgendwo sonst. Niemand arbeitet dort mehr im „Palast der Arbeit“, wie das Hochhaus-Ensemble genannt werde. Oder worden sei.

Vitali (51) war mit ihm im Ägypten-Urlaub, als der Krieg ausbrach. Von dort konnten die beiden plötzlich nicht zurück in die Heimat Ukraine oder das so nahe Russland. 50 Kilometer von der Grenze lebten sie entfernt. Doch nun trennen sie Welten davon. Russische Freunde und Verwandte, die dort jeder habe, erzählt Igor und tauscht sich mit Vitali aus, sei der Kopf gewaschen worden, seit acht Jahren schon.

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Igor sitzt auf der Lounge-Garnitur in der Gartenlaube am Rapensweg, Vitali sitzt neben ihm. Sie sind bereit, mit uns zu sprechen. Aber sie sind psychisch angeschlagen, haben feuchte Augen, als sie erzählen, wie die Propaganda wirkt – sind mehr fassungslos als wütend: „Wir haben in Ägypten, als der Krieg losbrach, das russische Fernsehen im Hotelzimmer angeschaltet. Eine Viertelstunde“, sagt Igor, „das reicht schon, dann fangen Sie an, das, was da läuft, zu glauben.“

Infiltriert von der russischen Propaganda

Ihre Nachbarn, Brüder, Schwestern jenseits der Grenze, sie stünden unter diesem medialen Eindruck seit acht Jahren. Seit die Maidan-Bewegung 2014 die Ukraine verändert hat. Die Menschen gingen damals in Kiew auf die Straße, sie wollten sich zur EU hin und von der einstigen Sowjetunion weg für die demokratische, die freiheitliche Grundordnung entscheiden, nachdem die damalige Regierung sich überraschend gegen ein Assoziierungsabkommen entschieden hatte.

Die Proteste eskalierten, es gab Gewalt, doch daraus hervor ging ein Freiheitsstreben. Weg vom Osten, hin zum Westen. Bei vielen, nicht bei allen Ukrainern. Russland änderte seine Haltung zu Ukraine. Und Teile der Bevölkerung der südöstlichen Ukraine entwickelten sich zu den heutigen Separatisten von Luhansk und Donezk, die für die Annäherung an Russland und gegen die eigene Bevölkerung kämpften.

Acht Jahre Staatspropaganda, die ihre Freunde nun glauben lasse, die Ukrainer hätten ihren „Palast der Arbeit“ und die vielen Wohnhäuser, die zerbombt sind, selbst zerstört, um eigene Opfer-Kriegs-Propaganda zu betreiben. „Die Russen sagen, die russische Armee wolle das ukrainische Volk von diesem Terror befreien“, erzählt Igor. „Sie glauben das wirklich?“, fragen wir. Ja, sagt Igor.

Er selbst hat seine Freundin daheim in Charkiw, seine Eltern. Und Vitali seinen Sohn Wladislaw (18), ein Student, und seine Ehefrau. Sie schicken ihnen Bilder und Videos aus der Heimat, sie telefonieren miteinander. Wladislaw und seine Frau, sagt Vitali, wohnen im 7. Stock eines Hochhauses. Drei ältere Menschen wohnen da oben auch, Menschen, die nicht rauskommen, weil sie alt sind und krank. Sie brauchen Hilfe.

Ein Dutzend Apotheken in einer Millionen-Stadt

Sie bekommen Hilfe. So gut es geht zumindest, sagt Igor. „Es sind noch 10 oder 12 Apotheken geöffnet.“ In einer Stadt mit 1,4 Millionen Einwohnern. „Alle Geschäfte haben geschlossen. Wenn du raus gehst, nur ein paar Hundert Meter, musst du aufpassen, dass du am Leben bleibst.“ Die Stadt wird seit nun fast zwei Wochen angegriffen, aus der Luft mit Raketen und Hubschraubern und Bombern, und dazu wohl auch von Bodentruppen eingekesselt. Die Versorgung der Menschen, die in Charkiw leben, sei gefährdet: „Menschen in unserer Stadt haben nicht mehr viel zu essen“, erzählt Igor.

Im "Palast der Arbeit", so der ukrainische Name für diesen Bürokomplex, arbeitete Igor (39) in Charkiw. Dann reiste er nach Ägypten, dann kam der Krieg und die Zerstörung: So sieht das Gebäude heute aus. © Tobias Weckenbrock

Besonders nachts flögen russische Bomber über der Stadt. Er zeigt Bilder der Zerstörung, vom zentralen Platz in Charkiw, der von Schutt übersät ist. Er zeigt ein Video aus dem Hochhaus, in dem seine Leute wohnen: Bei Nacht aufgenommen, zeige es die Leuchtfeuer aus Detonationen am Horizont, sagt Igor.

„Wir hätten uns diesen gewalttätigen Einmarsch unseres Brudervolkes nie vorstellen können“Igor (39) aus Charkiw

„Wir hätten uns diesen gewalttätigen Einmarsch unseres Brudervolkes nie vorstellen können“, sagt Igor aus Charkiw, der Stadt, die sich anders als Donezk und Luhansk seit 2014 der Separatisten erwehren konnte. Am Morgen nach der Anreise, als sie in Ägypten im Hotelzimmer aufwachten, habe Vitali ihm die „shocking news“ von der Invasion der Russen erzählt. „Unfassbar für uns“, sagt Igor.

Seit die Flughäfen zerstört und die Flüge gestrichen sind, können sie nicht zurück. In Ägypten hieß es nach zehn Tagen, sie müssten gehen. Aber wohin? Gemeinsam mit Personal des Reiseveranstalters vor Ort suchten sie Düsseldorf aus. Petra Susteck, vernetzt über Facebook und WhatsApp mit Menschen, die helfen wollen, holte sie dort am Dienstag ab. Sie und ihre Frau hatten da wieder Platz im Obergeschoss ihres Hauses, weil eine Frau und ihr Sohn wieder weg sind. „Die Frau war total traumatisiert“, sagt Petra Susteck. „Sie hat die ganze Nacht nur geweint. Wir konnten nicht sprechen, weil wir uns nicht verstanden. Sie ist zu einem Mann aus Waltrop zurück, ein Ukrainer“, erklärt sie.

Gemeldet als Einwohner von Waltrop

Petra Susteck ging am Mittwoch mit Igor, Vitali und zwei ukrainischen Frauen ins Waltroper Rathaus, um sie dort anzumelden. Das sei schnell gegangen und unkompliziert gewesen. Sie unterschrieb, dass sie als Vermieterin die vier bis zu elf Monate bei sich wohnen lasse. Ohne Mietzahlung, versteht sich. Dann waren sie einkaufen. Mittwochmittag kochten die beiden Ukrainerinnen für die neue Wohngemeinschaft. Ein Zimmer im Dachgeschoss mussten sie noch entrümpeln.

Wie lange sie bleiben? Keiner weiß es. Igor und Vitali sagen, sie müssten nachdenken. Ein paar Tage bräuchten sie sicherlich, um zu überlegen, wie es weiter gehen kann. Mit einer der vielen Hilfsgüter-Fahrten zurück in die Heimat? Dann müssten wohl sie kämpfen, in einer der „local territory forces“ vielleicht.

„Die nehmen jeden“, sagt Igor (39). Aber sie wären vielleicht auch wieder bei ihren Familien. Im Kriegsgebiet allerdings. Oder organisieren sie, dass ihre Familien raus können, wie laut UN-Angaben schon rund 2 Millionen andere Ukrainer? Nur wie rauskommen? Und was wird dann aus ihren Eltern?

Ihren Glauben an die Ukraine haben sie nicht verloren. Präsident Wolodymyr Selenskyj sei ein Held, sagt Igor. „Er wird siegen.“ Wann? Wie? Wer weiß das schon. Eines weiß er genau, und sagt es in Richtung Petra Susteck: „Ich bin unglaublich dankbar.“

Unser Reporter zwischen Hilfe und Verzweiflung: Jetzt auf rn.de/castrop

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