Wie das Schulden-Desaster in Castrop-Rauxel entstand 100 Jahre Stadt-Finanzen im Schnelldurchlauf

100 Jahre Stadt-Finanzen: Wann und warum das Schulden-Desaster entstand
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Der Goldesel hat noch nie etwas Derartiges ausgeschieden. Der Pleitegeier ist allgegenwärtig. Stefan Brenk, Bereichsleiter der Kämmerei im Rathaus von Castrop-Rauxels, müsste eigentlich frustriert sein angesichts des Mangels, den er mit seinem Team verwaltet. Er wirkt aber nicht so. Er nimmt es hin, wie es ist. Seit mindestens 40 Jahren ist Castrop-Rauxel verschuldet. Überschuldet sogar. Selbst eine Tilgung aller bereits angehäuften Kredite im Rahmen einer Altschulden-Lösung wäre nur ein Eimer Wasser auf ein brennendes Rathaus. Doch woher kommt dieses bilanzielle Überschuldungsproblem? Wie alt ist es schon? Wir haben uns ganz tief ins Archiv begeben und Haushaltspläne aus 100 Jahren Stadtgeschichte angesehen.

Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Hier ein Exemplar von 1926.
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Hier ein Exemplar von 1926. © Tobias Weckenbrock
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Hier ein maschinengeschriebenes Exemplar von 1926, in dem nachträglich Korrekturvermerke gemacht wurden.
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Hier ein maschinengeschriebenes Exemplar von 1926, in dem nachträglich Korrekturvermerke gemacht wurden. © Tobias Weckenbrock

1926: Alles im grünen Bereich

1926: Das Jahr, in dem die Stadt Castrop-Rauxel gegründet wurde. Die Ortsteile der Stadt Castrop und das Amt Rauxel wurden erweitert um Bladenhorst, Pöppinghausen, Dingen, Deininghausen und Ickern. Die Stadt Castrop-Rauxel im Landkreis Dortmund hatte 53.399 Einwohner. Das sind 20.000 weniger als heute, was auch mit der Eingemeindung von Henrichenburg im Jahr 1975 zusammenhing. Aber wir waren ja beim Thema Finanzen. 1926 war in der Hinsicht laut Haushaltsplanung alles im grünen Bereich: 4,7 Millionen Reichsmark (RM) auf der Einnahmeseite, 4,7 Millionen auf der Ausgabeseite. Dinge wie eine Krüppelfürsorge und Lungenkrankenfürsorge standen noch als Posten im Etat.

Eine Reichsmark, um das ins Verhältnis zu 100 Jahre später zu setzen, hatte kurz nach den Jahren der Hyperinflation 1922 und 1923 einen Kaufkraft-Wert von heute etwa 5 Euro.

1934: 3,4 Millionen Miese

Nur acht Jahre später, eine andere Zeit, die Machtergreifung der Nationalsozialisten lag gerade ein paar Monate zurück. Bei 6,3 Millionen Reichsmark auf der Einnahmeseite lagen die Ausgaben bei 9,7 Millionen. Was bei einem Minus von 3,4 Millionen RM heute wirkt wie ein Klacks, war damals eine massive Verschuldung bei einer Etat-Unterdeckung von mehr als 50 Prozent. Hätten wir das heute, sprächen wir bei 253 Millionen Euro Einnahmen von 130 Millionen Euro Unterdeckung. So schlecht es heute strukturell um den Haushalt auch steht: Da liegen wir mit rund 50 Millionen Euro Minus weit darunter. Und die RM war bis Kriegsende 1945 relativ stabil im Wert: 1 RM entsprachen damals etwa der Kaufkraft von heute 5 Euro.

Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Hier ist das Deckblatt der Haushaltssatzung von 1934 zu sehen, ein Jahr nach der Machtergreifung der NSDAP. Die Ausgaben liegen deutlich über den Einnahmen.
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Hier ist das Deckblatt der Haushaltssatzung von 1934 zu sehen, ein Jahr nach der Machtergreifung der NSDAP. Die Ausgaben liegen deutlich über den Einnahmen. © Tobias Weckenbrock

1942: Wieder ausgeglichen

Waren also die NSDAP-regierten Jahre auch fiskalisch eine Katastrophe? Das kann man so nicht sagen. Der Haushalt 1942 schloss mit 10,3 Millionen Reichsmark auf der Einnahme- und der Ausgabeseite ab. Die Gewerbesteuer wurde mit dem kommunalen Hebesatz von 240 berechnet (heute: 500), die Grundsteuer B mit 200 (heute: 825). Auch das war also eine verhältnismäßig geringe Belastung der Eigentümer und Unternehmer, wenn man das mit heute vergleicht.

Der Haushalt für das Rechnungsjahr 1940. Auch im Zweiten Weltkrieg gab es eine regelrechte Finanzverwaltung.
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Der Haushalt für das Rechnungsjahr 1940. Auch im Zweiten Weltkrieg gab es eine regelrechte Finanzverwaltung. © Tobias Weckenbrock
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Der Hebesatz bei der Grundsteuer B lag über Jahrzehnte bei 200 Prozent. Heute ist er über viermal so hoch.
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Der Hebesatz bei der Grundsteuer B lag über Jahrzehnte bei 200 Prozent. Heute ist er über viermal so hoch. © Tobias Weckenbrock

1946: Nachkriegs-Wirren

Als der Zweite Weltkrieg beendet war und die Zeichen auf Wiederaufbau standen, ab 1948 vorwiegend finanziert durch die ausländischen Zahlungen aus dem „Marshall-Plan“ (European Recovery Program) der Alliierten, standen die Ampel auch im Kommunalhaushalt auf Rot: 9,7 Millionen Reichsmark Ausgaben bei 5,1 Millionen Reichsmark Einnahmen: Das bedeutete ein dickes Minus von 4,6 Millionen RM. Der Hebesatz der Grundsteuer B wurde auf 240 Prozent angehoben. So kam man 1947 wieder auf einen ausgeglichenen Haushalt von 11,4 Millionen RM Einnahmen und Ausgaben.

Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Hier die Satzung aus dem Jahr 1942: ein ausgeglichener "Kriegshaushalt".
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Hier die Satzung aus dem Jahr 1942: ein ausgeglichener „Kriegshaushalt“. © Tobias Weckenbrock

1954 bis 1975: Die schwarze Null

Der wirtschaftliche Aufschwung, der dann folgte, zeigte sich auch in den städtischen Finanzen: Es lief relativ glatt in den Folgejahren. Der Etat des Weltmeister-Jahres 1954 zum Beispiel war mit 17,5 Millionen D-Mark ausgeglichen. Eine DM hatte damals eine Kaufkraft von 3 Euro heute. Es ging voran: 1966 wuchsen Einnahmen und Ausgaben auf 45,3 Millionen DM an. 1975 lagen sie bei 106 Millionen DM (1 DM = heute 1,50 Euro).

Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Der Plan für 1975 hatte ein Bild von der Baustelle am Stadtmittelpunkt auf dem Umschlag. Die Stadthalle schon fast fertig, die Europahalle im Rohbau...
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Der Plan für 1975 hatte ein Bild von der Baustelle am Stadtmittelpunkt auf dem Umschlag. Die Stadthalle schon fast fertig, die Europahalle im Rohbau... © Tobias Weckenbrock
Im Haushalt von 1975 sind auch die Kosten für den Bau des Stadtmittelpunktes Teil der Finanzen. Sie wirken sich bei der Kreditaufnahme aus, die hier verhältnismäßig hoch ist. Es handelt sich aber um Investitions-, keine Liquiditätskredite. Das ist ein großer Unterschied: Die Ausgaben haben anders als bei konsumtiven Krediten, bei denen das Geld direkt weg ist, einen Gegenwert.
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Im Haushalt von 1975 sind auch die Kosten für den Bau des Stadtmittelpunktes Teil der Finanzen. Sie wirken sich bei der Kreditaufnahme aus, die hier verhältnismäßig hoch ist. Es handelt sich aber um Investitions-, keine Liquiditätskredite. Das ist ein großer Unterschied: Die Ausgaben haben anders als bei konsumtiven Krediten, bei denen das Geld direkt weg ist, einen Gegenwert. © Tobias Weckenbrock

1970er: Beginn der fiskalischen Wende

Es ging nicht alles so rosig weiter. Bis 1979 wurde die Grundsteuer B langsam auf 300 Prozent angehoben. Auch beim Gewerbesteuer-Hebesatz entschied die Politik im Stadtrat, nachzusteuern: 1982 betrug der Hebesatz für Unternehmen und Gewerbe hier 360 Prozent nach 260 in den Jahren zuvor. Das Jahr 1975 schloss die Stadt schon mit einer Investitionskredite-Neuaufnahme von 17,5 Millionen D-Mark auf. Damit wurden unter anderem Baustellen wie der Stadtmittelpunkt finanziert: Rathaus, Europahalle und Stadthalle entstanden in dieser Phase. Bei Investitionskrediten steht immer auch ein entsprechender Sachwert in ähnlicher Höhe der Kreditaufnahme entgegen. Doch wir bleiben bei der Kohle.

Stichwort Kohle: Der Steinkohlebergbau in Castrop-Rauxel endete mit der letzten Schicht am Schacht Erin im Dezember 1983. Die Absatzkrise der deutschen Steinkohle schlug voll ins Gewicht. 1,4 Millionen Tonnen aus der Zeche Erin geförderte Steinkohle im letzten Geschäftsjahr: wie abgeschnitten. Eine Wirtschaftswende, die sich auswirkte in der Stadtgesellschaft. 1982 war der städtische Haushalt leicht unterfinanziert: Bei 156,9 Millionen DM Ausgaben mussten 4,6 Millionen DM über neue Kassenkredite finanziert werden.

Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Der Haushalt von 1982 war in gewisser Weise auch ein Wendepunkt: Etwa ab hier ging es abwärts für Castrop-Rauxel. Der Druck geschah damals im kleinen handlichen Format. Dadurch war er allerdings extrem dick.
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. Der Haushalt von 1982 war in gewisser Weise auch ein Wendepunkt: Etwa ab hier ging es abwärts für Castrop-Rauxel. Der Druck geschah damals im kleinen handlichen Format. Dadurch war er allerdings extrem dick. © Tobias Weckenbrock

1999: Ein tiefes Haushaltsloch

Strukturell unterfinanziert: Das konnte man in den 90er-Jahren schon behaupten. Castrop-Rauxel strich 199 Millionen DM Einnahmen ein. Unter anderem zum Beispiel 12,9 Millionen über die Grundsteuer B. Der Hebesatz lag zu dieser Zeit bei 410 Prozent. Aus heutiger Sicht, wo er doppelt so hoch liegt, ein Schnäppchen für Wohneigentümer. Aber in den 60er-Jahren lag der Hebesatz ja noch bei 200 Prozent... Die Einnahmeseite bei der Grundsteuer B hatte die Stadt damit seit 1992 um 3 Millionen DM verbessert, immerhin um ein Drittel. Aber das half nicht so richtig bei 24 Millionen DM Minus unter dem Strich der Bilanz.

Die Stadt durfte einen Höchstbetrag von 80 Millionen DM bei den Kassenkrediten nicht übersteigen, hieß es im Haushaltsplan. Gut, das tat die Verwaltung auch nicht. Aber dieser Deckel lag 1982 noch bei 15 Millionen DM und 1975 noch bei 1,5 Millionen DM. So ändern sich die Verhältnisse. Der städtische Bereichsleiter Finanzen Stefan Brenk sagt: „Das waren die Anfänge, wo es nicht mehr so rund lief. Der Höchstbetrag der Kassenkredite von 15 Millionen DM“, meint er, „das ist ja heute eher eine Art Portokasse.“

Was zu der Unterfinanzierung auch beitrug, war die deutsche Wiedervereinigung: „Wir mussten uns am Solidarpakt beteiligten, obwohl wir schon unterfinanziert waren“, erinnert sich Stefan Brenk. Gelder in einem zweistelligen Millionenbereich flossen Jahr für Jahr aus Castrop-Rauxel in den „Wiederaufbau Ost“.

Und es kam noch mehr dazu: Die Regierung Schröder von 1998 packte unter dem Stichwort Agenda 2010 vieles an. Unter anderem wurde das Gewerbesteuerrecht angepasst. „Dadurch sind die Erträge deutlich zurückgegangen“, sagt Stefan Brenk. Geld, das bei den Städten fehlte, die die Gewerbesteuer eintreiben. Zentraler Bestandteil: Unternehmensteuern wurden danach nur noch nach der Ertragskraft bemessen, nicht mehr nach dem gesamten Kapital eines Unternehmens.

2004: In Richtung „Notbremse“

Die Zahlen blieben mies. In den 2000er-Jahren, in denen es in Deutschland konjunkturell eher mittelmäßig lief, sah es in Castrop-Rauxel schlecht aus: 2004 zum Beispiel betrug das Haushaltsminus 30,7 Millionen Euro bei 104 Millionen Euro Einnahmen. (Kaufkraft-Gegenwert in etwa 1,50 Euro)

Und es ging so weiter: 2009 -20,9 Millionen, 2010 -37,3 Millionen, 2011 -41,9 Millionen Euro Defizit. Allein in diesen drei Jahren also häufte Castrop-Rauxel über 100 Millionen Euro neue Schulden auf. Liquiditätskredite wurden aufgenommen, um das Geld zu beschaffen.

Es wurde Zeit für die Notbremse, die 2011 gezogen wurde. Vermeintlich zumindest.

Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. In den 2000er-Jahren bahnte sich die Katastrophe an.
Haushalte der Stadt Castrop-Rauxel von 1926 bis 2025: Im Rathaus sind sie alle gelagert und archiviert. In den 2000er-Jahren bahnte sich die Katastrophe an. © Tobias Weckenbrock

2011: Der Stärkungspakt Stadtfinanzen

Das Land NRW nahm sich 34 besonders schlecht dastehenden Kommunen an und nahm sie unter einen Schirm, den man Stärkungspakt nannte, der von manch einem (Oppositions-)Politiker aber über Jahre als Strangulierungspakt bezeichnet wurde. Das Framing passte im Prinzip von beiden Seiten: Er lief nach dem Prinzip fördern und fordern. Auf der einen Seite wurde Castrop-Rauxel dazu verdonnert, die Einnahmeseite und die Ausgabenseite aus eigenen Stücken deutlich zu verbessern. So fantasierte die Kämmerei schon 2011 in den Haushalts-Entwurf für die folgenden Jahre eine Verbesserung der Bilanzen mit dem Turnaround im Jahr 2016, wo man erstmals 5 Millionen Euro Überschuss ausweisen würde, der bis 2020 kontinuierlich ansteige auf mehr als 10 Millionen Euro.

In der Tat: Man schaffte es bis 2015, fast zu einem ausgeglichenen Haushalt zu gelangen. 2016 lag man knapp im Plus. Dabei halfen die Konsolidierungshilfen des Landes, die seit 2013 auf die Einnahmeseite flossen: 13 Millionen Euro, ab 2017 dann langsam abschmelzend über 9,5 Millionen und 6,3 Millionen auf 3,5 und 1,5 Millionen Euro im Jahr 2020. 2021 war mit der Hilfe dann Schluss. Auf der anderen Seite standen Stellenstreichungen beim Verwaltungspersonal und andere Bösartigkeiten, die die Bürger zu spüren bekamen. Auch die Anhebung der Grundsteuer B in zwei Stufen von 500 auf 625 (2015) und dann 825 Prozent (seit 2016) war unerlässlich. Sogar der Gewerbesteuer-Hebesatz wurde von 470 auf 500 Punkte angehoben: In einer Stadt wohlgemerkt, die noch immer auf Unternehmens-Ansiedlungen angewiesen war angesichts des Strukturwandels, der auch eine Generation nach dem Ende des Bergbaus noch immer nicht abgeschlossen war.

2021: Fast die schwarze Null

Auch ohne die Konsolidierungshilfe gelang es in wirtschaftlichen Wonne-Jahren, die schwarze Null fast zu erreichen: 2021 wies die Kämmerei eine Klecker-Minusbilanz von 0,4 Millionen Euro aus. Es war ein Jahr des Durchatmens bei 227 Millionen Euro Einnahmen und Ausgaben. „Ein Schönwetterhaushalt“, sagt Stefan Brenk heute, mit Niedrigzinsen und guter konjunktureller Lage. Denn: Die nächste Krise stand schon in Aussicht: das Coronavirus.

Corona, Ukraine-Krieg und das Finanz-Desaster

So konnte Castrop-Rauxel im Jahr 2023 sogar einen Haushalts-Überschuss, erstmals seit 2016, ausweisen. Diesmal ohne Zuschüsse. Aber die 1 Million Euro bei 250,5 Millionen Euro Ausgaben waren jetzt ein bisschen schöngerechnet. Der Bund erlaubte den Kommunen nämlich, die Extra-Kosten aus der Corona-Krise auf einem „Corona-Deckel“ außerhalb des Regelhaushaltes abzurechnen. Mit dem Plan, die Corona-Kosten über die kommenden 50 Jahre abzuschreiben. Vorteil: Sie standen nicht sofort in der Bilanz.

Als dann 2022 noch die Ukraine-Krise hinzukam und mit ihr ein sprunghafter Anstieg der Inflation, der Kreditzinsen und vor allem der Energiepreise, wurde der Corona-Deckel zum Ukraine-Deckel erweitert oder umgewandelt. Selbes Prinzip, nur konnten die Städte nun die damit verbundenen Extra-Kosten in den Schattenhaushalt packen. Ein Kämmerer aus Witten bezeichnete das als „Finanzfälschungsgesetz“.

Stefan Brenk muss sich beim Blick auf Goldesel oder Pleitegeier aktuell auf den Geier fokussieren. Er hofft aber noch auf einen Geldregen durch gesetzliche Veränderungen von Bund und vor allem vom Land.
Stefan Brenk muss sich beim Blick auf Goldesel oder Pleitegeier aktuell auf den Geier fokussieren. Er hofft aber noch auf einen Geldregen durch gesetzliche Veränderungen von Bund und vor allem vom Land. © Tobias Weckenbrock

Und heute?

Die Stadt Castrop-Rauxel hat einen Schuldenberg allein bei den Liquiditätskrediten von 130 Millionen Euro. Das war schon mal mehr, man lag schon mal bei 160 Millionen. Aber diesen Wert wird man im Laufe des Jahres 2025 wieder erreichen und ganz schnell überschreiten, sollte keine komplette Wende folgen: Für das Jahr 2025 stehen 45 Millionen Euro mehr an Ausgaben als an Einnahmen im Haushalt. Jede Woche wächst der Schuldenberg damit um fast 1 Million Euro. Wer die letzte Projektion aus der Kämmerei, die in die nächsten zehn Jahre blickt, zurate zieht, sieht Castrop-Rauxel 2034 bei 1 Milliade Euro Schulden.

Woran liegt das? Laut Stefan Brenk verletzten Bund und Land NRW das Konnexitätsprinzip und belasten damit alle Kommunen, von denen viele dieselben Probleme haben wie Castrop-Rauxel. Nur ein Beispiel: Der Bund führte einen Gesetzesanspruch für alle Eltern zur Ganztagsbetreuung auch in der Grundschule ein. Zum Aufbau der Kapazitäten in den Städten gibt es Gelder vom Bund. Aber den Betrieb der OGSen und die Personalkosten finanziert die Stadt. Oder sie bezahlt einen freien Träger. Das schlägt sich dann in den Sachkosten des städtischen Etats in derselben Höhe nieder. Auch sonst ist der „Kommunalisierungsgrad“ in NRW weit höher als zum Beispiel in Bayern. Hier finanzieren Städte zum Beispiel Leistungen wie die Wiedereingliederungshilfe, die über eine Landschaftsumlage vom Kreis an den LWL und über die Kreisumlage von den Städten an den Kreis indirekt überwiesen wird. „Das ist aus meiner Sicht aber keine kommunale Aufgabe“, sagt Stefan Brenk. Anderes Beispiel: Es gibt ein neues Wohngeldgesetz. Die Leistungen bezahlt das Land an die Wohngeldempfänger. Aber die Wohngeldanträge, die in der Bearbeitung deutlich aufwendiger wurde, regelt die Stadt.

Genehmigt ist der aktuelle Haushalt für 2025 nicht. Er ist zwar vom Stadtrat verabschiedet und beschlossen, aber liegt nun der Kommunalaufsicht beim Kreis Recklinghausen vor.

Landrat Bodo Klimpel ist für die Aufsicht der zehn Kommunen im Kreis Recklinghausen zuständig.
Landrat Bodo Klimpel ist für die Aufsicht der zehn Kommunen im Kreis Recklinghausen zuständig. © Jörg Gutzeit (Archiv)

Solange er nicht genehmigt ist, arbeitet man in einem Vorläufigkeitsmodus. Sollte er auch nicht genehmigt werden, und davon muss man bei dieser Bilanz natürlich ausgehen, gilt das Nothaushaltsrecht. Das besagt: Es darf nur noch das ausgegeben werden, was zum laufenden Betrieb nötig ist. Die Stadt darf keine weiteren Verpflichtungen eingehen.

Der Betrieb der Bäder oder der Stadtbibliothek zum Beispiel zählt rechtlich zu den freiwilligen Leistungen, die eine Stadt eigentlich nicht mehr bestreiten darf. Der Landrat erklärte aber schon vor Monaten, dass man keine Jugendtreffs oder Bäder schließen werde.

Für alles, was die Stadtverwaltung bestellen will, muss sie einen speziellen Antrag nach Paragraf 82 der Gemeindeordnung stellen. Praktisch jede Einzelmaßnahme bedarf einer Genehmigung durch den Landrat. Dem ist jedes Mal eine „Unabweisbarkeit“ der einzelnen Ausgabe darzulegen. Klingt bürokratisch und hört sich nach viel Aufwand an...