
© Tobias Weckenbrock
Ein Castrop-Rauxeler Arzt und eine besondere Massen-Impfung vor 50 Jahren
Pandemie
Alle reden über Impfungen, über Impfdosen, Impfzentren, Impfprioritäten. Dr. Hans Stang (92) war Hausarzt in Habinghorst und erinnert sich an eine Massen-Impfung, die heute unvorstellbar wäre.
Er ist 92 Jahre alt. Er hat zehn Mal versucht, einen Impftermin im Impfzentrum zu bekommen. Er will sich gegen Sars-CoV-2 schützen. Aber er hat noch keinen Termin ergattert. Hans Stang aus Habinghorst ärgert das. Er kann es auch nicht so richtig verstehen. Er ist selbst Mediziner, hatte eine eigene Praxis in Habinghorst – und erinnert sich daran, wie es früher war.
Von Coronaviren sprach damals keiner. Von einer Pandemie schon gar nicht. Aber die Grippe, die kannte man auch in den 1970er-Jahren schon. In den 40ern kam der erste Impfstoff gegen das Influenza-Virus. Die oft tödlichen Masern hatte man seit den 60ern weltweit in den Griff bekommen, Pocken und Typhus ebenfalls. Aber Menschen zu Grippe-Impfungen zu bewegen war schwer.

Das Habinghorster Kraftwerk, davor ein Taubenzüchter, der die Vögel transportiert: Ruhrgebiets-Romantik aus den 70er- und 80er-Jahren. © Archiv Helmut Orwat
Doch es war en vogue, darüber zu reden. Und es hieß in den 70er-Jahren vor allem in großen Firmen: Es ist sinnvoll, dass in der Belegschaft viele Menschen gegen Grippe geimpft sind, damit die Krankentage reduziert werden.
Leiter des Kraftwerks rief ihn einfach an
So kam es, dass der Leiter des Klöckner-Kraftwerks an der Habinghorster Straße, ein Herr Südhoff, den Arzt Dr. Hans Stang anrief. Der hatte eine Praxis gleich um die Ecke, Henrichenburger Straße 1, war bekannt als Hausarzt, weil sein Vater auch schon in Habinghorst praktiziert hatte. Mit einer speziellen Frage: „Können Sie meine Belegschaft gegen Grippe impfen?“
„Damals kam die Grippe-Impfung erst richtig auf bei uns“, erinnert sich Stang. „Ich habe zu der Zeit gerade in der Praxis Impfungen durchgeführt. Aber die ganze Belegschaft eines Kraftwerks?“ Er überlegte trotzdem nicht lange und sagt: „Ich habe den Termin mittwochs gelegt, weil ich da ja nachmittags die Praxis geschlossen hatte. Dann musste meine Sprechstunde nicht ausfallen.“

Hans Stang und seine Arztschilder aus vergangenen Zeiten. Heute ist der Habinghorster 92 Jahre alt und spielt noch täglich auf seinem Flügel. © Tobias Weckenbrock
Das Klöckner-Kraftwerk selbst orderte damals über eine Apotheke den Impfstoff und bezahlte die ganze Prozedur auch für die Mitarbeiter. Es fragte vorher ab, wer sich impfen lassen will, und ließ die, die nicht wollten, außen vor. Unter Zwang gab es keine Impfung.
„Dann hab ich zwischen der Morgen- und der Spätschicht geimpft“, erinnert sich Stang. Das war vom Werk sehr gut organisiert, findet er heute: Die Vormittagsschicht machte eine Viertelstunde eher Feierabend, also um 13.45 Uhr. 80 Leute kamen zu ihm in den Sanitätsraum, einer nach dem anderen, in einen kleinen Raum. „Die standen Schlange, aber das ging so: Arm frei – zuck. Arm frei – zuck.“
Zwei versierte Helferinnen zogen die Spritzen auf
Er hatte zwei versierte Helferinnen mitgenommen von den vieren, die er in der Praxis hatte. Sie zogen die Spritzen auf, Einwegspritzen schon, die damals bei den „fortschrittlichen Ärzten“, wie Stang heute sagt, schon benutzt wurden statt der Glasspritzen von früher. Danach kamen 60 Leute aus der Spätschicht dran. „Und in einer Stunde war alles erledigt“ sagt Hans Stang.
„Aufklärungsgespräche wie heute, eine halbe Stunde lang womöglich noch, das gab es damals gar nicht“, sagt er. Aber: „Bei der heutigen Rechtslage, wo die Anwälte schon vor der Tür stehen, muss das alles geklärt werden, sonst kann man ja hinterher sagen, man sei nicht informiert worden“, sagt er auch.

Apotheker und PTA bereiten im Impfzentrum in Recklinghausen die Spritzen vor. Besonders vorsichtig müssen sie bei dem Impfstoff von Biontech sein. © Apothekerkammer Westfalen-Lippe
Besondere Hygieneanforderungen gab es damals nicht. Handschuhe habe Stang nur bei Patienten mit bakteriellen Erkrankungen an Wunden getragen. In die Praxis des Vaters stieg er 1960 ein, 1993 ging er in den Ruhestand. Sein Sohn Andreas Stang ist heute Epidemiologe an der Uniklinik in Essen. Er berate ab und zu Ministerpräsident Armin Laschet und das Gesundheitsministerium.
An der Pandemie enttäuscht ihn das Missmanagement, wie er sagt – und es spiele keine Rolle, ob Spahn oder von der Leyen oder sonst jemand die Schuldigen seien. Angst vor einer Ansteckung habe er nicht. Er lebe mit seiner Frau konsequent: „Wir halten Abstand, besuchen niemanden und richten uns streng nach den Regeln.“
Gebürtiger Münsterländer, Jahrgang 1979. Redakteur bei Lensing Media seit 2007. Fußballfreund und fasziniert von den Entwicklungen in der Medienwelt seit dem Jahrtausendwechsel.
