Giftiger Knollenblätterpilz tötete 31 Kinder Tragödie vor mehr als 100 Jahren

Die größte Tragödie in der Castroper Geschichte
Lesezeit

Wer von der Wittener Straße den katholischer Friedhof St. Lambertus in Castrop betritt, muss ein Stück laufen, den Hügel hoch, bis der Lärm der Straße nicht mehr zu hören ist – dort findet man einen ganz besonderen Ort. Ein breiter Gedenkstein zeigt eine Jesusfigur, die Hände geöffnet, zwei Kinder im Arm, die sich beklommen an ihn drücken.

Es ist die Gedenkstätte für 30 Castroper Kinder, die vor 106 Jahren tragisch ums Leben gekommen sind. Konrad, Erwin, Wilhelm, August, es sind nur einige der Namen der Kinder, die hier vor über einem Jahrhundert bestattet wurden.

Sommer 1918 in Castrop, es sind die letzten Monate des Ersten Weltkriegs. Die Zeiten sind politisch turbulent, die Monarchie steht kurz vor ihrem Ende. Nahrungsmittel sind knapp, es herrscht Hunger, besonders Kinder trifft der Mangel hart. 41 Kinder und Jugendliche aus Castrop und ein Junge aus Dortmund-Marten sollen in diesem Sommer dem Elend für einige Monate entkommen. Zusammen mit ihrer Lehrerin fahren sie mit Zug nach Bierschlin (heute Bierzglin) nahe der Kreisstadt Wreschen in der früheren Provinz Posen. Die Provinz liegt heute ist Ostpolen, etwa 200 Kilometer von Frankfurt entfernt.

Hier wurden am 17. September die Kinder bestattet, die der Pilzvergiftung erlegen sind.
Hier wurden am 17. September die Kinder bestattet, die der Pilzvergiftung erlegen sind. © Nora Varga

Die Kinder sollen sich erholen und bei den Bauern der Umgebung ein bisschen arbeiten, um das Geld ins Ruhrgebiet zu schicken. Die Viermonate Landverschickung soll bis Mitte September gehen. Die Lehrerin der Kinder plant Anfang September schon die Rückreise nach Castrop – doch es soll alles anders kommen. Am 8. September nimmt eine der größten Tragödien in der Geschichte von Castrop ihren Anfang.

Lehrerin ist skeptisch

Es ist ein Sonntag. Die Jungen gehen am Morgen in den Gottesdienst in Wreschen. Sie gehen alleine und ohne ihre Lehrerin zurück. Der Weg von Wreschen nach Bierschlin führt durch einen Wald und die Kinder sammeln Pilze. Zurück in der Unterkunft zeigen die Kinder der Köchin die Pilze, die hält sie für essbar und will ein Essen aus den Pilzen kochen. Eine fatale Fehlentscheidung. Als die Lehrerin der Kinder zu der Gruppe kommt, will sie auf keinen Fall, dass die Kinder die Pilze essen. Erst in dieser Woche waren zwei Personen aus der Gegend durch giftige Pilze ums Leben gekommen. Lehrerin und Köchin diskutieren. Die Köchin schwört, dass sie sich auskennt und genau weiß, welche Pilze die Kinder da gesammelt haben. Schließlich lenkt die Lehrerin ein, auch weil die Kinder sich sehr auf das Essen freuen.

Grüne Knollenblätterpilze (Amanita phalloides). Der Verzehr des Pilzes kann die Leber schädigen und tödlich enden.
Grüne Knollenblätterpilze (Amanita phalloides). Der Verzehr des Pilzes kann die Leber schädigen und tödlich enden. © picture alliance/dpa

Sie können nicht wissen, dass sie Pilze, die sie gesammelt haben, hochgiftig sind. Der grüne Knollenblätterpilz sieht dem Wiesen-Champignon sehr ähnlich. Doch der unscheinbare Pilz mit dem leicht grünlichen Schirm ist laut Ärzteblatt für 90 Prozent der Pilzvergiftungen verantwortlich. Im englischsprachigen Raum wird der Pilz Death Cap (dt. „Todeskappe“) genannt. Schon eine kleine Menge reicht aus, um eine tödliche Dosis des Giftes zu sich zu nehmen. Das Gift greift die Leber an, bis es zu schwersten Blutgerinnungsstörungen und schließlich zum Tod führt.

Die Symptome setzen ein

Die Köchin kocht am nächsten Tag den Castroper Kinder in Bierschlin ein Pilzgericht. Die Lehrerin, die Köchin und sieben der Kinder und Jugendlichen essen nichts davon, die anderen langen zu. Schon in der Nacht müssen sich mehrere Kinder übergeben. Am nächsten Morgen erfährt die Lehrerin davon und lässt sofort einen Arzt holen. Doch der junge Militärarzt kommt erst am Nachmittag in dem Schulhaus an. Laut eines Briefes des damaligen Castroper Schuldirektors diagnostiziert er bei den Kindern aber nur eine leichte Magenverstimmung. Die Jungen bekommen Medikamente und es geht ihnen auch ein bisschen besser.

Es passt zu dem Verlauf der Vergiftung. Nach Brechanfällen geht es den Betroffenen für einige Stunden besser, doch das Gift greift gleichzeitig schon die Leber an. Es gibt noch einen zweiten Bericht, der eine andere Geschichte erzählt. In dem Schreiben aus Wreschen steht, dass der Arzt die Vergiftung bei den Kindern sofort erkannt hat. Lehrerin und Köchin sollen die Kinder nach genauen Anweisungen pflegen, doch der Zustand der Jungen verschlechtert sich.

Keine Rettung mehr

In den frühen Morgenstunden des 11. September – zwei Tage nach der tödlichen Mahlzeit – sterben zwei Jungen an der Vergiftung. Der Arzt lässt alle Kinder zum Krankenhaus nach Wreschen bringen. Doch bevor sie ankommen, sterben fünf weitere Jungen. Einen Tag später, am 12. September, kommt ein Spezialist aus Posen und ordnet sofort Bluttransfusionen an. Doch es ist zu spät. In diesem Stadium der Vergiftung kann meistens nur eine Lebertransplantation den Patienten noch retten. 1918 ist die Medizin von Organtransplantationen noch weit entfernt.

Bis zum 13. September sterben 31 Kinder, 30 aus Castrop und eines aus Marten. Nur zwei Kinder überleben die Vergiftung. Die Anteilnahme und Bestürzung in Bierschlin und Wreschen ist groß. Alle Bewohner der Stadt begleiten am 14. September den Trauerzug zum Bahnhof. 31 Kindersärgen über und über bedeckt mit Kränzen und Blumen.

In der Nacht treffen die Särge in Castrop ein und werden in der Aula des heutigen Adalbert-Stifter-Gymnasiums aufgebahrt. Damals ist die Schule nach das Realprogymnasium. Am Dienstag darauf, den 17. September, werden die Kinder auf dem katholischen Friedhof St. Lambertus beigesetzt. Die Stadt steht unter Schock. Die 30 Kinder aus Castrop werden gemeinsam in einer Grabstätte beigesetzt.

Brief vom Kaiserpaar

Der Trauerzug ist lang und reicht vom Gymnasium bis zum Friedhof, die Straßen sind voll von trauernden Menschen, ganz Castrop nimmt Abschied von den tragisch verstorbenen Jungen. Zeitzeugen schreiben, dass die Särge kaum noch zu sehen waren, so viele Blumen und Kränze liegen darauf.

Sogar das Kaiserpaar verfasst einen Brief, als sie von dem Schicksal der Jungen erfahren. Die Castroper Zeitung schreibt: „Ihre Majestäten nehmen innigen Anteil an dem schweren Verlust der hart betroffenen Eltern und Angehörigen der Kinder und ersuchen Euere Hochwohlgeboren, den unglücklichen Familien allerhöchste ihr herzliches Beileid auszusprechen.“

Einige Jahre später wird das große Denkmal auf die Grabstätte gesetzt. Eine große Einweihungsfeier gibt es nicht, man will den Familien den Schmerz ersparen. Doch immer wieder wird am Jahrestag des Unglückes an die Jungen erinnert. Am 90. Jahrestag der Tragödie spricht eine der Betroffenen über ihren Onkel, den sie nicht kennenlernen konnte, ihren Vater, der nur nicht mit nach Posen fuhr, weil er noch in Castrop krank wurde. Sie fasste damals zusammen, was Betroffene über Jahre in ihren Familien tragen: „Ich habe meinen Onkel nie kennenlernen können. Wem soll man die Schuld dafür geben?“

Grüne Knollenblätterpilze (Amanita phalloides). Der Verzehr des Pilzes kann die Leber schädigen und tödlich enden.
Heute wird an der Gedenkstätte auch totgeborenen oder früh verstorbenen Kindern gedacht. © Nora Varga

Heute ist die Gedenkstätte an der Wittener Straße nicht nur ein Ort für die 30 Jungen. Es ist ein Symbol geworden für all jene Kinder, die viel zu früh und tragisch aus dem Leben gerissen wurden. Der Stein ist über und über bedeckt von Engelfiguren, Blumen und Kreuzen. Manche erst ein paar Wochen alt, andere schon viele Jahre. Das Grab der 30 Jungen aus Castrop – bis heute ein Ort der Erinnerung.