Januar 2023 in Castrop-Rauxel: Nur weniges erinnert heute noch an eine Zeit, die man heute eigentlich als eine Zeit des Friedens in Erinnerung hat, an die Phase zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Dabei war der Januar vor 100 Jahren, eigentlich das ganze Jahr 1923 und auch 1924, eine bewegte Zeit. Es ist die Phase der Ruhrbesetzung. Trotz des Friedens marschierte vor 100 Jahren eine Armee von zigtausend Mann nach Castrop-Rauxel ein.
Am 15. Januar 1923, rund vier Jahre nach dem Friedensschluss im Versailler Vertrag, wurden erste französischen Einheiten in Castrop gesichtet. Dietmar Scholz, einstiger Rektor des Ernst-Barlach-Gymnasiums, Heimat-Hobby-Historiker und 2014 verstorbener Autor, widmete dieser prägenden Epoche 19 Seiten in seinem 1996 erschienenen Buch „Von der Freyheit zur Europastadt“. Das Werk ist ein Schatz, der die Heimatgeschichte aus einer Zeit skizziert, die nicht so ausführlich dokumentiert ist wie die NS-Zeit und die Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Am 24. Januar übernahmen die Truppen tatsächlich das Kommando über Castrop-Rauxel und die Industrieregion an Emscher und Ruhr. Castrop wurde Sitz des Stabes der 11. Division des 32. Armeekorps, die sonst im französischen Nancy beheimatet war. „Bis zu 4000 französische Soldaten waren auf dem Gebiet der heutigen Stadt Castrop-Rauxel stationiert“, berichtet Stadtarchivar Thomas Jasper auf Anfrage unserer Redaktion. „In der Forschung gelten Castrop und das Amt Rauxel als eine der Städte und Gemeinden, die am meisten unter der Ruhrgebietsbesetzung zu leiden hatten.“
Pöppinghauser Schleuse übernommen
Aber wie genau? Darüber gibt die viele Quellen auswertende Arbeit von Dietmar Scholz ausführlich Aufschluss. Am 15. Januar also tauchten die ersten französischen Truppen auf Castroper Ortsgebiet auf. Sie übernahmen an jenem Montag die Kontrolle über die damals wichtige Kanalschleuse in Pöppinghausen. In Castrop und Rauxel erschienen die Besatzungstruppen endgültig am 24. Januar.
Damals hatte die Stadt rund 19.000 Einwohner, noch getrennt in Castrop und das Amt Rauxel. Erst am 1. April 1926 wurde die Stadt Castrop-Rauxel aus beiden Teilen gebildet. Sie gehörte zunächst zum Landkreis Dortmund, bevor sie am 1. April 1928 kreisfrei wurde.

Die Franzosen und Belgier wollten ihren Forderungen in diesem politisch-militärischen Konflikt Nachdruck verleihen, dass das Deutsche Reich nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg die Reparationsforderungen der Siegermächte einlöste. Die französische Maximalforderung lautete nach dem Ende des Krieges, das linksrheinische Gebiet von Deutschland ganz abzutrennen. Zumindest aber sollten die Zahlungen weit höher ausfallen. Frankreich traute Deutschland mehr wirtschaftliche Kraft zu.
Die Besetzung, ausgelöst durch ausbleibende Holz- und Kohlelieferungen nach Frankreich, löste in erster Linie zivilen, teils aber auch militärischen Widerstand aus. Die Nationalsozialisten bezeichneten ihn später als „Ruhrkampf“.
In Castrop wurden zunächst über 500 Soldaten, 200 Pferde, 50 Wagen und Autos stationiert, dazu Offiziere, Feldpolizei und ein Militärgericht. Wirtshaussäle wurden ebenso wie Schulen für die Unterbringung der Franzosen beschlagnahmt. In der heutigen Altstadt nahmen sich die Besatzer überdies 100 Privatquartiere, bildeten 14 Unteroffizierskasinos, 4 Offiziersmessen und ein Soldatenheim im Hause Lueg. Ein Feldlazarett wurde im Saal des Kolpinghauses an der heutigen Oberen Münsterstraße eingerichtet. Später war hier das Kino „Die Kurbel“ zu Hause.
Generäle beschlagnahmten Villen
Der Chef des Divisionsstabs, General Vidalon, bezog Wohnung in der Villa des Kaufmanns Vogel an der Wittener Straße. Der Ortskommandant, General Morier, zog in Wohnräume im Haus des Kaufmanns Cohen am Marktplatz. Die Höchstzahl der einquartierten französischen Soldaten in Castrop und Umgebung wuchs auf bis 4000 Mann in der Altstadt, in Rauxel, auf Schwerin und in Frohlinde. Auch Ickern, Henrichenburg, Habinghorst und Obercastrop sind als Orte der Stationierung überliefert. Schießplätze wurden im Wagenbruch beim Haus Callenberg und in Frohlinde eingerichtet.

General Degoutte hatte am 11. Januar 1923 in einer Proklamation noch betont, es werde keine Störung und keine Veränderung im normalen Leben der Bevölkerung geben. Die Bevölkerung, sagte er damals, könne in Ruhe und Ordnung weiterarbeiten. Aber schon einige Tage darauf wurde in einer Verordnung der Belagerungszustand über die besetzten Gebiete des Ruhrreviers verhängt.
Die Soldaten besetzten Bergwerke, beschlagnahmten Kohle, Holz und Transportmittel, überwachten und beschlagnahmten Steuern, Zölle und öffentliche Kassen. Sogar Lohngelder sollen eingezogen worden sein. Das führte zu passivem Widerstand: Unternehmer und Beamte weigerten sich, die französischen Anweisungen auszuführen. Sie wurden verhaftet, zur Ausweisung oder Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt. Die Regierung der Weimarer Republik untersagte daraufhin allen Behörden in den besetzten Gebieten, Anweisungen der Besatzungstruppen zu befolgen.

In den Jahrbüchern der ehemaligen Höheren Mädchenschule in Castrop (das heutige Adalbert-Stifter-Gymnasium) ist eine Episode überliefert, die laut Heimatforscher Dietmar Scholz wohl charakteristisch für die Stimmungslage vieler Castroper im Jahre 1923 gewesen sei. Für die Schülerinnen fand der Unterricht in den Räumen des Realgymnasiums an der Leonhardstraße statt, das sonst nur von Jungen besucht wurde. Ihr Schulgebäude an der Viktoriastraße war beschlagnahmt.
„Hellschmetternde Fanfarenklänge! Vorbeiziehende Besatzungstruppen blasen die ‚Marseillaise‘“, heißt es im Jahrbuch zu 1923. „Das Gelächter verstummte und machte einer lautlosen Stille Platz. Das Nationallied der Franzosen. Das Deutschlandlied zu singen, war im eigenen Vaterland streng verboten. Und das müssen wir uns gefallen lassen? Funkelnde Augen begegneten sich. Mädchenhände ballten sich zu Fäusten.“
„‚Alle Fenster öffnen‘, schrie eine der ‚Schlimmsten‘. ,Auf die Fensterbänke setzen, mit dem Rücken nach draußen!‘ ging das Kommando weiter. Und dann erklang es von trotzigen Stimmen: ,Deutschland, Deutschland über alles.‘ Und das wagten die kleinen Mädchen der V. Klasse.“
Scholz: Nationalgefühl und Hass
Dietmar Scholz bilanzierte in seinem Buch über die Franzosenzeit: „Die Besetzung des Ruhrgebiets hatte in weiten Kreisen der Bevölkerung Unverständnis und Protest, Solidarität untereinander und wachsende Identifikation mit den Interessen der deutschen Nation, Nationalgefühl, Nationalismus aufkommen lassen.“
Der französische Übergriff auf das Territorium der Weimarer Republik zweieinhalb Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles habe an noch nicht verheilten Wunden gekratzt und neuen Hass geschürt.
- 1923 und die folgenden Jahre waren prägend für die Zeit, die danach kam. Wir widmen dieser Zeit eine kleine Serie, gestützt auf die umfangreiche Dokumentation im Buch von Dietmar Scholz (1996) mit dem Titel: „Von der Freyheit zur Europastadt“.
- Vom Autor im Selbstverlag herausgegeben, zeichnet es die Geschichte der Stadt Castrop-Rauxel von 1900 bis etwa 1950 nach. Scholz forschte dazu in diversen Archiven.
- Auf 416 Seiten sind 90 Bilder, Karten, graphische Darstellungen und Dokumente, zum Teil zuvor unveröffentlicht. Möglicherweise als Taschenbuch unter ISBN 3093038340 erhältlich. Es wurde auch herausgegeben in einem Leinen-Einband vom Deutschen Sparkassen Verlag.
- Im Stadtarchiv ist ein Exemplar vorhanden.
- In der nächsten Folge: Warum Bürgermeister Leo Wynen am 27. Januar 1923 festgenommen wurde und wie Stadtbaurat Schmitz ihn in einer wichtigen Sitzung noch am selben Tag vertrat.
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