Kriegskind und Bergbau-Malocher Karlheinz Rauhut ist „dem Tod sechsmal von der Schippe gesprungen“

Karlheinz Rauhut: „Dem Tod sechsmal von der Schippe gesprungen“
Lesezeit

Er hat kaputte Knie, einen kaputten Rücken und eine Staublunge – aber auf seinen Kopf kann er sich noch voll und ganz verlassen. Das sagt Karlheinz Rauhut von sich selbst. Und so stimmt es auch. Der 86-Jährige wirkt so wach und entschieden, wie es seinem Ruf des rebellischen Ratsherren entspricht. Diesen hat er sich in den insgesamt 25 Jahren erarbeitet, die er für die SPD im Stadtrat saß.

„Man hielt mich oft für blöd“, sagt Rauhut rückblickend. „Aber da waren sie falsch gewickelt. Denn wir Bergmänner sind nicht alle blöd.“ Unserer Redaktion hat der ehemalige Kumpel einen Einblick in sein Aufwachsen im Krieg und seinen Beruf unter Tage gewährt.

Seine Kindheit und Jugend nennt er, der kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegt, eine „Scheißzeit“. Geboren wird er im November 1937 in Castrop-Rauxel. Hitler ist an der Macht und wird bald den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brechen. Zerstörung, Gewalt und Vertreibung bestimmen die jungen Lebensjahre Rauhuts. Sein Geburtshaus in Ickern, In der Wanne 32 – durch Bombardements der Alliierten komplett zerstört. Provisorische Unterkünfte, in denen er mit seiner Mutter unterkommt – von kurzer Dauer.

„Da, wo wir waren, mussten wir ständig wieder weg“, erinnert sich Karlheinz Rauhut. Im Sudetenland, der ehemaligen Tschechoslowakei, in Bayern. „Na, ihr habt uns noch gefehlt“, habe es oft zur Begrüßung geheißen, wenn sie irgendwo ankamen. „Wir können doch auch nichts dafür“, habe er als Sechsjähriger stets erwidert, so Rauhut. Als Obdachlosen bleibt ihnen, was sie kriegen können. „Ich habe im Schweinestall geschlafen – da konnte ich anziehen, was ich wollte, ich habe immer nach Gülle gerochen, weil der Gestank überall war.“

Sein Vater fällt an der Front. Der Krieg endet. In die Gebiete des heutigen Tschechiens rückt die Rote Armee der Sowjets vor. „Die Russen waren tagsüber friedlich“, erinnert sich Rauhut. „Aber jeden Abend, wenn sie getrunken hatten, waren meine Mutter und ich vor ihnen auf der Flucht.“

Mit 14 der Ernährer der Familie

Zurück in Castrop-Rauxel leben sie zu fünft auf 23 Quadratmetern. In das zerstörte Haus regnet es herein. „Wir lagen auf Matratzen auf der Erde.“ Karlheinz Rauhut ist aber nicht bitter, als er das erzählt. Zwischendurch lacht er sogar. Etwa, wenn er das hier erzählt: „Mein Onkel war Junggeselle. Der hat sich ständig einen gelötet und bis in die Nacht hinein gesungen. Da war ich immer müde am nächsten Tag in der Schule.“

Sein Onkel ist es auch, dem Rauhut sein späteres Dasein als Bergmann verdankt. „Wir brauchten ja Wohnraum. Und in den Aapwiesen bauten sie Zechenhäuser.“ Sein Onkel habe ihm nahegelegt, unter Tage zu arbeiten, um eines der Häuser beziehen zu können. „So wurde ich dann mit 14 Jahren zum Ernährer der Familie.“

Bis zur Schließung 1973 malocht er auf Zeche Victor III/IV in Ickern. „Ich habe meinen Onkel erst dafür verflucht, dass er mir das eingebrockt hat. Heute bin ich stolz, Bergmann gewesen zu sein“, sagt Karlheinz Rauhut rückblickend. Verfluchen wollte er seinen Onkel, weil die Arbeit hart war. Mit heutigen Verhältnissen nicht zu vergleichen. Schlicht eine andere Welt.

Schicksal? Oder Gottes Fügung?

Rauhut riskierte unter Tage sein Leben. „Ich bin dem Tod sechsmal von der Schippe gesprungen.“ Das Risiko für Leib und Leben wurde durch die Lohnanreize noch verschärft: Denn das meiste Geld ließ sich da machen, wo es im Schacht am gefährlichsten war. So war Karlheinz Rauhut in seinen jungen Jahren oft derjenige, der vorneweg ging, der einen Abschnitt sicherte, bevor abgebaut und ausgekohlt wurde. „Wenn ich immer nach Vorschrift gearbeitet hätte, dann hätte ich nie Geld verdient.“

Eine Erinnerung sticht hervor. Mit seinem Kumpel Heinz entgeht er unter Tage nur knapp dem sicheren Tod durch einen herunterstürzenden Sargdeckel. Das sind versteinerte Bäume in den Erdschichten, lose Gesteinsplatten oder Brocken. „Wir waren gerade zur Seite getreten, um buttern zu gehen. So sagt man das unter Tage, wenn man sein Frühstück zu sich nimmt“, erklärt Rauhut. „Wir standen gerade auf der anderen Seite, da ist so ein Sargdeckel runtergekommen. Da wären wir platt gewesen.“ Schicksal? Oder Gottes Fügung? Rauhuts Erklärung: „Der liebe Gott dachte: Den Kerl brauche ich noch.“

Einige seiner besten Freunde sind im Schacht „untern Bruch gekommen“, wie Rauhut es formuliert. Wenn ein Abschnitt einstürzte, konnten oftmals nicht mal die Leichen der Kumpel geborgen werden. „Die Schreie waren schrecklich.“ Karlheinz Rauhut verschleißt sich für den Job. Die klassische Bergarbeiterkrankheit, die Staublunge, hat auch er davongetragen. Dass er mit dem Leben davonkam, motivierte ihn, dann auch etwas draus zu machen. Er war Betriebsrat, Gewerkschafter, Politiker, Ehrenamtler. Jahrzehntelang.

Karlheinz Rauhut aus Castrop-Rauxel war SPD-Ratsherr und Ausschussvorsitzender. Hier ist er auf einer Brücke über die Emscher zu sehen.
Karlheinz Rauhut war SPD-Ratsherr und Ausschussvorsitzender. © Tobias Weckenbrock

Und heute? Was bleibt von einem Leben voller Maloche? Wenn das Atemgerät surrt, das er sich nachts aufgrund seiner Lungenkrankheit anlegt, wirft das sein Unterbewusstsein oft zurück in die Zeiten unter Tage, erzählt Rauhut. Die Schlaf-Rüstung, die er sich dank seiner Krankheiten anlegen muss, weckt körperliche Erinnerungen an die Bergarbeiter-Klamotte. „Ich träume dann manchmal, ich wäre wieder im Schacht.“

Hans Frackowiak (94) hat „Bergbau noch mit Schaufel erlebt“: Sein Blog soll für die Ewigkeit bestehe

Der Mann, ohne den es die Stadt nicht gäbe: „Diese Leute schätzen nicht, was sie hier haben“

Dieter Heermann war 25 Jahre auf Zeche Erin: „Wenn ich nicht unter Tage war, war ich bei Wacker“

Vor 41 Jahren: Schicht im Schacht auf Zeche Erin: Unrühmliches Bergbau-Ende in Castrop-Rauxel