Mittelmaß ist in Deutschland offenbar gerade das Maß aller Dinge. Nein, ich meine jetzt nicht unseren neuen Kanzler. Ich meine auch nicht die Verkaufserfolge der deutschen Autoindustrie. Wobei all diese Parameter irgendwie gut zu der Nachricht passen, die ein großes Immobilienportal Anfang 2025 verkündet hat.
Demnach ist die Nachfrage nach Eigentumswohnungen, also dem Mittelmaß-Modell der Immobilie gegenüber dem Haus, deutschlandweit derzeit nicht nur um 63 Prozent höher als vor einem Jahr. Auch die Größe dieser gesuchten Eigentumswohnung belegt das Mittelmäßige des bundesdeutschen Durchschnittswunsches: Sie hat drei Zimmer und 74 Quadratmeter Wohnfläche.
Langweiliger geht es also nicht? 74 Quadratmeter sind das Maß der Dinge bei Deutschlands Immobilien-Interessenten in den Großstädten? Das spricht nun wirklich nicht für große Phantasie der Menschen. Und es spricht für kein üppiges Bankkonto und für keine große Zukunfts-Zuversicht in Deutschland. Wo sind die Wünsche nach dem Traumhaus geblieben, nach der neuen Heimstätte für eine ganze Familie?
Auf 74 Quadratmetern sind mein Bruder und ich in der Wohnung meiner Eltern groß geworden. Das war damals in Ordnung, quasi das Maß aller Dinge in unserem Freundeskreis. Aber das war auch in den späten 1960er-Jahren, als alles noch etwas bescheidener zuging, als man noch mit dem Aufschwung beschäftigt war und immer weiter nach vorne und in Zukunft nach oben wollte.
Aber heute, gut 50 Jahre später in der Zukunft? Da sucht die Mehrzahl der Immobilien-Interessenten nach einer 74-Quadratmeter-Wohnung? Was ist da los in unserem Land? Gut, Aufschwung kennt man schon länger nicht mehr, und die Zuversicht ist bei vielen Menschen im Vorfeld der Bundestagswahl von den Apologeten des Niedergangs speziell am rechten Rand der politischen Weltanschauung tot gequatscht worden.
Und so wünscht man sich in der nach wie vor drittgrößten Volkswirtschaft der Welt heute also in den großen Städten eine Dreizimmerwohnung als Behausung. Und das natürlich, so die weitere Auswertung des Immobilien-Suchverhaltens, auch noch in der mittleren Energieeffizienzklasse D. War klar: Noch mittelmäßiger kann es in unserem Deutschland ja auch nicht zugehen.
Die entsprechende Wohnung wird dann wahrscheinlich mit durchschnittlich teurer Raufaser tapeziert, mit einem mittelmäßigen Fernseher und einer Couchgarnitur aus dem mittleren Preissegment eingerichtet. Die mittelgroße Küche erhält eine Standard-Einbauküche und das Norm-Kinderzimmer wird mit einer schmucken Norm-Einrichtung mit furniertem Plastik in Holz-Optik aus dem Möbelhaus ausgestattet.
Ist das das Land der Dichter und Denker, der wegweisenden Ingenieurleistungen, des Vorsprungs durch Technik, des Made in Germany? Wo sind sie nur geblieben, die Ideen, die Visionen der Deutschen? Eine Dreizimmerwohnung mit 74 Quadratmetern hört sich nicht nach einer Vision an. Armes Deutschland.
In den „Wohn(t)räumen“ befasst sich Thomas Schroeter regelmäßig auf sehr persönliche Art mit dem Wohnen. Da kann es um neue Trends gehen, um Wohnphilosophien, um Bauärger oder Küchendeko. Einfach um alles, was das Wohnen im Alltag ausmacht.
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