Wolfgang Guss‘ sonderbares Treffen Französischer Soldat erzählte ihm vom Einmarsch in Castrop

Wolfgang Guss‘ sonderbares Treffen mit einem Soldaten der Ruhrbesetzung
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Wir klingeln bei Wolfgang Guss und werden eingelassen: Es geht im Mehrfamilienhaus am Waldrand von Dorf Rauxel hinauf in seine „Bibliothek“, wie er sagt. Zwei Bücherwände stehen darin, die Buchrücken verraten viel über die Inhalte: „Hitler“ steht neben „Stalin“ und „Lenin“, dicke Wälzer über deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts lehnen fest aneinander.

Guss zieht ein Buch heraus, über dessen Inhalte wir reden wollen: „Deutschland 1923“ steht darauf, „Das Jahr am Abgrund“ ist der Untertitel. Der Castrop-Rauxeler erzählt von einer sonderbaren Begegnung. Und sie hat viel mit der heutigen „Europastadt“, dem damaligen „Castrop“ und dem „Amt Rauxel“ zu tun.

Im Januar 1923 marschierten französische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet ein. Am 15. Januar betraten erste Soldaten den Boden, auf dem sich heute das Stadtgebiet von Castrop-Rauxel befand. Genau 100 Jahre ist das her, und Wolfgang Guss verbindet damit eine Episode seines Lebens.

Nicht weil er selbst dabei war: Der gelernte Koch, den es der Arbeit und der Liebe wegen nach Castrop-Rauxel verschlug, ist ja „erst“ 78 Jahre alt, wurde also erst zum Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Eines Krieges, der seinen Ursprung auch in den frühen 20er-Jahren hatte. Denn damals wurden Hass und Rivalität zwischen Deutschen und Franzosen vertieft. Auch, weil Frankreich 1923 das Ruhrgebiet besetzte.

Nein, Wolfgang Guss möchte von einem Treffen berichten: Bei einer seiner rund 30 Reisen nach Frankreich traf er einen Franzosen in einem Straßencafé in der Nähe der Kathedrale Notre Dame auf dem Boulevard Saint-Michel. Ein Mann um die 90 Jahre, der ihn einfach ansprach: „Sind Sie Engländer?“ „Nein, ich bin Deutscher“, antwortete Guss ihm auf Französisch. Und dann begann ein Gespräch von vielleicht einer Stunde. Eines, das bis heute geprägt hat.

Hass und Rivalität vertieft

Der Mann erzählte Guss, dass er mal in Deutschland gewesen sei. Nicht als Tourist, sondern als Soldat. Und das sei sehr lange her. „Wo waren Sie denn?“, fragte ihn Guss. Und der Mann sagte: „Ruhrbesetzung“. Als junger Soldat sei der waschechte Pariser in der Pflicht gewesen.

„Frankreich hatte ja damals angeblich den Krieg gewonnen“, sagt Guss. Das meint er nicht im Sinne von „das Deutsche Reich hat nicht verloren“, so wie es in der Wahrnehmung vieler in den Jahren nach dem Krieg war, weil es so gut wie keine Kampfhandlungen auf deutschem Territorium und keine Zerstörung gegeben hatte. Die Nationalsozialisten bauten später auch um diese „vermeintliche Niederlage“ herum eine Ideologie des Hasses auf. Guss meint nur, dass der Anteil der amerikanischen Armee am Sieg über die deutschen Aggressoren nach ihrem Kriegseintritt größer war als der der Franzosen.

Französische Soldaten bei einer Parade im September 1923 auf dem Castroper Marktplatz in der Altstadt.
Französische Soldaten bei einer Parade im September 1923 auf dem Castroper Marktplatz in der Altstadt. Der Soldat, den Wolfgang Guss in Paris traf, wird vermutlich auf diesem Foto abgebildet sein. © Stadtarchiv Castrop-Rauxel

Frankreich jedenfalls hätte das Deutsche Reich damals am liebsten in einzelne Regionen zerlegt, um es ein für allemal zu schwächen. Das war aber nicht im Sinne der USA und der Engländer.

Deutschland musste Reparationsleistungen erbringen, das stand fest. Die Franzosen suchten Gründe, beklagten aber wohl auch zurecht, dass nicht alle Leistungen erbracht wurden, wie es im Friedensvertrag von Versailles vereinbart war. Telegrafenstangen, Holz und Kohle: Das wirtschaftlich am Boden liegende Frankreich nahm Anfang 1923 jedenfalls ausbleibende Lieferungen aus Deutschland zum Anlass, das Ruhrgebiet zu besetzen.

Kavallerie auf der Rennbahn

„Morgens musste der Mann sich in einen Zug setzen“, erzählt Guss aus seiner Begegnung mit dem französischen Soldaten. „Es gehe nach Deutschland, habe man ihm bloß gesagt. Wohin genau, blieb offen. Er kam dann in Essen an, dann ging es weiter nach Dortmund. Und der letzte Stopp seiner Anreise: ein kleiner Ort, aber einer mit mehreren Zechen.“

Der Name, so Guss, sei ihm damals erst nicht eingefallen. Schwierig auszusprechen. Guss dachte nach und sagte: „War es vielleicht Castrop-Rauxel?“ „Oui!“, rief der Mann. Volltreffer! Er wäre bei der Kavallerie gewesen, erzählte er weiter. Die Pferde hätte man auf einer Rennbahn grasen lassen und einstellen können. Ihr Obmann, ein hoher Offizier der französischen Armee, habe im Haus Goldschmieding gewohnt. „Aber da hätten sie nur hingehen müssen, wenn sie Mist gemacht hätten“, gibt Guss aus dem Gespräch wieder.

Ein Trupp französischer Soldaten im Januar 1923 auf der Viktoriastraße
Ein Trupp französischer Soldaten im Januar 1923 auf der Viktoriastraße: Die Soldaten beschlagnahmten das Gebäude der damaligen Mädchenschule (r.) als Unterkunft. © Stadtarchiv

Jedenfalls, erzählte der Franzose ihm, sei alles „merde“ gewesen. „Sie wissen, was das heißt?“, fragt Guss unseren Reporter. Naja, das was hinten rauskommt... „Stimmt“, sagt Guss. „Das schlimmste sei gewesen, dass es nichts zu essen gab“, sagt er über die Probleme der Soldaten damals. Sie aßen Verdorbenes, beschlagnahmten zum Teil Nahrung bei den Bauern und wurden angefeindet. Bier, Schnaps und Zigaretten seien nur unter der Hand zu bekommen gewesen. „Aber Alkohol war ohnehin strengstens untersagt bei den Franzosen“, berichtet Guss. Dennoch hätte manch ein Soldat die Gaststätte betreten und mit dem Bajonett die Herausgabe von Wein erzwungen.

Ende 1923 sei der Franzose zurückgekehrt in die Heimat. Hass und Boshaftigkeit seien die Gefühle gewesen, die man ihm im Ruhrgebiet entgegengebracht habe.

Guss bezahlte den Kaffee

Nach einer Stunde verabschiedeten sich die beiden. Von dem Hass habe der einstige Soldat der Ruhrbesetzung ihm nicht einen einzigen Deut zurückgespielt. Es waren die 1990er-Jahre, die Kriege waren lange vorbei. Aber, dass es nach den erneuten Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs, die auf dem „deutschen Mist gewachsen“ waren, zu einer Aussöhnung Frankreichs mit Deutschland gekommen sei: vor diesem Hintergrund, angesichts dieser Erlebnisse einfach unvorstellbar. Und darum unschätzbar wertvoll, findet Guss.

„Ich habe ihm den Kaffee bezahlt. Was er überhaupt nicht wollte“, sagt der Castrop-Rauxeler. „Irgendwann nach den Kriegen kam zum Glück die Einsicht, dass man einen Schlussstrich ziehen musste. Zwei Nachbarn dieser Größe im Herzen Europas, da kann es nur über Zusammenarbeit gehen.“

Wolfgang Guss beschäftigt sich viel mit der deutschen Geschichte.
Wolfgang Guss beschäftigt sich viel mit der deutschen Geschichte. © Tobias Weckenbrock

Guss war selbst zwei Jahre Soldat, erzählt er. Er interessiert sich für kriegsstrategische Fragen, sein Steckenpferd ist der Krieg der Nord- gegen die Südstaaten in Amerika. Er arbeitete als Koch, hat eine Tochter, einer ihrer Söhne ist Polizist, einer Rettungssanitäter bei der Feuerwehr. Er reiste zu vielen Schlachtfeldern, um sich die Schauplätze, die Gedenkstätten, die Museen anzusehen. Auf einem dieser Schauplätze, dem Ort der Ruhrbesetzung heute vor 100 Jahren, lebt er selbst.

Einen Wunsch hat er noch: eine Reise auf das Schlachtfeld von Gettysburg, wo vom 1. bis zum 3. Juli 1863 im heutigen US-Bundesstaat Pennsylvania der Sezessionskrieg tobte. 43.000 Opfer, über 5700 gefallene Soldaten, eine der blutigsten Schlachten auf dem amerikanischen Kontinent überhaupt. Diese Schlacht werde Jahr für Jahr in einem Schauspiel aufgeführt. Sein Sohn würde Guss dorthin begleiten.

  • 1923 und die folgenden Jahre waren prägend für die Zeit, die danach kam. Wir widmen dieser Zeit eine kleine Serie, gestützt auf die umfangreiche Dokumentation im Buch von Dietmar Scholz (1996) mit dem Titel: „Von der Freyheit zur Europastadt“.
  • Vom Autor im Selbstverlag herausgegeben, zeichnet es die Geschichte der Stadt Castrop-Rauxel von 1900 bis etwa 1950 nach. Scholz forschte dazu in diversen Archiven.
  • Auf 416 Seiten sind 90 Bilder, Karten, grafische Darstellungen und Dokumente, zum Teil zuvor unveröffentlicht.
  • In der nächsten Folge: Warum Bürgermeister Leo Wynen am 27. Januar 1923 festgenommen wurde und wie Stadtbaurat Schmitz ihn in einer wichtigen Sitzung noch am selben Tag vertrat.

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