Gardinen waren früher erste Hausfrauenpflicht in jedem Haushalt, der etwas auf sich hielt. Das hat sich heute deutlich geändert. © picture-alliance/ gms
Kolumne
Als Schabracke noch kein Schimpfwort, sondern Fensterschmuck war
Wohnen ist ein Lebensgefühl. In dieser Kolumne beschäftigt sich unser Autor regelmäßig mit „Wohn(t)räumen“. Heute geht es um den Wandel des Fensterschmucks. Gardine oder gar nichts?
Als ich Kind war, musste ich meiner Mutter immer zur Hand gehen, wenn es um unsere Wohnzimmergardinen ging. Die waren zuvor nach umfangreichem und langwierigem Auswahlverfahren durch meine Mutter beauftragt und vom Dekorateur fachmännisch angebracht worden.
Da früher, ich rede hier von den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, nun aber überall und jederzeit und gefühlt von jedermann/frau geraucht wurde, was das Zeug hielt, mussten Gardinen relativ regelmäßig abgenommen, gewaschen, gestärkt und neu dekoriert werden.
Auch das einem Fachmann zu überlassen, wäre meiner sparsamen Mutter nie in den Sinn gekommen. Die gefühlt 50 Quadratmeter Gardinenstoff für unser großes Fenster aber hätte sie niemals allein bewältigen können. So musste ich mit ans Werk, da mein Vater natürlich bei der Arbeit unabkömmlich war.
Das Abnehmen der Stores ging dabei noch halbwegs schnell von der Hand, das Aufhängen und drapieren der etwa 1000 Faltenwürfe, das Beschweren der Gardine mit Bleiband, das Ruckeln und Rücken, das Anreichen der vielen Nadeln, mit denen der weiße Stoff zum Gesamtkunstwerk gesteckt wurde, dauerte allerdings manch qualvolle Stunde.
Ehernes Gesetz: Kein Fenster ohne Gardine
Aber, und das galt damals noch als ehernes Gesetz: kein Fenster ohne Gardine. Was sollen denn die Leute denken. Und vor allen Dingen: Die Leute sollen doch nicht sehen, wie es in der kleinbürgerlichen Stube aussieht.
Immerhin verzichtete die Frau Mama auf die Krönung der Dekorateurskunst jener Zeiten, die sogenannte Schabracke. Das waren wiederum aufwändig genähte, gesteckte und drapierte Bahnen etwa aus schweren Brokat-, Ausbrenner- oder Samtstoffen, die am Fenstersturz und an den Seiten teils voluminös vor das Fenster wallend angebracht wurden.
So war gewährleistet, dass dann auch tatsächlich kaum noch ein Sonnenstrahl durchs Fenster in das Zimmer dahinter fallen konnte. Und: Ein Einblick von außen war komplett ausgeschlossen.
Das Ende dieser Fenster-Vollvermummung kam langsam in den 70er-Jahren, als man sich generell des Muffs der 50er- und der Spießigkeit der 60er-Jahre nach und nach entledigte. Die Röcke wurden kürzer und auch die Gardinen schwanden dahin.
Nicht jedermann und nicht jedefrau setzten dabei sofort auf die Fensterfreiheit, für die unsere Nachbarn in den Niederlanden berühmt sind. Hier wird dem Nachbarn oder dem zufälligen Passanten gern ein Einblick tief ins Hausinnere geboten. Zurückgeführt wird das auf den Calvinismus: Man will Offenheit beweisen, zeigen, dass man nichts zu verbergen habe. Also der Gegenentwurf zur Schabracke.
So weit wollte meine Mutter denn doch nicht gehen. Die späteren Gardinen im Wohnzimmer aber sparten immerhin die Mitte des Fensters aus, fielen stattdessen in Bögen rechts und links herunter. Und Küche sowie Kinderzimmer erhielten Halbgardinen: Unten war kein Einblick möglich, aber man konnte drüber weg nach draußen blicken.
Klassische Gardine stirbt immer mehr aus
Heute, meine Mutter ist längst gestorben, sind Gardinen vielfach Vergangenheit. Es gibt Vorhänge, die man bei Bedarf zuziehen und neugierige Blicke oder die Sonne so aussperren kann. Es gibt Faltrollos, Quer- oder Längslamellen oder die in der Höhe verschiebbaren Plissees.
Alles gut und schön. Wäre ich heute noch Kind, würde mir aber das Bleiband fehlen. Die kleinen Bleikügelchen oder -stückchen, die man (erlaubt aus Resten der Kordeln oder unerlaubt in einer stillen Minute aus den hängenden Gardinen) aus den weißen Stoffummantelungen pulen konnte – sie waren ein hervorragendes Schüttgut für meine Matchbox-Lkw. Gesund allerdings waren sie wohl nicht.
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