Roboter geht in Castrop-Rauxel zur Schule Lian (8) hat Krebs – trotzdem nimmt er am Unterricht teil

Ein Roboter geht in Castrop-Rauxel zur Schule
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Wo sonst Lian Born sitzen würde, steht ein Roboter im Klassenzimmer der Lindenschule. Mit seinen Kameras überblickt er den gesamten Raum. Seine Form erinnert an einen Kopf und einen Operkörper. Der Roboter geht für Lian zur Schule, weil er krank ist.

Der achtjährige Junge aus Castrop-Rauxel hat im Herbst 2024 erfahren, dass er Krebs hat – einen Tumor in Prostata und Harnblase. Seitdem ist sein Leben ganz anders geworden. Im Augenblick kann er nicht zur Schule gehen. Aber es wurde eine Lösung gefunden, wie er sich am Unterricht beteiligen kann. Auf Anfrage seiner Grundschule hat die Stadt Castrop-Rauxel den Avatar besorgt. Damit kann Lian den Klassenraum sehen und sich darin umschauen. Er kann mithören, was besprochen wird. Und er kann sich melden, um selbst etwas zu sagen. „Wir sind wirklich begeistert“, sagt Lians Mutter Heike Born. „So einen Avatar sollte es an jeder Schule geben.“

Zur Chemotherapie hat Lian immer ein Fotokissen dabei. Es zeigt ihn gemeinsam mit seinem großen Bruder Fynn. Fynn starb 2021 an einem Hirntumor.
Zur Chemotherapie hat Lian immer ein Fotokissen dabei. Es zeigt ihn gemeinsam mit seinem großen Bruder Fynn. Fynn starb 2021 an einem Hirntumor. © Jessica Will

Teil der Klassengemeinschaft

Die Idee mit dem Avatar kam aus der Elternschaft der Klasse. Lian sollte es weiter möglich sein, am Unterricht teilzuhaben. Darüber war man sich mit der Schulleiterin Isabell Schütz einig. Als klar wurde, dass er für längere Zeit nicht zur Schule kommen könnte, stellte die Lindenschule einen Antrag an die Stadtverwaltung. Mit Erfolg.

Für rund 3000 Euro wurde der „AV1-Avatar“ gekauft. Das Geld stammt aus dem „Digitalpakt Schule“ des Bundesministeriums für Bildung. Durch das Gerät soll für Kinder, die langfristig nicht in Präsenz am Unterricht teilnehmen können, die Teilhabe an Bildung und Gemeinschaft erhalten bleiben, erklärt Nicole Fulgenzi, Sprecherin der Stadt Castrop-Rauxel.

So funktioniert der Roboter

Lian und seine Mutter nennen das Gerät meistens „Roboter“. Er kann so an seinem Sitzplatz aufgestellt werden, dass die gewohnte Perspektive übertragen wird. Wenn der Roboter mit dem Internet verbunden ist, kann sich Lian anmelden, indem er einen Code in der zugehörigen App eingibt. Sobald er verbunden ist, hebt der Avatar den Kopf und die Augen beginnen, zu leuchten.

Durch einfaches Schwenken kann das Sichtfeld verändert werden. Für den Nutzer wirkt es, als würde er nach links oder rechts, oben oder unten schauen. Mikrofone nehmen den Ton im Klassenraum auf, der übertragen wird. Ein grünes Leuchten ist das Zeichen dafür, dass Lian aufzeigt. Dafür muss er nur das entsprechende Feld antippen. Wenn er an der Reihe ist, ist seine Stimme im Klassenraum zu hören. Die Lautstärke kann er selbst einstellen. Durch den Einsatz von Emojis könnte er sogar den Gesichtsausdruck des Roboters verändern. „Muss das Kind sich beispielsweise für eine Behandlung oder eine Ruhepause abmelden, wird dies durch rotes Licht beim Avatar gekennzeichnet“, erklärt Nicole Fulgenzi. Für „Nur zuhören“ gibt es einen eigenen Modus – dann wird das Licht bläulich.

Funktioniert das überhaupt?

Als wir mit Heike Born telefonieren, meldet sich Lian selbst zu Wort. Insgesamt, sagt er, funktioniert der Roboter gut. Vor der ersten Stunde, wenn die Kinder in den Klassenraum strömen, bleiben manche gerne vor dem Avatar stehen, um ihren Mitschüler zu begrüßen. Davon erzählt seine Mutter. Manchmal fragen sie die Lehrkraft, ob Lian heute neben ihnen sitzen kann. Gewissermaßen bleibt er ein Teil der Klassengemeinschaft.

Nur gelegentlich gebe es Verbindungsprobleme, sagt Heike Born. „Auch, wenn viele Schüler durcheinander sprechen, wird es schwierig, alles zu verstehen.“ Sich an Gruppenarbeiten zu beteiligen, sei aus der Ferne kaum möglich. Dasselbe gelte für die Teilnahme an Fächern wie Kunst, oder das Üben von Schreibschrift. „Im Frontalunterricht funktioniert er besser. Außerdem fände ich es schöner, wenn Lian die Möglichkeit hätte, sich selbst zu zeigen. So kann er zwar alles sehen, aber niemand kann ihn sehen.“

Technisch wäre es möglich, den Avatar außerhalb des Klassenzimmers zu nutzen – etwa in Pausen oder bei Ausflügen. Das haben Lian und Heike Born aber nicht ausprobiert. Heike Born kann sich vorstellen, dass es für ihren Sohn schwierig sein könnte, seine Freunde auf dem Schulhof ohne ihn spielen zu sehen. In einigen Bereichen sei der Roboter noch ausbaufähig. „Aber insgesamt erfüllt er auf jeden Fall seinen Zweck.“

Nach der letzten Chemotherapie überraschte seine Familie Lian mit einer Party.
Nach der letzten Chemotherapie überraschte seine Familie Lian mit einer Party. © Born

Freunde schicken Post

Viele Kinder seien dem Avatar gegenüber aufgeschlossen, bestätigt Schulleiterin Isabell Schütz. „Im Moment sind, glaube ich, alle Beteiligten ganz zufrieden damit, wie er funktioniert.“ Für die Klassengemeinschaft sei er wertvoll. Doch die Maßnahmen der Schule enden nicht mit dem Roboter.

Ein Lehrer kommt dreimal pro Woche für insgesamt fünf Stunden zu Lian nach Hause. Er bringt die Post mit, die seine Freunde in einen persönlichen Briefkasten in der Klasse legen können. Außerdem wird er mit Unterrichtsmaterialien versorgt. Einmal, erzählt Isabell Schütz, konnte Lian für zwei Stunden persönlich die Schule besuchen. Bei der Gelegenheit wurde der Unterrichtsstoff sein gelassen, um Zeit für eine gemeinsame Erzähl- und Spielstunde zu haben.

Lian kämpft sehr tapfer gegen die Krebserkrankung. Vor wenigen Wochen hat er die letzte Chemotherapie in der Kinderklinik Dortmund hinter sich gebracht. Aktuell muss er sich Bestrahlungen unterziehen. Wenn alles klappt, sagt seine Mutter, könnte er nach den Osterferien wieder stundenweise in die Schule gehen. Es wäre ein wichtiger Schritt zurück in den Alltag. Der AV1-Avatar wird im Eigentum der Stadt Castrop-Rauxel bleiben. Zukünftig könnte er somit theoretisch auch an andere Schüler verliehen werden, die für längere Zeit nicht persönlich am Unterricht teilnehmen können.

Tausende Avatare unterwegs

Der Einsatz sogenannter Telepräsenzroboter sind im Bildungswesen inzwischen verbreitet. Laut dem Münchener Unternehmen No Isolation GmbH, das den AV1-Avatar herstellt, wurden schon über 3000 Exemplare in 17 Ländern verkauft. Mehr als 10.000 langzeitabwesende Schulkinder haben demnach bereits einen der Avatare benutzt.