Die Idylle hält nur einen kurzen Moment: Lian sitzt auf seinem Bett, vor ihm ist das Brettspiel Maulwurf-Company aufgebaut. Er greift gerade zur Spielfigur, als seine Mutter ins Zimmer kommt. Lian schaut auf: „Mama, ich hab schon wieder gebrochen.“ Heike Born verzieht kurz das Gesicht und schaut, ob auf dem Tisch am Bett noch ein Spuckbeutel bereitliegt.
Übelkeit und Erbrechen gehören für Lian zum Alltag. Das Bett, auf dem er sitzt, steht nicht in seinem Kinderzimmer, sondern auf einer Station der Kinderklinik in Dortmund. Nicht nur das passt schlecht zur Idylle eines spielenden Achtjährigen. Lian hat keine Haare mehr. Er hat Krebs.
Was an sich schon ein schwerer Schicksalsschlag für jede Familie wäre, trifft Familie Born aus Castrop-Rauxel noch extremer: Im Juni 2021 starb Lians großer Bruder Fynn. Mehrere Jahre hatte er gegen einen Hirntumor gekämpft. Wie viel Mut, Optimismus und Lebenswillen der Junge dabei ausstrahlte, bewegte viele Menschen.
Die onkologische Kinderstation ist für Lian, der aktuell eine Chemotherapie bekommt, daher kein unbekanntes Umfeld: Hier hat er früher seinen großen Bruder besucht.
„Mein Bruder hatte schon Krebs“
Und auch die Diagnose Krebs ist nicht neu. Krebs hatte sein Bruder auch, das weiß der heute Achtjährige, der damals noch zu jung war, um die schwere Erkrankung in vollem Umfang verstehen zu können. Als seine Eltern ihm Ende September 2024 erklären, dass bei ihm ein Krebstumor entdecken worden ist, ist seine Reaktion aber eindeutig. Er weiß, was diese Diagnose im schlimmsten Fall bedeuten kann: „Aber mein Bruder hatte schon Krebs. Ich will nicht auch an Krebs sterben, der hat mir schon meinen Bruder genommen.“
Die ganze Familie kämpft dafür, dass Lians Weg ein anderer ist. Auch wenn es zwangsläufig einige Parallelen in den Krankenakten der beiden Brüder gibt. „Es ist exakt die Station, auf der wir mit Fynn auch waren“, sagt Heike Born, die während der Chemotherapie mit ihrem Sohn gemeinsam auf der Station aufgenommen wird. K41 „Station Löwenherz“ steht neben der Eingangstür zu der Station.
Kämpfen wie Löwen, das muss Familie Born zum zweiten Mal. Zwei unterschiedliche Krebserkrankungen bei Kindern einer Familie – Fynn hatte einen seltenen Hirntumor, Lian nun einen Tumor in Prostata und Harnblase – das klingt extrem unwahrscheinlich: „Mir wurde gesagt, die Chance, zweimal hintereinander im Lotto zu gewinnen, ist höher“, sagt Heike Born mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme. Möglich sei eine Gen-Mutation, die sie ihren Kindern vererbt haben könnte. Lian und Fynn waren Halbbrüder – wenn etwas vererbt wurde, dann ist ihre Mutter der gemeinsame Nenner. Um Gewissheit zu bekommen, steht für die 39-Jährige bald eine Untersuchung an. Denn Lian hat noch einen jüngeren Bruder.

Die Ungewissheit, ob auch für Milo (2) ein höheres Krebsrisiko besteht, ist nur eine von vielen quälenden Fragen, die die Castrop-Rauxelerin beschäftigen. Wenn die Gedanken im Negativ-Strudel sind, taucht immer wieder die Frage auf: „Warum ausgerechnet Lian, warum ausgerechnet mein Kind? Aber es ist müßig, kein Kind hat das verdient“, sagt Heike Born. „Was habe ich falsch gemacht, vielleicht schon in der Schwangerschaft? Man fragt schon nach der Schuld. Aber es gibt keine Antwort.“
Sätze, die erahnen lassen, wie groß die Wut, Angst und Verzweiflung manchmal sein müssen, wenn man sich diesem Schicksal stellen muss. Wobei es nicht diese Momente sind, die den Alltag mit der Krebserkrankung prägen. Das zu betonen ist der Mutter, die im Gespräch zu ganz großen Teilen sehr beherrscht über ihre Söhne sprechen kann, ein wichtiges Anliegen.
Heike Born und ihr Mann Simon (35) sind in erster Linie darum bemüht, optimistisch nach vorn zu schauen. Für ihre Kinder den Alltag aufrechtzuerhalten. Die Erkrankung ist aktuell der Normalzustand: „Zuhause herrscht nicht permanent Trauerstimmung. Wir sitzen hier nicht ständig und weinen. Wir wollen zeigen: Es geht weiter. Da tut es gut, zwischendurch zu lachen und albern sein zu können.“
Wobei die Erkrankung Lian deutlich verändert hat: „Ich frage mich tatsächlich zwischendurch, wo ist mein kleines unbeschwertes Speckbeinchen hin?“ Die typische, unbeschwerte Art von Kindern, habe sich deutlich gewandelt: „Er ist zu einem nachdenklichen, so ein bisschen zurückgezogenen Jungen geworden. Man möchte ihm so gerne helfen. Aber das kann man nicht.“
Was die Eltern jedoch können, ist zu funktionieren – vor allem für ihre Kinder. „Der Krebs gewinnt nur, wenn man ihn lässt“, so beschreibt die Mutter ihre Grundeinstellung. So war es bei Heike Born auch im Moment der Diagnose, die einem eigentlich die Luft zum Atmen nehmen muss: Bei beiden Kindern kam sie wegen Problemen, die nicht so gravierend sein sollten, in die Notaufnahme der Dortmunder Kinderklinik – bei Fynn waren es hartnäckige Kopfschmerzen, bei Lian der Verdacht auf eine heftige Blasenentzündung.
Dann die Momente, die alles veränderten: Im Gespräch mit dem Arzt die Diagnose Krebs. „Bei keinem der beiden hatte ich das Gefühl: Was ist hier los?“ Ein lähmender Schock blieb aus. Die Gedanken gingen sofort in die Zukunft: „Was haben wir für Möglichkeiten, was können wir machen?“
Auch jetzt ist die Blickrichtung konsequent nach vorne, betont die 39-Jährige. Aber sie erzählt auch, dass die Ärzte Fynn – genau wie nun Lian – zu Anfang der Behandlung sehr gute Heilungschancen eingeräumt hatten. Diese wurden aber kleiner und kleiner, mehrmals kam der Krebs bei Fynn zurück. Irgendwann war die Erkenntnis da: Ihr erstgeborenes Kind wird seinen Kampf verlieren. Fynn muss viel zu früh sterben. „Vom Kopf her wussten wir, dass er austherapiert ist und er sterben wird. Aber man redet sich ein, dass Wunder immer wieder passieren.“ Die verzweifelte Hoffnung erfüllte sich nicht. Der tapfere Junge schlief in einer Nacht im Juni 2021 zu Hause im Beisein seiner Liebsten friedlich für immer ein. Er wurde nur 13 Jahre alt.

Wie beeinflusst dieses Wissen die Einordnung von Lians Heilungschancen? Heike Born drängen sich zwischendurch die bösen Gedanken auf: „Natürlich hat es einen faden Beigeschmack, weil man die Erfahrung gemacht hat, dass es trotzdem anders laufen kann. Ich habe Angst vor einem Rezidiv, Angst, dass der Krebs nach erfolgreicher Behandlung zurückkommt.“
Ein großer Unterschied zur Fynns Hirntumor macht der Familie Mut: Lians Tumor ist besser operabel, als es bei Fynn der Fall war. Die OP soll in einer Klinik in Tübingen stattfinden. Die weitere Behandlung soll danach wieder in Dortmund stattfinden. Das gibt Heike Born ein gutes Gefühl: „Ich vertraue den Ärzten blind. Das gesamte Team gibt hier für jedes Kind alles.“ Ein MRT nach den ersten Chemo-Blöcken sah gut aus: Der Tumor ist kleiner geworden.
Trotzdem haben er und seine Familie noch einiges vor sich, bis er geheilt ist. Aber Heike Born behält die Hoffnung im Fokus – das macht die Aufenthalte zur Chemotherapie erträglicher. Zudem fühlt sich die Familie auf der Station Löwenherz menschlich bestens aufgehoben. „Es wird wie eine zweite Familie. Man kennt die Schwester, man kennt die Ärzte. Man scherzt auch mal. Natürlich ist es nicht zu Hause, aber ich hätte es mir früher von außen betrachtet schlimmer vorgestellt“.
Schwere Krankheit als Normalität
Was für Heike Born zudem zur guten Grundstimmung auf der Kinderstation beiträgt, sind die anderen Familien: Der Kampf gegen eine schwere Krankheit ist eine gemeinsame Normalität. Hier ist Lian nicht der extreme Sonderfall, sondern eins von vielen Kindern, die eine schwere Krankheit meistern müssen.
„Das ist hier anders als im normalen Freundeskreis. Da ist es schon so, dass viele bei einer so schweren Diagnose nicht wissen, was sie sagen sollen“, beschreibt Heike Born ihre Erfahrungen. „Bevor ich etwas Falsches sage, sage ich lieber gar nichts. Und die melden sich dann halt nicht mehr.“ Wenn die Castrop-Rauxelerin von sich aus den Kontakt sucht, versucht sie, das Eis zu brechen: „Die Krankheit ist da. Ob mit dir oder ohne dich. Aber mit dir ist es halt leichter zu ertragen.“
Auch Lian hat schon erfahren, dass der Krebs Beziehungen verändern kann: „Wir hatten es auch mit Kindern schon, dass sie mit der Situation überfordert waren und sich zurückgezogen haben. Da hat Lian gefragt: ,Was habe ich falsch gemacht?`“ Eine kleine Episode, die zeigt, wie schwer es ist, Normalität aufrechtzuerhalten. Zumindest der Kontakt zu Schulfreunden klappe aber gut: Über einen Roboter, ausgestattet mit Mikrofon und Kamera, kann Lian zumindest zeitweise am Unterricht teilnehmen.
Auch Freunde treffen ist möglich – es sei denn, er befindet sich im „Zelltief“. „Ungefähr eine Woche nach der Chemo gehen seine Blutwerte runter, er ist anfälliger für Infektionen. Da müssen wir aufpassen, dass er sich nicht irgendwo ansteckt. Das geht ungefähr drei, vier, fünf Tage, dann gehen die Werte wieder hoch.“

Alle drei Wochen steht die Chemotherapie an – drei Tage sind Lian und seine Mutter dafür auf der onkologischen Station. Bei den Krankenhausaufenthalten zeigt sich: Die Erkrankung ist Ausnahmesituation und Alltag zugleich. Weil man hier schon alles gut kenne, fühlt es sich vertraut an, beschreibt Heike Born. Das liegt auch an den vielen Angeboten, die den Kindern zur Verfügung stehen: Kunst- und Musiktherapeuten kommen in den Zimmern vorbei. In der „Spiele-Insel“ gibt es verschiedenste Möglichkeiten, sich zu beschäftigen: Tischtennisplatten, Kicker, Gesellschaftsspiele, die man auch mit auf die Zimmer nehmen kann. „Es muss nicht so langweilig sein, wie man es sonst bei Krankenhausaufenthalten kennt.“
Das Problem für Lian: Während der Chemotherapie geht es ihm zu schlecht, um die Angebote nutzen zu wollen. „Fynn hat damals viel geschlafen. Das klappt bei Lian leider nicht: Er leidet zu sehr unter der Übelkeit.“ Dabei nimmt er den Kampf gegen den Krebs durchaus an: „Er sagt immer: ,Ich ziehe das durch.‘ Aber wenn die Chemotherapie beginnt, merkt man mit jeder Stunde, dass er ruhiger wird. Dann fängt irgendwann das Erbrechen an. Dann kommen Kopfschmerzen hinzu und er wird weinerlich.“ Das Selbstmitleid nehme manchmal überhand, wer mag es einem Achtjährigen in einer solchen Situation verdenken.
„Er isst quasi nichts, wenn wir hier sind“, so Heike Born. Lian quält sich, das ist nicht zu übersehen. Als kleinen Ausgleich zelebrieren Mutter und Sohn die Mahlzeiten vor und nach dem Krankenhausaufenthalt. Der 8-Jährige hat dann die freie Wahl, was er essen möchte. Heike Born zuckt mit den Schultern. „Da ist es mir ziemlich wurscht, ob das auch mal was Ungesundes ist. Er bekommt hier eine Chemo, wie viel schädlicher kann es noch sein?“ Zudem ist Lian durch die Strapazen der Erkrankung schon sehr dünn – alles, was hilft, dass er zunimmt, ist willkommen.
Bei allem Bemühen, gewisse Strukturen aufrechtzuerhalten, im Krankenhaus gelten andere Regeln. Zu Hause gibt es eine klare begrenzte Bildschirmzeit, während der Chemotherapie nicht. „Wenn er sich eh so schlecht fühlt, was soll ich ihn da mit anderen Vorschlägen nerven? Eigentlich will er gerade nur abschalten, sich ablenken.“ In der Kliniktasche sind daher immer eine mobile Spielkonsole und ein Tablet zum Fernsehen schauen dabei. „Beides haben wir damals für Fynn gekauft.“
Lichtblicke im Klinikalltag bietet der familiäre Zusammenhalt. Lians Vater Simon und sein kleiner Bruder Milo kommen nachmittags regelmäßig zu Besuch. Eine willkommene Ablenkung – wie sie auch Lian für Fynn war. „Fynn war so ein stolzer großer Bruder. Egal, wie schlecht es ihm ging, für Lian hat er sich immer aufgerafft. So macht Lian es jetzt auch für Milo: Im Spiel mit ihm kann er richtig versinken.“
Wenn Milo an diesem Nachmittag zu Besuch kommt, hat sein großer Bruder vielleicht etwas mehr Energie zum Spielen – denn Lian hat Glück: Nach dem Gesellschaftsspiel ist er eingeschlafen. Und blendet man den Ständer mit der Infusion, den Tisch mit dem Spuckbeutel und das Krankenhausbett aus, dann ist da plötzlich wieder ein Stück Normalität: Ein kleiner Junge beim Mittagsschlaf, dicht an sein Stofftier gekuschelt. Eine Mutter, die an seiner Seite wacht, ihm den Rücken streichelt und den friedlichen Moment genießen kann.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 8. Februar 2025.